Plädoyer für die Paradiesschlange
Die Bibel als das Buch der Weltliteratur – das ist keine Glaubensfrage. Dieses Buch erweist sich über die Jahrhunderte bis heute unbestritten als die Fundgrube von
Menschheitsgeschichte, in dem alle großen, immer wiederkehrenden Konflikte bereits
beschrieben werden: Geschichten von Macht und Gehorsam, von Mut und Demut, von
großer Liebe und kleiner Rache, von eigennützigen Intrigen und uneigennützigen Opfern, von katastrophalen Strafen und beglückenden Belohnungen. Diese aus Einzelbüchern in 1000 Jahren Überlieferung geformten, und beim Redigieren zuweilen sicher auch verformten, Geschichten an ihrer historischen Authentizität zu messen, ist müßig. Sie aber nach ihrer dramaturgischen Glaubwürdigkeit zu befragen, gängige Deutungen zu bezweifeln, ist eine Annäherung, die Dichtung sich wünscht.
Da ich die Bibel eben nicht als Gotteswort lese, sondern mehr oder weniger als
prophetisches Menschenwort, sehe ich, wie Gott das archaische menschliche Ringen um moralische Werte und Orientierungen auferlegt wird. Sie formten ihn nach ihrem Bilde. So wurde er beteiligt an den Zweifeln darüber, ob die Schöpfung nicht doch ein mißglücktes Experiment, gar eine Fehlkonstruktion ist. Das Austoben von Enttäuschung, das den Menschen in größerem Umfang vorerst versagt blieb, wird dem Herrn großzügig eingeräumt. Mit seinem sintflutlichen Genozid hätte Gott heute vor dem Gerichtshof für Menschenrechte keine guten Karten. Auc wenn er versprach, so etwas nie wieder zu tun – gerade im Alten Testament ist der Herr oft alles andere, als ein lieber Gott. Es war ein dorniger Weg, bis Gott zum Humanisten wurde. Ein Humanist, dem dennoch der Wille oder die Allmacht abgeht, die Menschen aus Verblendung und Bosheit zu befreien. Nur selten gelingt es Schriftstellern, ihre Helden durch Doppelwertigkeit klüger zu machen, als sie selbst sind. Solche
Sternstunden der Dichtung erheben die Bibel zur Heiligen Schrift.
Die für mich großartigste aller Geschichten, der sogenannte Sündenfall, eröffnet gleich im ersten Buch Mose alle Rätsel und alle Weisheit. „Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ Neigt Gott in seiner Einsamkeit zu Selbstgesprächen? Ob nun im Pluralis mejestatis oder – modestiae angesprochen, es müssen Wesen sein, die die Urteilskraft haben, aus einem Bild Analogien ableiten und daraus Menschen formen zu können. „Ein Bild, das uns gleicht“ kann demnach nur ein vernunftbegabtes Wesen meinen. Doch diese Begabung wird dem Menschen im Garten Eden durch das Erkenntnisverbot nicht abverlangt. Warum stattet der Schöpfer den Menschen mit Verstand aus, geeignet, gut und böse zu unterscheiden, wenn diese (aus Lehm und Lebensodem nicht eben nebenbei zu kreierende) Fähigkeit verkümmern soll?
Gehorsam ist keine menschliche Tugend. Dressur gelingt auch bei Tieren. Warum flößt Gott Eva Neugier ein, wo doch Neuigkeiten im Garten Eden nicht zu erwarten sind? Ist das ein paradiesischer Zustand? GEHÖRT ZUR VOLLKOMMENHEIT NICHT DER ZWEIFEL? Ohne Wissen kein Gewissen. Was war des Allmächtigen ursprüngliches Menschenbild?
Spätestens jetzt bekommt die Schlange ihren Auftritt, wird sie unentbehrlich. Die Schlange, das auserwählte Tier in der Schöpfungsgeschichte? Werden die anderen Kreaturen im Paradies nur als „Vieh, Gewürm und allerlei gefiedertes Gevögel, ein jegliches nach seiner Art“ beschrieben, so ist die Schlange nicht nach ihrer Art. Sie „war listiger denn alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte“. Und sie konnte sprechen. Ihr Verhalten ist nach Menschen Art, und da die Menschen nach dem Bilde Gottes sind, ist sie auch ein wenig nach Gottes Art. Sie ist überaus wortgewaltig. Mit einer einzigen ketzerischen Frage und einem einzigen, weissagenden Satz gelingt es ihr, die zögerliche Eva von ihrer Logik zu überzeugen. Die Logik der Schlange wird zu Evas Logik? Nein, die Logik der Schlange läßt Eva ihre eigene Logik des Zweifels erkennen. Erst im Moment des Ungehorsams ist die Menschwerdung vollendet.
