von Kerstin Decker, Tagesspiegel 8.6.2004
Ein Rest von Unglaube ist doch in ihrem Blick, als sie nach vorn geht. Die Paulskirche! Und alle sind wegen ihr da. Nun gut, die hinteren Reihen bleiben leer. Aber muss man nicht sehr starke Gründe haben, bei soviel Sommer vor den Kirchenfenstern das Innere eines Verfassungs-Ortes aufzusuchen? Andererseits: muss man nicht noch stärkere Gründe haben, Daniela Dahn an einen solchen Ort vorzulassen?
Der Börne-Preis 2004 geht an die Frau, von der viele glauben, sie habe kein so gutes Verhältnis zu unserer Verfassung, ja eigentlich gar keins. Klaus Bölling identifizierte Daniela Dahn längst als „Katalysator einer demokratiefeindlichen Stimmung“ und die Milderen formulierten: „Sie ist noch nicht richtig warmgeworden mit der Demokratie, und die Prinzipien einer rechtsstaatlichen Verfassung sind ihr einigermaßen fremd.“ Man kennt den Ton freundlicher Herablassung, der den Ostler als solchen zum ewigen Nachhilfeschüler macht. Aber Dahn ist vom Typus her eher die ewige Einsenschülerin. Ich weiß mehr als ihr, auch über die Verfassung, stand schon immer in ihrem mädchenhaften Gesicht. Aber Verfassungsrichterin in Brandenburg ist sie nicht geworden.
Selbstsicher und doch etwas fremd wirkt sie hier in der Paulskirche, ganz in schwarz mit korallen-orange. Auch wenn es diese Farbe gar nicht geben sollte – sie steht ihr. Schmaler Rücken, eigentlich zu schmal für so viel Prügel, wie sie in den letzten Jahren bezogen hat. Mediale Prügel. „Eine ungewöhnliche Gewalterfahrung“, wird sie das nachher nennen und dazu lächeln. Bestimmt hat sie Angst vor diesem Preis. Denn mit Preisen hat sie auch keine guten Erfahrungen.
Vor zwei Jahren bekam sie in Berlin die Louise(?)-Schröder-Medaille. Die Laudatorin sagte in letzter Minute ab, eine Vorgänger-Preisträgerin gab aus Abscheu über die Nachfolgerin ihre Auszeichnung zurück, CDU und FDP fanden sich zum Festakt im Berliner Abgeordnetenhaus gar nicht erst ein und konnten das auch begründen. Der Oberintellektuelle der Berliner CDU Frank Steffel erklärte: „Dahn steht nicht nur im Verdacht, dem Grundgesetz nicht gerade treu gesonnen zu sein, sie zog auch schon in Zweifel, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei.“ Immerhin, die Berliner CDU hatte schon die todkranke Regine Hildebrandt als Trägerin der Auszeichnung verhindert.
Preise, das weiß Daniela Dahn also genau, sind zum Fürchten. Aber neben ihr sitzt wie ein Fels Jorge Semprun. Und als der Vorstandsvorsitzende der Börne-Stiftung tadelnd sagt, es gäbe noch immer Menschen, die die Gleichheit der Freiheit vorziehen würden, schaut sie den Vorstandsmann sehr felsig an. Und als er sagt, er wolle „die Preisträgerin ermutigen“, die Freiheit zu wählen, noch felsiger. Weiß der Mann denn nicht, dass Börne durch seinen Gleichheitssinn mindestens ebenso unangenehm auffiel wie durch seinen Freiheitssinn?
Semprun hat schon recht. Der Börne-Preis ist der kongeniale Preis für Daniela Dahn. Das Problem ist ohnehin nicht, dass die Preisträgerin nicht zum Preis passt, es ist höchstens, ob so ein Börne-Preis noch in dieses Land passt. Selbst Heinrich Heine war der Quasi-Jakobiner Börne schließlich zu radikal. Und beide, Heine und Börne, erinnern daran, was dieses Land seit vierzehn Jahren vergessen will: wie „links“ die Gedanken von Freiheit und Demokratie einmal waren. Ja, dass es ursprünglich „linke“ Gedanken sind.
Irgendetwas muss passiert sein mit diesem Land, wenn eine wie Dahn jetzt in die Paulskirche darf. Oder die Börne-Gesellschaft war einfach nur leichtsinnig, als sie Semprun zum Preisrichter bestellte (ohne Jury). Und Semprun bestimmte: Dahn! Vielleicht, weil dem Franzosen spanischer Herkunft, dem einstigen Resistance-Kämpfer, die Enge des deutschen Geistes, der sich so tolerant dünkt, auf die Nerven geht. Weil man eine wie Dahn in keinem anderen Land so behandelt hätte. Er nennt Dahns Feinde vornehmlich die „tugendhaften Geister“ und vermerkt ausdrücklich, durch wen er als junger Student der deutschen Philosophie die Anregung empfing, Börne zu lesen: durch Engels. Er sagt, was ihn an Dahn fasziniert – „die mitreißende kritische Zeremonie der Negativität“. Semprun verteidigt den Antifaschismus der DDR, der mehr gewesen sei als Staatsideologie, nämlich ein „sittlicher Bildungsprozess“. Beinahe ist es beschämend, das von einem zu hören, der Buchenwald überlebte. Aber vielleicht können die wichtigsten Dinge nur von außen gesagt werden und man muss von einem Kommunismus-Kritiker wie Semprun selbst die Warnung „vor einer halbseitigen Lähmung des Gehirns“ hinnehmen, egal, ob nun die linke oder die rechte Seite betroffen sei.
