Wer das Seine getan hat, kann gelassener auf die sich rundenden Jahre zurückblicken, so stellt man es sich zumindest vor. Eine schriftstellerische Bilanz von Millionen Büchern, ein grafisches und bildhauerisches Œuvre dazu, ein Werk , das alle denkbaren Ehrungen erhalten hat, müsste beim Jubilar so etwas wie Genugtuung auslösen können – das wünscht man ihm. Doch hinter soviel Ruhm verblasst beim Publikum mehr als beim Autor die genaue Erinnerung daran, zu welchem Preis sich dieser Mann behaupten musste. Eigentlich habe jedes seiner Bücher, mit Ausnahme von Im Krebsgang, eine Welle von Angriffen, wenn nicht Anfeindungen ausgelöst, sagte er unlängst. Weshalb dieser kleine Geburtstagsgruß für (den Freitag-Abonnenten) Günter Grass seinen Glückwunsch darauf konzentriert, wie sich da einer trotz heftiger Verletzungen in all den Jahren nicht hat den Mund verbieten lassen. Was nicht minder singulär ist wie sein Werk.
Dass Grass mit der Blechtrommel 1959 kometenhaft gestartet ist und früh ein Fixstern am Firmament der Weltliteratur wurde, weiß man. Es sei aber daran erinnert, dass gleichzeitig versucht wurde, ihn zu einem Dauerbrenner in der Hölle zu machen: Von einem durch und durch „inhumanem, unmenschlichem Werk“ war die Rede. Das Verdikt einer „zwanghaften Verhöhnung und krankhaften Beschmutzung sämtlicher geltenden Werte“ nebst „neuer Kreuzigung Christi“ führte zu den bekannten Blasphemie- und Pornographie-Vorwürfen und schließlich zu der Empfehlung, diese „Giftzwerg-Memoiren“ des „kaschubischen Schlitzohres“ keinem jungen Menschen in die Hand zu geben. Selbst der SPD-Pressedienst verteidigte die vom Bremer Senat abgelehnte Verleihung des Literaturpreises der Stadt mit der staatstragenden Erklärung, die Kunst müsse sich dem „Maßstab politischer Kategorien“ beugen.
Und das hörte im Grunde nie auf. 1962 empfahlen Soldaten- und Kameradschaftsverbände, die Novelle Katz und Maus „nur mit der Zange anzufassen“, weil „wohl in keinem anderen Lande ein Tapferkeitsorden so tief in den Schmutz gezogen worden“ sei. Das hessische Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen beantragte, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften möge das Buch auf den Index setzen. Was immerhin mit Hilfe von fünf Gutachten namhafter Literaturkenner verhindert werden konnte. 1963 finden die Hundejahre teilweise das Wohlwollen der Kritik, andere verwahren sich immer noch dagegen, diesem „monströsen Schweinigler“ eine große literarische Zukunft vorherzusagen.
Und dass, obwohl Günter Grass schon ein berühmter, in viele Sprachen übersetzter Autor ist. Zwei Jahre später bekommt er den Büchner-Preis. „Oh, schöne Fiktion des freien beziehungsweise vogelfreien, des unabhängigen beziehungsweise von der Unabhängigkeit abhängigen Schriftstellers“, lästert er in seiner Dankesrede. Entrüstete Konservative machten keinen Hehl daraus, dass ihnen der Preisträger entschieden zu links sei. Armer Büchner. „Ich rat euch, Es-Pe-De zu wählen“, hatte der Bürger Grass inzwischen empfohlen. Was ihm bei vielen Linken, auch damals radikaleren Kollegen wie Walser, Weiss oder Enzensberger, als Abgang ins bürgerliche Lager angekreidet wurde. So platzierte er sich zwischen alle Stühle, an den ehrenwerten Stammplatz des Intellektuellen, auf dem es unbequem, zugig und einsam ist.
Grass werde nun „sein Waterloo erleben“, frohlockt das Feuilleton bei Erscheinen seines Romans örtlich betäubt 1969. Der „poeta agitans“ habe eine Irrfahrt angetreten, wieder einmal sei bewiesen, dass politisches Engagement der Literatur nur schade. Er möge, flehen die Nürnberger Nachrichten, sich doch „endgültig für die Politik entscheiden“. Doch auch Wahlkampfauftritte des Autors, in denen er für einen demokratischen Sozialismus wirbt und um Akzeptanz für die Oder-Neiße-Grenze, werden von rechts als „Volksverhetzung“ gebrandmarkt – Grass wird als „Vaterlandsverräter“ verketzert. Gleichzeitig hadern intellektuelle Linke 1972 mit dem Tagebuch einer Schnecke, sie beklagen Theorielosigkeit und Utopiefeindlichkeit und raten der SPD, sich nicht zur Schnecke machen zu lassen.
