Prenzlauer Berg-Tour – FAZ

Ein Skandal aus vierundzwanzig Zeilen

Daniela Dahn über die Vorwürfe, bei der Neuauflage ihrer DDR-Reportagen gemogelt zu haben

„Sprach man damals über das Buch, so spricht man heute über die Autorin”, heißt es im Klappentext zu Daniela Dahns literarischen Reportagen „Prenzlauer Berg-Tour”, die der Rowohlt Berlin Verlag soeben neu herausgebracht hat. Der Satz bewahrheitete sich diese Woche auf fatale Weise. Im Impressum ist angegeben, der Neuausgabe liege die 1987 in der DDR erschienene Erstauflage zugrunde. Tatsächlich basiert sie jedoch auf der 1990 erschienenen, unzensierten Fassung. Findige Kritiker bemerkten die Differenzen und warfen der Autorin vor, sich nachträglich mutiger zu machen, als sie 1987 war. Von „Mogelei” und „vorgetäuschten Tabubrüchen” war die Rede. Daniela Dahn kehrte gestern aus dem Urlaub zurück. Erst im Flugzeug las sie in der Zeitung von den gegen sie erhobenen Vorwürfen und „fiel aus allen Wolken”. Gegenüber den „Berliner Seiten” äußert sie sich nun erstmals zum Sachverhalt. jöm

Welche Bedeutung hatte Ihr Reportagenband 1987 in der DDR?
Es hat wohl die Stimmung der Zeit getroffen. Viele junge Leute sahen darin ein Lebensgefühl ausgedrückt, das sie so bisher nicht beschrieben gefunden hatten. Bestimmte Sachen wie die Geschichte vom Punker, die Thematisierung von Ausreisen und generell die Behandlung von Minderheiten, das hat damals ermutigt.
Nun wird Ihnen vorgeworfen, die Neuauflage geschönt zu haben.
Das habe ich nicht getan. Es wurde ja der Eindruck erweckt, als hätte ich das halbe Buch umgeschrieben. Dabei beschränken sich die Abweichungen von der Erstausgabe 1987 auf insgesamt vierundzwanzig Zeilen. Aber auch bei diesen Abweichungen handelt es sich keineswegs um eine nach der Wende korrigierte Fassung. Es ist kein Satz aufgenommen worden, der nicht schon 1987 im Manuskript gestanden hätte. Es handelt sich um die größtenteils bereits in der dritten Auflage von 1990 vorgenommene Rekonstruktion des von der Zensur in einigen Passagen veränderten Originals. Es wurde – in Gegensatz zu 1990 – versäumt, auf diesen Umstand hinzuweisen.

Ist das ein Versäumnis des Verlages?
Man hätte es im Impressum tun müssen, aber auch mir ist es nicht aufgefallen. Aber wenn man bedenkt, daß es sich nur um vierundzwanzig Zeilen handelt – was soll man da schreiben? Dennoch hat das Irritationen ausgelöst. Wir hätten eine Formulierung finden müssen. In der nächsten Auflage wird das korrigiert werden.

Unter den beanstandeten Stellen befindet sich auch eine ausgetauschte Liedstrophe.
1987 zitierten sie einen Punker-Song mit antiamerikanischer Tendenz, in der Neuausgabe ist daraus ein antikommunistischer Vers geworden. Wie ist dieser Wandel zu erklären?
Im Nachwort habe ich darauf hingewiesen, daß ich wegen der Zensur im Punkerkapitel einen Refrain opfern mußte. Dafür habe ich aber ein anderes Lied durchgesetzt, in dem es um Kinderaufzucht in der DDR geht. Das war nicht viel sanfter, aber wenigstens kam der beanstandete Ausdruck „Arschkriecher-Einheitsfront” nicht darin vor. Als ich 1990 bei der Nachauflage diese Änderung rückgängig machen wollte, hatte der Verlag aus politischen Gründen nichts mehr dagegen, konnte aber aus ökonomischen Gründen keinen neuen Umbruch machen. Ich konnte deshalb den gestrichenen Refrain nur einfügen, wenn ich einen weniger brisanten herausnahm. Das ist die Tücke der Marktwirtschaft. Auch das neue Buch wurde kalkuliert, da wurde bis zum Druckbogen ausgerechnet, wie dick es sein darf. Es kam deshalb auch jetzt nicht alles, was 1987 beanstandet und gestrichen wurde, wieder hinein. 1990 waren es sechzehn Zeilen, jetzt nochmals acht, die wir nachgebessert haben. Alles aufs Wort nach der Manuskriptvorlage. Da war ich äußerst pingelig. Deshalb ärgern mich diese Mißverständnisse besonders.