Gott schickt die Schlange, um den letzten, befreienden wie riskanten Schritt dem
menschlichen Willen zu überlassen. Er ist auf den wahrscheinlichen Ausgang der Entscheidung vorbereitet. Längst hat er vorsorglich neben dem kleinen Garten Eden eine große, unwirtliche Welt geschaffen. Jenseits paradiesischer Widerspruchslosigkeit. Rauh, aber empfänglich für den Pflug der Zivilisation, voller Plage, aber verbesserbar durch eines der größten Vergnügungen der menschlichen Rasse, das Denken.
Rein dramaturgisch gesehen macht die Geschichte nur Sinn, wenn ihr Verlauf von Anfang bis Ende genau so vorgesehen war. Doch es wäre keine biblische Geschichte, keine Urgeschichte, wenn nicht Fragen und Rätsel blieben. Warum hat Gott die Menschen bis zum Betreten der wirklichen Welt diesen schlängelnden Umweg nehmen lassen? War er in seiner Einsamkeit unersättlich an Liebesbeweisen, erwiesen durch Gehorsam? Ist es richtig, den prophetischen Bibelschreibern vorzuwerfen, sie hätten Gott eine gewisse Disziplinierungslust unterstellt, um den irdischen Herrschern verängstigte, also gefügige Untertanen zu bescheren?
Gerade bei dieser Annahme kann man der Schlange für ihren ketzerischen Urton nicht
dankbar genug sein. Sie war die erste Aufrührerin, die erste Lehrmeisterin der Revolte, die bekanntlich eine der wesentlichen Dimensionen des Menschen ist. Sie war wissend genug, dafür keine Belohnung zu erwarten. Im Gegenteil, sie kennt den Preis. Die Meinungsmacher zeichnen sie bis heute als Symbol für Sünde und Laster, als vom Teufel beauftragt, als Gottlose. In illustrierten Barockbibeln findet sich das Golgathakreuz als Baum der Erkenntnis mit aufgenagelter Schlange – christusgleich.
Als Gott fragt, warum sein Gebot, nicht von den Früchten jenes einen Baumes zu essen, mißachtet wurde, lernt er seine Schöpfung kennen: Adam denunziert Eva, Eva denunziert die Schlange: „Die Schlange betrog mich also, daß ich aß.“ Doch die Schlange hatte nicht betrogen. Ihre Zusage, wonach der Genuß der Frucht mit nichten tödlich sei, sondern die Augen öffnet, um hernach gut und böse unterscheiden zu können, war eingetroffen. Sie sagte die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr ihr Gott geholfen hatte. Wollte die Schlange darauf aufmerksam machen, müßte sie nun wiederum Gott denunzieren. Doch sie kommt aus gutem Hause. Die Wortgewaltige schweigt in Erwartung des gewaltigeren Wortes. Dies war die erste Lektion in „Ästhetik des Widerstandes“.
Gottes Fluch über die Schlange fällt dann auch halbherzig aus, er scheint eher einer inneren Regieanweisung zu folgen, als einem Bedürfnis. „Auf deinem Bauch sollst du gehen und Erde essen dein Leben lang.“ Auf ihrem Bauch war sie sowieso gegangen und niemand verwehrte ihr, zwischen der Erde die saftigsten Happen zu suchen, ihr Leben lang.
Doch die weitere Strafandrohung verwirrt: „Und ich will Feindschaft setzen, zwischen dir und dem Weibe.“ Feindschaft zwischen Eva und ihrem zweiten, weiseren Ich? Ist die Schlange nicht auf unzähligen Tafelbildern mit Frauenkopf und langen Locken dargestellt worden, als Sinnbild weiblicher Verführung? Daß sie sich ringelt gilt als Symbol der Zeit, Jahresringe, das ewig Weibliche. Doch waren da nicht auch einige Abbildungen, mit beinahe kopflosen, herausfordernd aufgerichtet Schlangen? Galt die Schlange nicht viel später als eigentliches Phallus-Symbol? Feindschaft zwischen dir und dem Weibe?