Ein runder Geburtstag ist nicht das Jüngste Gericht, sondern Anlass zur schier grenzenlosen Bewunderung ob dieser manischen Kraft des sich Einmischens und Behauptens. Kein anderer Künstler hat je zuvor dem Land soviel Reflexionsbereitschaft und Diskussionskultur abverlangt. Die nicht selten zur Unkultur ausartete, angesichts unablässiger Angriffe voll vernichtungswilliger Energie. Wie hält man das aus? Der Erfolg bei den Lesern und Teilen der Literaturkritik wird hilfreich sein, immunisiert aber nicht gegen die ins Schmerzzentrum eindringenden, dolchspitzen Diffamierungen.
Fünf Jahre schweigt der Literat, von einer argen Krise wird gemunkelt, dann feiert die Kritik 1977 den Butt. Sie glaubt in ihrem Kampf um Entrückung der Kunst aus der politischen und ideologischen Gegenwart einen Etappensieg davongetragen zu haben. Doch unerwartet kommen Verurteilungen von feministischer Seite: Das Buch sei frauenfeindlich und antiemanzipatorisch. Das im 30-jährigen Krieg angesiedelte Treffen in Telgte gefällt auch. Doch 1980 zu den Kopfgeburten ist die Kritik wieder bei ihrem Vorwurf, der Dichter mische sich zu lautstark in außerliterarische Belange ein.
Beifall findet immerhin wie Grass sein „deutsches Bewältigungsgepäck“ schultert. Wäre er nur zehn Jahre älter gewesen, so die Kopfgeburt, hätte angesichts seines Umfeldes die Danziger SS-Heimwehr im Sommer 1939 „mit mir rechnen können, schriftlich bestimmt“. Dieses vortastend abgegebene Schuldbekenntnis wird als amüsantes Gedankenspiel gelobt, aber in seiner selbstbelastenden Ernsthaftigkeit verkannt. Erklärt sich nicht aus diesem frühen Versagen das beinahe zwanghafte innere Gebot, nicht noch einmal zu spät aufwachen zu wollen, sondern das Verhängnis von Macht nunmehr allüberall zu hinterfragen?
Dann die Rättin. Als einer der ersten behandelt Grass die drohende Umweltkatastrophe, flankiert von Armut auf der einen und Rüstung auf der anderen Seite. Die Kritiker überschlagen sich hasserfüllt, das Buch sei eine Bibel von „pastoraler Bescheuertheit“. Der Literaturwissenschaftler Heinz Ludwig Arnold resümiert, man habe sich aus Rache am „Politiker“ Grass zu einem „Feldzug“ gegen ihn entschlossen, mit der Literaturkritik als „Hackebeil“. Hier ginge es nicht mehr um ein möglicherweise misslungenes Buch, sondern um einen Schriftsteller, dessen Einmischungen nun endlich der Lächerlichkeit preisgegeben werden können. Es sei „als Verletzung gemeint und trifft auch“, sagt Grass auf dem PEN-Kongress.
Der lange geplante, mehrmonatige Aufenthalt in Kalkutta wird als Flucht einer beleidigten Leberwurst missdeutet. Dabei will sich Grass (wiederum als einziger Intellektueller) nicht nur für eine Stippvisite mit allen Sinnen der „Dritten Welt“ aussetzen. Wo angesichts des Elends die Worte versagen, zeichnet er. Oft ist ihm der Skizzenblock wichtiger als der Notizblock, ob in Kalkutta oder im jemenitischen Sana´a.
In Ein weites Feld hat Günter Grass die „brutal vollzogene Staatsaktion“ des Beitritts der DDR kritisiert – man erinnert sich, wie sein Buch auf der Titelseite des Spiegel zerfetzt wurde. Die Fundamentalkritik an der „hässlichen Einheit“ sei ein „Monstrum“. Besonders im Westen löst das heftige Aggressionen aus. Von der „Hinrichtung eines Dichters“ ist die Rede. Grass beharrt zurecht darauf, der regierungsamtlichen Geschichtsklitterung ein Bild entgegengesetzt zu haben, das bleiben wird. Vielen Lesern im Osten gilt er zunehmend als Verbündeter. Hier freut man sich uneingeschränkt über den Nobelpreis. (Erst als der Wahlkämpfer für Schröders Agenda 2010 und für Hartz IV wirbt, kommt vorübergehend Irritation auf.)
