Die Berliner Autorin Daniele Dahn auf Lesereise: Wo die Chronistin der Einheit
auftritt, trifft sie das Lebensgefühl von Ostdeutschen aller Couleur
Von Brigitte Biermann
Wie sagte doch der Dichter? „Gepriesen sei mir der Zufall; er hat größere Dinge getan als klügelnde Vernunft …”, jubelt Schillers Ferdinand. Daß Daniela Dahn 1993 anläßlich eines Treffens ost- und westdeutscher Autoren beim Essen neben den Leiter des Rowohlt Verlages zu sitzen kam, war so ein Zufall. Michael Naumann stellte nämlich seiner Tischdame bei der Suppe die harmlose Frage, woran sie gerade arbeite. Und Daniela Dahn, deren Sache Small talk nicht ist, weil präzise formulierte Debatten ihr weit mehr liegen, tat umgehend kund, daß sie zum Schreiben selten käme. Die Sprecherrolle in der Bürgerinitiative ihrer Ostberliner Reihenhaussiedlung beanspruche sie im Moment sehr. Immer wieder aufs neue müßten sie und ihre Nachbarn sich gegen Rückgabeforderungen wehren. Da war sie auf einen Mann gestoßen, der diese ganze Eigentumsgeschichte mit sehr kritischem Blick sieht. Und da er als Verleger ein Gespür für Themen haben muß, schlug er ihr beim Dessert vor: Da machen wir doch mal ganz schnell ein „rororo aktuell”.
Ein Jahr später war es fertig: „Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten?” Untertitel: „Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern”. Es geht um die Entstehung der Vermögensregelungen mit ihren katastrophalen Folgen. 1996 erschien, ebenfalls auf Wunsch des Rowohlt Verlages, „Westwärts und nicht vergessen – Vom Unbehagen in der Einheit” (ZEIT Nr. 24/96). Günter Gaus apostrophierte den Band als „Oppositionsbuch im allerbesten Sinne”. Beide Titel standen monatelang auf Bestsellerlisten ganz oben und verkaufen sich von allein. „Westwärts …” erscheint im Juni als Taschenbuch. Was Wunder: Souverän und scharf vergleicht Daniela Dahn die beiden deutschen Staaten miteinander. Zahlen, Fakten und Bei-spiele hat sie mit einer Akribie recherchiert, vor der man nur den Hut ziehen kann. Und: Sie trifft haargenau das Lebensgefühl der Ostdeutschen fast aller Couleur.
Die Autorin gibt unumwunden zu, das Ausmaß der Arbeit unterschätzt zu haben. Zweifelsfrei aber liegt ihr das Thema. „Sie ist offenbar eine von jenen Frauen, die sich nicht so richtig fürchten können, vor nichts und niemandem”, bescheinigte ihr ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung. Einmischung hält sie für eine Form der Psychohygiene: „So kann ich wenigstens behaupten, ich habe es versucht.” Und das honoriert das Publikum.
Bei jeder Lesung, egal ob in Ost oder West, wird sie gefragt, woher sie den Mut für eine so offensive Argumentation nehme. Immerhin verstößt sie gegen solche Denktabus wie: man dürfe nicht vergleichen, nicht relativieren. Dabei rechnet sie niemals Schuld an sich auf. Sie seziert Doppelmoral und Amnesie des Anklägers. Und das Schlimmste: Daniela Dahn denkt nicht im Traum daran, ihre Vergangenheit als Kompaktmüll zu entsorgen, sondern sie setzt sich selbstbewußt damit auseinander.
Mut? Anfangs hat sie das irritiert; wieso sollte in einer Gesellschaft, die ständig die freie Meinungsäußerung rühmt, Mut dazugehören, von diesem Angebot Gebrauch zu machen? Auch freut sich doch jeder Verlag über Renitenz – die verkauft sich womöglich leichter als An-gepaßtes. Selbst die meisten Rezensenten waren überraschend freundlich. Dennoch versteht sie die Fragenden inzwischen besser: „Wer sich aus dem Fenster lehnt, muß auch mit nackter Diffamierung rechnen.` Die sie in Form hämischer Verrisse. auch persönlicher Angriffe erfahren hat.
Natürlich fühlt sie sich verletzt. ..Aber ich habe es weggesteckt”, schiebt sie trotzig nach. Um gleich darauf zu widersprechen: „Es ist bedenklich, daß ich mich daran gewöhne, weil Denunziation so kulturlos ist. Und an Kulturloses möchte ich mich nicht gewöhnen.”
Sie kommt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus. Der Vater ein angesehener Wirtschaftsjournalist und, in der DDR sehr untypisch, ein Grandseigneur. Die Mutter Modegestalterin, sie gab einst der 1995 eingegangenen Frauenzeitschrift Sibylle ihren Namen. Daniela, 1949 geboren. zog es früh zur Literatur, wohl auch, um sich gegenüber der geballten Kompetenz zu profilieren.
