aus: »Blätter für deutsche und internationale Politik« 9/2017
Erfüllt die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch ihren verfassungsmäßigen Programmauftrag? Entspricht sie den Anforderungen der Kommunikationsfreiheit und der im Rundfunkstaatsvertrag festgehaltenen Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne?
Von den angesprochenen Medien werden derartige Anfragen in aller Regel mit großer Selbstgerechtigkeit zurückgewiesen. Dazu gehört auch der Versuch, Kritik an ihnen vornehmlich rechts zu verorten, bei Pegida, AfD („Lügenpresse“) und anderen dubiosen Kräften. Dabei gibt es längst dutzende seriöse medienkritische Bücher von Wissenschaftlern, aufklärerische Plattformen von investigativen Journalisten und eine Netzöffentlichkeit, die gegenhält. Selbst Kanzlerin Merkel äußerte sich voriges Jahr auf der CDU-„Media-Night“ besorgt über den Glaubwürdigkeitsverlust der Medien. Es müsse uns alle unruhig stimmen, dass 60 Prozent der Bürger „wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien“ hätten.
Tatsächlich hat der massenhafte Aufstand der Zuschauer und Leser gegen die sogenannten Qualitätsmedien bereits im Frühjahr 2014 begonnen, und zwar angesichts der einseitigen Parteinahme für die antirussischen Kräfte im Ukrainekonflikt. Auch die Online-Portale der ARD konnten sich vor kritischen Zuschriften oft nur durch Schließung der Kommentarfunktion retten. Kleinlaut und viertelherzig räumte der Sender schließlich einzelne Fehler ein, im Großen und Ganzen aber sei alles in Ordnung.
Aufs Trefflichste aufgenommen werden dagegen Kritik und Forderungen der Zuschauer von den Autoren des Buches „Die Macht um Acht – Der Faktor Tagesschau“. Die drei Autoren sind mit der Materie bestens vertraut: Volker Bräutigam war selbst zehn Jahre Redakteur bei der Tagesschau und kennt die Spielregeln daher als Insider. Der Jurist Friedhelm Klinkhammer war
35 Jahre beim NDR, unter anderem als IG-Medien- und Gesamtpersonalratsvorsitzender. Und der Journalist Uli Gellermann analysiert auf seiner Website rationalgalerie seit Jahren angriffslustig das Politik- und Mediengeschehen.
Um die weitgehende Wirkungslosigkeit dieser Kritik wissend, geht das Autorentrio über die bisherigen Formen der eher unverbindlichen Beispielsammlung hinaus und prüft neben der zu analysierenden Sendung auch die basisdemokratisch klingenden Möglichkeiten der kritischen Teilhabe der Zuschauer. Denn Paragraph 13 des NDR-Staatsvertrages bietet über die allgemeine Beschwerde hinaus die Möglichkeit einer Eingabe in Form der „Programmbeschwerde“. Um einen Verstoß gegen die Programmrichtlinien zu rügen, muss besonders präzise argumentiert werden.
Genau das leisten die Autoren mit fast stoischer Ausdauer. Dabei räumen sie eingangs ein, dass im Vergleich zu anderen Nachrichtenformaten das Tagesschau-Ensemble noch das „ansehnlichste“ sei. Die Hauptausgabe um 20 Uhr ist zudem mit rund neun Millionen Zuschauern die mit Abstand meistgesehene Nachrichtensendung. Als eine Art amtliche Vermittlung von Neuigkeiten empfiehlt es sich, die 15 Minuten zur Kenntnis zu nehmen.
Durch die Lektüre des Buches wird man für einseitige Berichterstattung sensibilisiert und motiviert, diffuses Unbehagen durch eigene Recherchen auszugleichen. Nehmen wir als beliebiges Beispiel dieser Tage die Berichterstattung über Venezuela. Das gängige Narrativ, wie man heute bedeutungsvoll sagt, ist klar: Diktatur oder Demokratie, Misswirtschaft oder Wohlstand, Gewalt oder Rechtsstaatlichkeit. Dass es in dem lateinamerikanischen Land auch um Verteilungsfragen geht, um die sozialpolitische Verfügung über die Einnahmen aus den reichen Ölvorkommen, um den bei erneuter Privatisierung zu befürchtenden Rückfall in die jahrhundertealte Marginalisierung der Unterschichten, um Gewalt und Verfassungsbruch auf beiden Seiten – derartige Hintergründe sind nicht vorgesehen. Wie fast alle westlichen Regierungen unterstützt die deutsche die Opposition in Venezuela – und sie darf durchaus parteiisch sein, auch wenn das nicht allen gefällt. Die Medien dagegen dürfen es nicht. Sie müssten über beide Seiten objektiv berichten. Doch die Tagesschau hat sich (wieder einmal) auf die prowestliche Regierungsseite geschlagen. Obwohl die Sendesekunden knapp sind und ausschließlich neuen Informationen vorbehalten sein sollten, wiederholt sie Tag für Tag: Die Opposition fürchtet, Präsident Maduro werde eine Diktatur einführen – immer wieder, bis es auch der letzte Zuschauer verinnerlicht hat.