Das verkorkste Verhältnis von Dichter und Öffentlichkeit ist nur im Krebsgang entspannt. Obwohl politisch differenziert, wird das Buch als Auftakt zum deutschen Opferdiskurs vereinnahmt. Doch mit dem Erinnerungsroman Beim Häuten der Zwiebel ist der Nobel-Preis-Bonus verflogen. In einer alles bisherige überbietenden Debatte wird in zehntausend internationalen Stellungsnahmen über das „Ende einer moralischen Instanz“ gestritten. Dabei wird auf das, was der Autor sich selbst zum Vorwurf macht, gar nicht eingegangen. Weshalb er nämlich als Jugendlicher nicht eher gezweifelt und nachgefragt hat. Stattdessen ist man sich einig: Nicht die dreimonatige Zugehörigkeit des 17-Jährigen zu einer im Rückzug befindlichen Einheit der Waffen-SS sei das Problem, sondern sein langes Schweigen darüber. Er habe eher keine Form gefunden, seine Scham überwinden zu können, Grass verteidigt sich nicht mit der gewohnten Vehemenz. Berichte von Schriftstellerkollegen, ihnen sei das Ganze nicht neu, da Grass in privaten Gesprächskreisen wiederholt davon gesprochen habe, gelten nicht viel. Als alle Urteile gefällt sind, findet Klaus Wagenbach die Mitschrift eines zur Veröffentlichung bestimmten, biografischen Interviews von 1963. Darin liest er: „Jan./Feb. 1945 Marschbefehl zur Kompanie, Gruppe Steiner, SS“. Aus der Monografie wird nichts, weil Wagenbach als Lektor wenig später entlassen wird. Doch Grass, schon als Büchner-Preis-Kandidat gehandelt, hatte nichts verschwiegen.
Dann findet Harro Zimmermann bei Radio Bremen einen Originalton von Grass. In dem Interview geht es um den Krieg. Seine Marschkompanie sei „zusammengewürfelt“ gewesen aus „Resten vom Volkssturm“ und „eingezogener Waffen-SS“, aus jungen und alten Männern. Weder dem Journalisten, noch den Hörern war dieser offensichtlich unmittelbare Kontakt zur Waffen-SS im turbulenten Aufarbeitungsjahr 1968 eine konkretisierende Nachfrage wert.
Auf die Frage, weshalb er nicht selbst auf seine frühen biografischen Angaben verwiesen habe, sagt Günter Grass: Weil ich sie vergessen habe. Jeder Hobby-Analytiker weiß, dass Belastendes durch einen vom Willen unabhängigen Mechanismus gern verdrängt und vergessen wird. Aber Entlastendes? Das klingt reichlich unzweckmäßig. Der Zweck bestimme allerdings die Mittel, kann ein erfahrener Psychoanalytiker widersprechen. Menschen mit hohen moralischen Ansprüchen an sich selbst neigen bei in Schüben auftretenden Schuldgefühlen früher oder später zu Selbstbestrafung. Erst wenn sie hinreichend öffentlich gescholten wurden, müssen sie sich nicht mehr so schuldig fühlen. Da störe Entlastendes nur.
Vielleicht war ja der therapeutische Effekt für alle Seiten hilfreich. Unser Nobelpreisträger hat sich wiederum nicht einschüchtern lassen, ein neues Manuskript entsteht, öffentliche Entzugserscheinungen sind nicht zu befürchten, man kann über das Thema der nächsten Debatte spekulieren. Könnte es um den „Übereifer des Staates und seiner Organe bei der Terrorismusbekämpfung und ein hysterisch anmutendes Sicherheitsbedürfnis“ gehen, das die Voraussetzung bilde zu jenem „entmündigenden Kontroll- und Schutzwahnsystem“, welches „das Recht auf Widerstand“ zur demokratischen Pflicht mache? Doch das alles hat Grass schon im Frühjahr 1983 in der Zeit gesagt. Die Vernunft ist eben doch eine Schnecke. Die Recht behalten kann.
Laudatio zum 80. Geburtstag