Gesinnungshatz gefährdet Soziale Bewegungen – zur Auseinandersetzung um Diether Dehm

Daniela Dahn

erschienen in Neues Deutschland – 22.12.2017

In der Debatte über Antisemitismus in Deutschland müssen journalistische Standards verteidigt werden. Eine Wortmeldung zur Auseinandersetzung um den LINKE-Politiker Diether Dehm

Ja, Antisemitismus ist eine deutsche Tradition. Die es mit der Shoa zu schauerlicher, deutscher Perfektion gebracht hat. Was schließlich die UNO zur Gründung des Staates Israel bewogen hat, auf einem Territorium, auf dem Palästinenser leben. Die von Mehrheiten getragene Hitlerei hat letztlich den ganzen Nahost-Konflikt befeuert, weshalb Zurückhaltung und Sensibilität für beide Seiten geboten wäre.

Doch Zurückhaltung wird hierzulande nur in einem verordnet: an der Kritik der israelischen Regierung. Und nicht nur hier, die schärfsten Angriffe erfahren die Kritiker aus der israelischen Linken, der Streit über Ursachen und Lösungen des Konfliktes geht quer durch das Judentum. Wem Antisemitismus schwerlich unterstellt werden kann, der pflegt eben seinen Selbsthass. Die Erfüllung des aus tiefstem Herzen kommenden Wunsches nach friedlichen Zusammenleben mit den Palästinensern würde ein Ende von Siedlung und Besatzung bedeuten, eine einvernehmliche Nutzung von Wasser und Land. Nicht ungestraft sagen zu dürfen, dass dies mit der jetzigen Regierung nichts wird, schwächt nicht nur die israelische Linke.

Die Schuldzuweisungen haben etwas von Teufelsaustreibung – wer am unnachgiebigsten austreibt, dessen Seele kann gerettet werden. Schließlich war der Antijudaismus vor allem eine christliche Tradition. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und darüber hinaus gebietet, gegenüber dem Antisemitismus konsequent und unduldsam zu sein. Wenn aber ebenfalls zunehmend unliebsame Oppositionelle in der Presse mit dieser existenzgefährdenden Schmähung abgeurteilt werden, ohne dass Beweise noch nötig sind, so müssen journalistische Standards verteidigt werden. Der mir bisher durch differenzierte Argumentation aufgefallene Jurist Christian Bommarius glaubt mit Hilfe eines einzigen, aus dem Kontext und der Entstehungssituation gerissenen und deshalb missverständlichen Satzes, den LINKEN-Politiker Diether Dehm des Antisemitismus überführt zu haben. Da dieses Beispiel den Verfall der Diskurskultur trefflich veranschaulicht, lohnt es, sich die Hintergründe näher anzusehen.

Bei einem derart schweren Vorwurf gehört es zur journalistischen Sorgfaltspflicht, Argumente nicht aus ein paar isolierten Wortfetzen herzuleiten, sondern die Gesamtpersönlichkeit im Auge zu haben. Es gilt die zum Handwerk gehörende Grundregel, beide Seiten anzuhören, insbesondere den Delinquenten vor der Hinrichtung. Schon ein Telefonat hätte genügt um zu verstehen, was und wer Dehm geprägt hat. Nämlich der zur Familie gehörenden Heinz Düx, der die Auschwitzermittlungen für Fritz Bauer geleitet hat. Seit dem 15. Lebensjahr war Dehm darum in der VVN aktiv, wurde von NPD-Schlägern krankenhausreif geprügelt, arbeitete u.a. mit Ignaz Bubis im »Römerbergbündnis« und war 1979 Mitbegründer von »Rock gegen Rechts«.

Humanistischen Ideale fanden ihren Ausdruck in seinen zahllosen, populär gewordenen Liedern. Bis heute versäumt Dehm keine Gelegenheit die Sängerin Esther Bejarano neben sich auf die Bühne zu holen – eine der letzten Überlebenden des KZ Auschwitz, die mit ihrer Kunst das Gedächtnis an die Ermordeten in berührender Weise wachhält. Sicher wäre es der Recherche zu viel verlangt, man hätte, um sich ein Urteil zu bilden, auch noch Dehms dicken Partisanen-Roman »Bella ciao« zur Kenntnis nehmen sollen – eine Geschichte von Liebe und Widerstand im Kampf gegen Hitler und Mussolini. Aber alle Bundestagsreden des langjährigen Europa-politischen Sprechers der Linksfraktion sind im Netz abrufbar. Auch die, in der sich der Abgeordnete im vorigen Jahr bei der griechischen Regierung im Namen seines Vaters für die Verbrechen der Wehrmacht entschuldigt hat und für manche rassistische Entgleisung in Teilen der hiesigen Presse.

Rechte Tendenzen dieses Politikers zu entdecken, war dem Parlament und der Öffentlichkeit bisher entgangen, aber der Jurist Bommarius hat sie nun dingfest gemacht. Vor Gericht werden die Umstände einer Tat berücksichtigt und es hätte zur journalistischen Fairness gehört einzuräumen, dass es sich bei diesem einen, inkriminierte Satz nicht um eine wohlüberlegte Passage etwa aus Dehms Dissertation handelt, sondern um eine spontane Reaktion in einer hochemotionalen Szene auf einer Bühne.