Gewiss, es gibt gewichtige Anhaltspunkte für solche Bedenken, es gibt allerdings auch Anhaltspunkte dagegen. Von denen hat man in der Tagesschau und in den meisten „Leitmedien“ nichts gehört. Und eben darin liegt das Dilemma vieler Zuschauer: Sie sehen sich von der Tagesschau und anderen Leitmedien nicht hinreichend mit unabhängigen und zweifelsfrei recherchierten Informationen versorgt, um sich eine eigene, begründete Meinung bilden zu können. Und das betrifft bei weitem nicht nur Venezuela, sondern das ganze Weltgeschehen: Es wird ein selektives Angebot von Symptomen serviert, das unerwünschte kausale Zusammenhänge weitgehend ausspart. Das aber entgeht den auch von Angela Merkel erwähnten Bürgern nicht. Nach einer Untersuchung der Universität Mainz von Ende 2016 sind drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die Medien zumindest teilweise über Unerwünschtes nicht berichten. Doch löst dieser Befund die Unruhe aus, die die Kanzlerin erwartet? Ist ihre eigene Sorge ehrlich? Sind bereits staatlich finanzierte Studien zu dieser Demokratie gefährdenden Situation in Auftrag gegeben? Oder ist dies vielleicht völlig unnötig, weil die diensthabenden Journalisten hinreichend selbstkritisch mit der Situation umgehen?
Weit gefehlt. Die Autoren der „Macht um Acht“ haben bei der ARD zwischen Mai 2014 und Februar 2017 über 200 wohlrecherchierte Programmbeschwerden eingebracht. Für ihr Buch haben sie 27 Beispiele ausgewählt, in denen sie beunruhigende Fehlstellen und Mängel feststellen. Insbesondere bei der Kriegsberichterstattung über Libyen, Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Syrien und den Jemen, bei der staatsnahen Darstellung der Rolle der USA und der Nato, bei der Parteinahme für die Ukraine und gegen Russland, bei der Schilderung von Vorgängen in der Türkei oder Brasilien. Auch Beiträge über Terrorismus, über Flüchtende oder soziale Brennpunkte im Lande werden unter die Lupe genommen.
Ihr Fazit: Die Pflicht zu objektiver Berichterstattung wird bei der Tagesschau immer wieder dahingehend missverstanden, das für objektiv zu halten, was die Regierung sagt. Dazu dient eine politisch motivierte Sprachregulierung, das Wording. Dieser Logik folgen auch die meist in Privatbesitz befindlichen Nachrichtenagenturen. Mehr als 80 Prozent der Tagesschau-Informationen stammen aus gekauftem Agenturmaterial. Das sind die marktführenden westlichen Agenturen, gemieden werden dagegen die großen indischen, chinesischen, lateinamerikanischen, gar afrikanischen Agenturen, von arabischen oder russischen ganz zu schweigen. Wer sich zu weit von der eigenen Darstellung entfernt, betreibt Propaganda. Diese Haltung prägt zwangsläufig Feindbilder.