Gibt es dafür eine Entsprechung in der Eva zugedachten Strafe? „Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“ und „dein Mann soll dein Herr sein“ – diese Verwünschungen sind leicht als Gemeinheiten erkennbar. Doch „dein Verlangen soll nach deinem Manne sein“ – wo ist da die Drohung? Kann ein Verlangen nicht erst zum Fluch werden, wenn es nie befriedigt, eine Sehnsucht, wenn sie nie gestillt wird? Doch schon haben wir uns von der Schlange in Abgründe führen lassen – zurück zum Sündenfall. Und seinen offenen Fragen.)
„Siehe, Adam ist geworden als unser einer, und weiß, was gut und böse ist“, sagt Gott am Ende stolz zu seinem fiktiven Gegenüber. Patriarchisch, wie er nun mal ist, hat er überhört, daß es Eva war, die zuerst Lust hatte, klug zu werden. Die Schlange weiß in dem Moment mehr als ihr Schöpfer. Ihr verdanken wir die Fähigkeit, warum fragen zu können. Warum ist der Mensch durch eine Sünde vollkommener geworden? Kann denn Emanzipation Sünde sein? Wäre es nicht vielmehr sündig gewesen, diese Chance träge auszuschlagen?
Dann hätte es nie Menschen gegeben, wie diesen Hiob. Der es wagt, Gott zum Dialog herauszufordern: „Laß mich wissen, warum du mit mir haderst.“ Gott wagt nicht zuzugeben, daß er Hiob einer schrulligen Wette wegen ohne Ursache ins Verderben gestürzt hat. Wegen eines unterhaltsamen, auch rechthaberischen Kräftemessens mit dem Teufel. Gottes Sündenfall. Der uns vertraut vorkommt. Siehe, Gott ist fehlbar, also menschlich. Hiob durchschaut ihn: „Bin ich gerecht, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben. Und wenn ich es hebe, so jagest du mich wie ein Löwe … Du bist mir verwandelt in einen Grausamen.“ Der Allmächtige weiß, daß er ungerecht ist und flüchtet in Autoritätsbeweise: „Wer ist des Regens Vater?… Wer kann die Wasserschläuche am Himmel ausschütten?“ So wie diese Geschichte aufgeschrieben ist, kommt der unvoreingenommene Leser nicht umhin, Hiob als den moralischen und intellektuellen Sieger des argumentativen Schlagabtauschs zu empfinden. Klerikale Dogmatiker hätten Hiob deshalb gern der Bibel verwiesen. Die Schlange wird sie vor Wut darüber in die Ferse gebissen haben.
Doch gerade der Umstand, daß der Mensch mit Hilfe der Schlange in seiner Urteilskraft gottgleich geworden ist, wirft erst das eigentliche Rätsel auf: Warum entscheiden sich Wesen, die zwischen gut und böse unterscheiden können, nicht ein für alle mal für das Gute? Weil das Gute und das Böse nicht feststeht, wie eherne Marmolsäulen, sondern im Sturm der Interessen schwankende Herrschaftskategorien sind? Weil es überhaupt nicht zwei getrennte Säulen sind, sondern zwei Kammern, vereint in einem Herzen? Weil, wer sich anmaßt, gottgleich das Gute an sich zu sein, nur verbirgt, daß das Böse in ihm der Tarnung bedarf? Und die Leute sind so frei, darauf hereinzufallen. Vielleicht glauben wir nur unterscheiden zu können. Vielleicht unterscheiden wir zu oft zu unseren Gunsten. Also, zu Ungunsten der anderen. Vielleicht sind wir deshalb so wenig friedfertig.
Im Judentum gilt Versöhnung als Rückkehr ins Paradies. An keinen Ort gebunden. Denn der Garten Eden wird inzwischen verwildert sein. Damit der unvollkommene Mensch nicht auch vom Baum des ewigen Lebens esse, „ließ ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er das Feld baute.“ Er ließ ihn gehen, so wie man einen Eingesperrten gehen läßt. Dann ging er selber auch. Der Garten ist leer. Bewacht von den Cherubim mit dem bloßen Schwert. Das Paradies als Investruine der Utopie?
Die Sehnsucht kann niemand vertreiben. Das ist nicht zu unterschätzen. Die Schlange hat das Risiko zertreten zu werden auf sich genommen und das Paradies ebenfalls verlassen. Sie hat sich nicht davon abbringen lassen, an allen Drehpunkten der Heiligen Schrift, die subversiver Dynamik bedürfen, anwesend zu sein.