Dann ist es um so bedauerlicher, daß Sie im Nachwort nicht genauer beschreiben, was die Zensur damals beanstandet hat.
Das mache ich doch. Mehrfach. Ich zitiere aus dem Brief der Lektorin und berichte, was der Kreissekretär beanstandet hat. Auch die Formulierung „monströses Stadtmöbel” für die Mauer habe ich nicht für so wichtig gehalten, obwohl auch sie so im Originalmanuskript steht. Das Punkerkapitel war mir viel wichtiger, das habe ich auch als mutiger empfunden. Ich kann mich allerdings erinnern, daß mir das Lektorat damals gesagt hat, ich könne froh sein, wenn das Wort „Mauer” drinbleibt. Es sei das erste Mal, daß in einem Buch in der DDR – ob belletristisch oder dokumentarisch – das Wort „Mauer” erscheine.

Ihrer Ansicht nach waren also die Eingriffe der Zensur gar nicht so entscheidend?
0 doch. Aber auf die entscheidenden habe ich mich nicht eingelassen. Man mußte immer ein paar Stellen opfern, um die wesentlichen zu retten. Sicher war das ein quälender Prozeß. Es dauerte Monate. Aber in meiner Erinnerung überwiegt das Erfolgsgefühl. Das Buch ist in seiner Substanz nicht beschädigt worden. Zensur – das waren konkrete Menschen, mit denen man auch verhandeln konnte. Was da gestrichen wurde, waren für mich bloß Formulierungen. In einem Schulaufsatz, den ich zitiere, ging es um Vergewaltigungen durch sowjetische Militärs. Ein Satz hieß: „Dann suchten sie sich fünf Frauen aus und gingen mit ihnen in eine der offen stehenden Parterre-Wohnungen und vergewaltigten sie dort.” Das „und vergewaltigten sie dort” mußte weg. Ich habe ergänzt: „Am Morgen kamen die Frauen zurück.” Da konnte man verstehen, was passiert war.

Sie schreiben im Nachwort über die Angst vor der Zensur damals, vor der Kritik heute und sprechen von „Zensur-Kötern” und „Feuilleton-Kötern”. Ist beides dasselbe?
Ich habe die Erfahrung machen müssen, daß mir ständig Dinge unterstellt werden, die nicht stimmen. Daß ich von Feuilleton-Kötern gesprochen habe, war sicher eine Ungeschicklichkeit, weil es provozierte. Daß diese Leute sich nun aber tatsächlich wie Köter benehmen, diese Ungeschicklichkeit liegt nun nicht mehr bei mir. Natürlich ist die ständige öffentliche Diffamierung – und davon bleibt ja immer etwas hängen – eine Art von Repression, die nicht weniger schmerzlich ist als das, was ich mit der Zensur erlebt habe.

Trotzdem: Kritik ist doch wohl keine Zensur.
Was hier passierte, ist aber nicht Kritik. Man hat, ohne mich zu fragen, schwerwiegende Behauptungen abgegeben. Einer hat dabei vom anderen abgeschrieben. Es entspricht jedenfalls nicht der journalistischen Sorgfaltspflicht, ohne mich anzuhören zu unterstellen, ich hätte meine „Biographie ein wenig korrigieren wollen”. Das ist bloße Diffamierung, um jemanden, der stört, unglaubwürdig zu machen.

Die Fragen stellte Jörg Magenau.