Locker gestrickt
Schau an, die macht sich! Daniela Dahns Feuilletonbändchen „Spitzenzeit”, das vor Jahren erschien, gab noch nicht Anlaß zu sonderlicher Empfehlung. Bei ihrem neuen Buch verhält sich das anders. „Prenzlauer Berg-Tour” zählt nicht nur zu den erfreulichsten Druckerzeugnissen, die das Berliner Jubeljahr in die Läden befördert hat, sondern ist auch jenseits runder Daten eine sympathische Erscheinung.
Keine Chronik sollte es werden, auch kein volkstümelnder Abriß Berliner Kiez-Folklore der bekannten Sorte vom Kostümverleih: Schusterjunge, Eckensteher Nante… Man hat da begründete Ängste. Nein, diese „Tour” ist eigener Kategorie. Der Feuilletonist darf ja alles. Abseits der großen Straßen läuft er querbeet und sammelt auf, was verworfen ist. Anders kommt man ohnehin zu keinem Bild des berühmtesten Stadtbezirks der Republik. Das beweisen auch die 56 schönen Fotos, die dem Buch bei-gegeben sind. Sie stammen von zehn bekannten Berliner Fotografen, darunter Sibylle Bergemann, Roger Melis und Harald Hauswald.
Zurück zu Daniela Dahn. Selbst nicht aus Prenzlauer Berg, machte sie diesen Mangel zur Tugend des Zaunguckers: alles nehmen, wie’s kommt. Alles kam nicht, aber eine Menge.
Willi Korsak zum Beispiel, 84, Möbellagerleiter, bei der FDJ. Werner Howe, Brigadier für ‚Wohnungs-Rekonstruktion – wahrlich ein Kapitel für sich. Fräulein Lisener von der KKWV, dort zugange mit dem Lebens-gefühl eines „Fußabtreters der Nation”. Instand-Besetzer; Szene-Künstler, Kohlenhändler, Architekturfreunde („Gasometer sprengt _man nicht!“). Die Tochter von Giovanni
BUCHBESPRECHUNG
Bacigalupo, dem einst europaweit berühmten Drehorgelbauer aus der Schönhauser Allee. Eine frühere Patientin des Armenarztes Dr. Kollwitz erinnert sich.=–Jüdischer; Geschichte‘.-wird nachgespürt anhand der alten jüdischen Volksschule in der Rykestraße. Nazis, Widerstand, Gestapo, Bombennächte, „die Russen” in Berlin… Des öfteren zitiert Daniela Dahn zeitgenössische Tagebücher, Aufsätze und Briefe; das gibt jenen Themen .Eindruck, die man mit leichter Hand nicht formen kann.-
Nicht besonders lustig ist auch der Teil über den Schlachthof Berlin.
Nützlich zu lesen, wie es an den Fronten unseres fleischfressenden Opportunismus zugeht. Die armen“ Schweine! Sonderbare Gefühle er-zeugt ein Zitat aus der Betriebschronik: „Viele Schlächtergesellen ließen ihr junges Leben auf den Schlachtfeldern Europas und Afrikas.“
Den August 1961 behandelt die Auto-rin nicht eigens; der „Raumteiler”, der damals ,in Berlin aufgestellt wurde, ragt allerdings unübersehbar in die Landschaft des Buches. Zum Beispiel, -als es um Putze geht,- bürgerlich Manfred K. Aber Putze ist nicht bürgerlich, sondern war der Spieler-King ‚ vom Weinbergsweg, bis „unsere Organe” ihn dort entfernten.
Das Kapitel „Kennen Sie Roulette?” tut dem Leser-das Herz auf. Kontrast im Milieu: der Punk mit Ausreiseantrag. Frau Dahn samt anhängender – Gemeinde vernimmt von ihm eine – „Prenzlauer Bergpredigt”. Das Buch ist mit dieser Lesepredigt wesentlich bereichert. Wann zuvor ging hierzu-lande solches je in Druck?
„Ich wünsch ihm, – daß er seines Lebens froh wird”, resümiert die Auto-rin ihre Punk-Bekanntschaft. Man freut sich, ihr das zu glauben. Daniela Dahn urteilt – nirgends ab. Sie bummelt. Sie schmökert im Milieu — Zaungucker, wie. gesagt Daß der Gast sich manchen Reim zu einfach macht, -scheint ihr bekannt.
Ein Wort zum Stil: sportlich, ohne Schmuck. Müßig zu rätseln; ob dies Literatur sei. Ein schönes Buch mit Mängeln, klar. Das ganze -opus ‚ ist eben locker gestrickt. Und wenn mal eine Masche runterfällt oder gar der Faden reißt, wird geschickt geflickt mit jenen Impressionen, die Berlin ja unbegrenzt bereithält zwischen Wurst-Konoppke – und Gethsemanekirche. Wie man von sowas zu sowas kommt? Nur mit literarischem Schienenersatzverkehr.
Christoph Dieckmann
„Die Kirche“
Evangelische Wochenzeitung
31.01.1988