Die unklaren Eigentumsverhältnisse halten die Bewohner der Reihenhaussiedlung in Berlin-Adlershof noch immer in Atem. Bei Daniela Dahn daheim: Wände voller Bücher und Bilder. Vor der Glastür, die in den handtuchschmalen Garten führt, ein ovaler Tisch mit Thonetstühlen. Daneben ein schöner Eckschrank. In Jeanshemd und jeansblauem Pullover sitzt die Autorin gerade und konzentriert auf dem Sofa. Da-neben türmen sich säuberlich Zeitungsstapel: fast symbolisch nebeneinander Spiegel und Freitag.
Das Fenster hinter ihr gibt den Blick auf den Vorgarten frei. Eine Briefträgerin gehtvorbei. Kurz darauf klatscht die Post auf den Boden des winzigen Korridors. Dann ist es wieder still im Haus. Ehemann Jochen Laabs ist unterwegs in Sachen PEN-Zentrum Ost, dessen Generalsekretär er ist. Die zwölfjährige Tochter ist noch in der Schule.
Daniela Dahn stieg 1981 aus dem Fernsehjournalismus aus, „um nicht die Selbstachtung zu verlieren”. Ob das anders wäre mit ihrer Selbstachtung, würde sie jetzt beim Fernsehen arbeiten, bleibt offen. Sie fühlt sich ganz wohl als freie Autorin. 1983 erschien ihr erstes Buch, „Spitzenzeit” — literarische Feuilletons, Gedanken über Haupt- und Nebensächliches in kleiner, pointierter Prosa. Sie schrieb Essays, Hör-spiele. die schon in den achtziger Jahren in
SFB, BR und Südwestfunk gesendet wurde, Filme, Features. 1987 erschien in Ost und West ein Reportageband über die Szene am Prenzlauer Berg.
Den Begriff Frauenliteratur gab es zwar nicht zwischen Rügen und Thüringer Wald. Aber: „Frauen haben auffällige Literatur gemacht. Nicht als Marginalien, sondern mit sehr kritischen Stimmen”, sagt Daniela Dahn. Ihre gehörte dazu. „Der Marxismus war ein intellektuelles Projekt, und alle, die es ernst meinten, haben eine Zeitlang versucht, die tiefe Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit zu verringern. Bis sie begreifen mußten, daß in diesen starren Strukturen keine Veränderung möglich war.”
Heute bezeichnet sich Daniela Dahn als vagabundierende Linke. Sie sitzt auf Po-dien bei Diskussionen im Brandt-Haus der SPD und beim Kirchentag. Sowohl bei einem Kulturforum der PDS als auch bei einem Meeting der Grünen wurde sie gesehen. Im Herbst 1989 gehörte sie zu den Gründern des Demokratischen Aufbruchs, arbeitete in Kommissionen und Ausschüssen, „um den Augiasstall selbst auszumisten”. Im Januar dieses Jahres stand ihre Unterschrift – neben denen von 36 anderen Intellektuellen, Gewerkschaftern, Kirchenleuten, Künstlern – unter der Erfurter Erklärung, dem Aufruf zu einem Bündnis für soziale Demokratie: „Die Diskussion in der Erfurter Kirche hat zum ersten Mal wieder an die aufgeladene Stimmung von 1989 erinnert. Wir haben wohl damit ins Schwarze getroffen.”
Nun reist sie nicht nur mit ihrem Buch durchs Land. Clubs, Vereine, Gewerkschaften laden sie ein, um darüber zu diskutieren, wie man den sozialen Druck abfangen, wie man gegen diese Ohnmacht angehen kann.
Ja, sie möchte mal wieder oben in ihrem kleinen Arbeitszimmer sitzen und an einem Prosatext arbeiten. Viel mehr als die Idee ist noch nicht auf der Festplatte. Thema: Wie gehabt, menschliche Reaktionen unter extremen Bedingungen; Stil: Was völlig Neues probieren, etwas Surreales diesmal.
Doch viel lieber als über ungelegte Eier spricht Daniela Dahn über Konkretes. Zum Beispiel über die Verantwortung, die ihr ihre Leser aufbürden. Besonders in Ostdeutschland gibt es kaum eine Veranstaltung mit Daniela Dahn, in der sie nicht nach ihrer Vision befragt wird und danach, was nun zu tun sei. „Aber ich bin Chronistin, keine Prophetin! Ich kann nur daran erinnern, daß die eine alte Vision noch immer nicht erfüllt ist: eine Gesellschaft, die so-wohl die bürgerlich-freiheitlichen als auch die sozialen Menschenrechte – das Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung – garantiert. Wie man dorthin gelangt, darüber müssen sich, bitte schön, alle Gedanken machen.”
Nächste Lesungen: 11. Juni Tübingen, 12. Juni Reutlingen.