Wie also reagiert ein Sender auf 200 Programmbeschwerden? Dass diese fast im Wochentakt eingingen und mitunter arg polemisch formuliert waren, wird die Adressaten vermutlich genervt haben. Denn Eingaben müssen innerhalb eines Monats vom Intendanten beantwortet werden. Dennoch wäre das eine oder andere Zugeständnis zu erwarten gewesen. Etwa derart, dass eine als fehlend gerügte Meldung zur Ermessensfrage erhoben und mit der Gegenfrage entkräftet worden wäre, welche andere Meldung an diesem Tag denn nach Meinung der Kollegen verzichtbar gewesen wäre. Doch offensichtlich war es nicht die Absicht des Senders, sich auf ein Gespräch einzulassen, es kamen nur Floskeln, nicht vom Intendanten, sondern vom Chefredakteur, also dem Macher der Sendung: „Mit Interesse gelesen“ … „an Redaktion weitergegeben“… „aus Zeitgründen nicht auf alle Mails eingegangen“. 200 Mal Abwiegeln. Ist der Beschwerdeführer mit der Antwort nicht zufrieden und begründet das schriftlich, muss der Rundfunkrat innerhalb von vier Monaten entscheiden, ob ein Verstoß gegen die staatsvertraglichen Programmrichtlinien vorliegt. Inhaltlich begründen muss der Rundfunkrat seine Entscheidung nicht. Diese ist dennoch endgültig, eine höhere Instanz, etwa ein Gericht, muss sich damit nicht befassen. Eine Unterlassungsklage ist nicht möglich. Die nicht demokratisch gewählten, sondern durch intransparente Beziehungen berufenen Vertreter der politischen Klasse im Rundfunkrat haben „nach intensiver Diskussion und ausführlicher Prüfung des Sachverhaltes“ ausnahmslos keinen Verstoß gegen die Grundsätze der Programmgestaltung gemäß Staatsvertrag feststellen können. Die auf den ersten Blick als demokratisches Angebot erscheinende Mitwirkungsmöglichkeit der Zuschauer erweist sich somit als Farce. Die Autoren sprechen von dreistem Anspruch auf Unfehlbarkeit, aber es ist möglicherweise noch schlimmer: Die Programm-Redakteure würden sicher auch lieber über brisante Hintergründe berichten, als die ewig gleichen Klischees zu wiederholen. Doch nur wenn sie – vielleicht sogar unbewusst – eben diese Klischees bedienen, können sie mit Anerkennung rechnen. Ja, man gewinnt den Eindruck, als horchten sie fast nur auf das Echolot der sie fördernden Hierarchien – darüberhinaus gehören interessierte Zuschauer und Leser gar nicht zur Zielgruppe.
Wie gefährlich dies sein kann, zeigt das Beispiel der Flüchtlingskrise. So beauftragte die der IG-Metall nahestehende Otto-Brenner-Stiftung Medienwissenschaftler, die Berichterstattung zu diesem Thema zu untersuchen. Nach der Analyse von 35 000 Berichten aus „Süddeutscher Zeitung“, „Frankfurter Allgemeinen“, „Welt“ sowie der Tagesschau, News-Websites wie tagesschau.de oder spiegel.de und auch von Lokalzeitungen kamen sie zu dem Schluss, dass die Medien ihrer demokratischen Funktion nicht gerecht wurden. Die Hauptakteure des Geschehens, nämlich Flüchtende, Helfer und freiwillige Unterstützer, kamen nur in 7,5 Prozent der Beiträge zu Wort. Genau zehn Mal häufiger konnte man dagegen (wieder einmal) den Politikern und ihren Behörden zuhören. Die Medien spiegelten die Politik, statt sich als neutral hinterfragende Instanz zu verhalten. Und die Politik, einig wie nie als ganz große Koalition einschließlich Linken und Grünen, verteidigte ihre Willkommenskultur – was ja durchaus sympathisch war. Da aber Bedenken und Ängste der Bürger medial kaum wahrgenommen wurden, förderte man indirekt andere Antwortgeber: Pegida, AfD, NPD. Die Stimmung kippte über die Silvester-Nacht 2015/16 in Köln in den Medien fast ins Hysterische, nachdem plötzlich viele Politiker auf Distanz gingen. Was einmal mehr zeigte, dass der weitgehend affirmative Nachrichtenjournalismus Mitte und Maß verloren hat. Oder sein vorherrschendes Maß Opportunismus ist. Wenn aber abweichende Positionen entweder nicht mehr gehört oder aus Angst, ausgegrenzt zu werden, gar nicht mehr geäußert werden, führt dies, so das Ergebnis der Brenner-Studie wie auch der „Macht um acht“, unweigerlich in eine Schweigespirale. Was nicht ins amtliche Bild passt, wird unterdrückt.
Wie aber reagieren die Bürgerinnen und Bürger darauf? Sie resignieren oder wandern ab und finden im Netz andere Öffentlichkeiten. Dort findet man Aufklärerisches neben abgeklärter Hetze. Dass medial manipulierte, entpolitisierte Menschen leichter zu bevormunden sind, könnte sich insofern noch als ein folgenschwerer Irrtum der herrschenden Eliten erweisen.
Volker Bräutigam, Friedhelm Klinkhammer und Uli Gellermann, Die Macht um acht – der Faktor Tagesschau. PapyRossa Verlag, Bonn 2017, 173 Seiten, 13,90 Euro.