Was war geschehen? Ostermarsch 2009 in Kassel, der damals 74-jährige Schauspieler Rolf Becker beklagt vor ein paar hundert Demonstranten, dass die Friedensbewegung zu schwach war, die Kriege der letzten 10 Jahre zu verhindern. Er zitiert ein Antikriegsgedicht von Neruda und beschreibt die aus eigner Anschauung erlebten katastrophalen Folgen des Angriffskrieges der NATO in Jugoslawien und die Verwüstungen der seit Jahren anhaltenden Kriege in Afghanistan und im Irak. Viel Beifall. Schließlich schildert er seine Ratlosigkeit, wie dem Gaza-Krieg zu begegnen sei, angesichts jeglicher Gleichsetzung der Kritik der israelischen Regierung mit Antisemitismus. Er zitiert UN-Angaben über Opferzahlen auf beiden Seiten – mehr als das Hundertfache in Gaza – fordert, die laufenden Waffenlieferungen an Israel einzustellen.

Da lösen sich aus der Menge zwei Dutzend Gestalten, die US- und Israel-Flaggen hochreißen und im Sprechchor brüllen: Nazi, Nazi, Antisemit. Als Rolf Becker von Tränen am Weiterreden gehindert ist, springt Diether Dehm ihm zur Seite und versucht die Krakeeler zu belehren: »Der Antisemitismus wurde das, was er wirklich ist: Eine massenmordenden Bestie. Und deswegen dürfen wir nicht zulassen, dass man den Begriff des Antisemitismus für alles und jeden inflationiert.« Da der Tumult nicht aufhört, folgt aufgeregt der verkürzte Satz, der nun ein ganzes Lebensengagement in Frage stellen soll: »Antisemitismus ist Massenmord und muss dem Massenmord vorbehalten bleiben.« Womit in der konkreten Situation gemeint war, dieser schwerwiegende Vorwurf darf nicht auf die Forderung nach dem Stopp von Waffenlieferungen angewendet werden.

Doch mit absichtsvoller Mißinterpretation unterstellt Bommarius, Dehm würde erst aufwachen, wenn die Gasöfen angeworfen werden. In allem was davor passiere, etwa der womöglich erneute Zwang, einen Judenstern zu tragen, könne Dehm, offenbar unempfindsam für jüdisches Leid, keinen Antisemitismus erkennen, »selbst Konzentrationslager erregten in ihm keinen einschlägigen Verdacht«. Bis dahin laufe der Antisemitismus bei Dehm unter legitime »Israelkritik«.

Statt in dieses zynische Denunziantentum zu verfallen, hätte sich der Kommentator das Ostermarschvideo auf Youtube ansehen sollen, das keinen Zweifel an der Lauterkeit der dort agierenden Friedensaktivisten lässt. Gleich nach seinem Statement erklärt und singt Dehm die »Ballade von der ´Judenhure´ Marie Sanders« – Brechts Reaktion auf die Nürnberger Rassegesetzgebung.

Warum dieser verquere Dehm die Mächtigen tatsächlich seit Jahren nervt, wird gern verschwiegen. Weil er das organisierte Verbrechen der Banken thematisiert, insbesondere der Deutschen Bank, die, wie er nicht nachlässt zu erinnern, mit ihren Kreditverträgen das KZ Auschwitz finanziert hat. Gegen Banken, die den Steuerschutz von Milliardären organisieren, will er mit einer Volksinitiative zur Vermögenssteuer vorgehen. Banken anzugreifen gilt in unserer neurotisierten Öffentlichkeit schon als Code für Antisemitismus, was nur nachvollziehen kann, wer selbst trübste Vorurteile pflegt.

Diese ganze Gesinnungshatz ist zu einem existentiellen Problem für Soziale Bewegungen geworden. Die doch nach Bekundungen von Opposition und selbst Regierung ein unverzichtbar belebendes Korrektiv in der Demokratie sind. Aber wer traut sich überhaupt noch hinaus auf die Straße und auf die Rednerbühnen, wenn er befürchten muss, im Zeichen der political correctness anschließend öffentlich zerhackstückt zu werden? Solche Veranstaltungen sind nun mal kein akademisches Pro-seminar, auch wenn sie von den Besserwissern am Schreibtisch so beäugt werden. Da nimmt teil, wer will und sagt was er für richtig hält. Basisdemokratisch. Da muss man aushalten nicht zu wissen, was der nächste Redner genau sagen wird.

Was machen Zehntausend junge Friedensdemonstranten, wenn ein halbes Dutzend von ihnen nationalistische Töne anschlägt? Die Parteien legen ihnen nahe, nach Hause zu gehen und hinterm Ofen zu bleiben, andernfalls machten sie sich der »Querfront« schuldig. Werden da die Bühnen für Pegida und AfD geräumt? Offene Veranstaltungen sind gegen gelegentlich verwerflich Redende nicht zu schützen. Der Unsinn kann von ausnahmslos allen Seiten kommen, manchmal sogar von jüdischer. Was machen linke Veranstalter einer Kundgebung für Meinungsfreiheit, wenn unangemeldet eine Jüdin auf die Bühne will, wie am 14. Dezember Evelyn Hecht-Galinski in Berlin, und – oh Schreck – dort das Verbrennen israelischer Flaggen befürwortet? Der Vorredner hatte es eben noch verurteilt – was bleibt, als sich begründet und ruhig zu distanzieren und gelassen weiter zu machen?

Wo beginnt Toleranz und wo endet Meinungsfreiheit? Ein Lernprozess, den wir im durchaus faktischen Zeitalter alle nötig haben. Wer eine politisch septische Protestbewegung fordert, schafft den Protest ganz ab. Es geht nicht um die Verteidigung falscher Bündnisse, sondern ganz im Gegenteil um das Austragen von Differenzen auf offener Bühne. Das wird nur gelingen, wenn die Inhaber von Amts- und Deutungshoheit ihre Macht nicht missbrauchen, um Einzelne öffentlich auszupeitschen und damit alle einzuschüchtern.

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