Newsletter for Literature and Culture in the GDR
Washington University 2/1988
Prenzlauer Berg-Tour. By Daniela Dahn. Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1987, 199 pages.
Genau wie der Kreuzberg im Westen ist der Prenzlauer Berg im Osten ein Stück Urberlin. Geschichte ist unmittelbar und (an)greifbar. Die industrielle Revolution und die Gründerzeit, Fin-de-siècle-Architektur und Jugendstil, die Spuren zweier Weltkriege, Vernachlässigung, die Einheimischen versus Zugereiste, zögernde Renovierung und vor allem: eine vibrierende Vitalität am Rande des baulichen Chaos und existentieller Hoffnungslosigkeit.
In 15 knappen Kapiteln legt die mit dem Feuilletonband Spitzenzeit bekannt gewordene Autorin einen bestechenden Dokumentarbericht vor. Sie macht sich auf, den Prenzlauer Berg zu erkunden, dabei zeigt sie sich als versierte Historikerin, Kunstgeschichtlerin, Literaturkundige und geschickte Reporterin. Das Besondere an dem daraus resultierenden Bericht — lebendig und frisch in der Ich-Form erzählt — ist, von einem literaturkritischen Standpunkt aus, nicht so sehr der Inhalt als die Form. Dahn gelingt es in einem
Medium, das normalerweise zu burschikos-salopper Journalistensprache führt, ihre eigene knappe, konversationelle und doch ästhetisch anspruchsvolle Kunstsprache zu finden. Die Formulierungen, oft ironisch, treffen immer ins Schwarze.
Dahn analysiert das Phänomen „Prenzlauer Berg“ mit schonungsloser Offenheit. Sei es im dargestellten Schicksal der Käthe Kollwitz, auf dem Judenfriedhof oder bei den 1945 einmarschierenden Russen, da wird
zunächst einmal Vergangenheit, Geschichte, ungeschminkt dargestellt. Die Wertung bleibt dem Leser überlassen. Zu bewältigen, und das ist angenehm, ist
nichts. Geschichtsbetrachtung dieser Art ist selten, in Ost und West.
Ebenso direkt und unverblümt und überraschend kommt die Gegenwart zum Vorschein. Wiederum sagen‘ die Zeugen aus; das Urteil müssen wir uns schon selbst bilden, unter Berücksichtigung eines gehörigen Ermessensspielraums.
Der Text wird von insgesamt 56 Schwarzweißfotos unterbrochen, oder eher: ergänzt. Auch sie bringen unorthodoxe Ansatzpunkte und Blickwinkel und verschmelzen mit dem Text zu einem überwältigeriden Gesamteindruck. Am Mikrokosmos des Prenzlauer Berg wird Leben dargestellt, gewesenes und gegenwärtiges; künftiges bleibt Andeutung. Mit der Hinzufügung von ein bis zwei Nullen trifft der Maßstab des Prenzlauer Berg natürlich auf die gesamte DDR zu. Somit ist das Buch weit mehr als ein Kunstobjekt für Berlinfans, es ist Teilanalyse des großen Ganzen.
Das Buch ist ungeheuer populär in der DDR und war nach seinem Erscheinen sofort vergriffen. Dies hängt wahrscheinlich nicht mit dem Inhalt zusammen, sondern ganz allgemein mit der Tatsache, daß der Dokumentarbericht — im Westen inhärenter Teil der Tagespresse und insbesondere der Wochenzeitschriften (Der Spiegel, Die Zeit) — weitgehend fehlt. Im übrigen erfreut sich der Dokumentarbericht und seine Sekundarform, der Dokumentarroman (z.B. Kempowski) auch im Westen großer Beliebtheit. Ich möchte jeden Leser dazu ermuntern, die Anstrengung, denn es ist nicht immer ein harmloser Spaziergang, lohnt sich.
Fritz König
University of Nothern Iowa