Die Frau, die Joachim Gauck „die Schutzheilige aller Unaufgeklärten“ nannte, hört zu, fast ohne Ausdruck. Alles ist anders als vor zwei Jahren. Was hat sie eigentlich getan? Sie ist eine radikale Selbstdenkerin. Sie verlässt sich grundsätzlich nicht auf die Definitionen anderer Leute, sie ist auch eine Selbstdefiniererin. „Kapitalistisch ist für mich eine Wirtschaftsordnung, in der die privaten Eigentümer an Produktionsmitteln rechtlich privilegiert werden.“ In der sozialistischen würden die gesellschaftlichen Eigentümer privilegiert. Zwei Verstöße gegen das Gleichheitsgebot. So beginnen typische Dahn-Analysen. Es ist kaum anzunehmen, dass jemand eine Verfassungsdiskussion mit Daniela Dahn gewinnen würde. Denn worüber sie redet, das hat sie zuvor mit verbissener Akribie recherchiert. Typus Einsenschülerrin eben. Dinge, die kein Mensch hören will, spricht Daniela Dahn mit Vorliebe aus. Etwa, dass die amerikanische Verfassung vor allem die ökonomischen Interessen ihrer Urheber widerspiegele. Ist gar nicht ihre Idee, haben die Urheber der amerikanischen Verfassung selbst gesagt. Und Dahn erklärt so etwas auch nicht, um die amerikanische Verfassung schlechtzumachen, sondern nur um zu zeigen: es ist immer noch etwas untendrunter. Selbst Transzendentalien haben Kellergeschosse. Und Daniela Dahn ist eine leidenschaftliche Unterkellerin. Heine und Börne waren es auch.
Die Grundlage allen (schöpferischen) Denkens ist die Analogie. So entstanden Dahns ärgerniserregenden Parallelen von „poststalinistischem System der DDR“ und „finanzstalinistischem“ System der BRD – ein wenig auf der Mitte von Einsicht und Bauernfängerei. Wer so etwas denkt, um bei diesem Gedanken stehenzubleiben, ist ein Idiot. Denn bloße Analogien sind Idiotien. Aber Dahn dachte ja weiter. Nur dass keiner von denen, die Semprun die „tugendhaften Geister“ nennt, weiter zitierte. Dass unter der Beschreibung des „Unrechtsstaates“ große Teile der DDR-Wirklichkeit nicht einmal sichtbar wurden, hat Dahn benannt. Wer daraus folgert, dass sie diesen Staat guthieß, fällt wohl unter Sempruns halbseitige Lähmungs-Diagnose. Dahn hat in der DDR etwas getan, was über die Kraft der meisten Menschen geht, damals wie heute. Sie hat ihre Stelle beim Fernsehen der DDR gekündigt. „Um meine Selbstachtung nicht zu verlieren“. Diese Bedingungslosigkeit mag erschrecken. Aber Weltverbesserer, die zwanghaft Aufrichtigen – solche wie Börne und Dahn – sind so. Und das ist vielleicht der tiefste Grund, warum die Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“ nach 1990 so viel Unruhe stiftete: Sie hatte in der DDR ihre Meinung gesagt. Sollte sie ausgerechnet jetzt, in der Freiheit, damit aufhören? Und so tritt sie ans Pult der Paulskirche. Eine Jakobinerin des Geistes wie Börne. Sie sagt Sätze wie „Das Primat des Marktes schließt das Primat des Denkens aus“ (nicht das Denken, nur das Primat), sie kennt sehr viele Zahlen und nennt sie unverdrossen. Zusammenhänge auch. Man muss die Jakobiner nicht mögen. Denn sie akzeptieren nie den Bruch zwischen dem Denkbaren und dem Machbaren. Aber man sollte ihnen zuhören.
Was ist an diesem Vormittag geschehen? Vielleicht ist mit dieser Preisverleihung an diesem symbolischen Ort der Demokratie die Ära des Kalten Krieges im wiedervereinigten Deutschland endgültig zuendegegangen. Das ist wichtig. Denn es irrt, wer glaubt, der Kalte Krieg träfe die unverbesserlichen Kommunisten. Im Gegenteil. Die Kommunisten fühlen sich durch ihn nur bestätigt. Er traf auch nach der Wende immer die freien Geister, die es ablehnten, ihre Erfahrungen zu verleugnen. So wie Daniela Dahn, die bei allem unverbesserlichen Weltverbesserertum immer nur einer Partei angehörte: der des eigenen Gewissens.