Zum Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes hätte es Alternativen gegeben
erschienen in: neues deutschland 23. Mai 2019
»Artikel 23 – Kein Anschluss unter dieser Nummer! – unter diesem Motto demonstrierten Anfang 1990 nicht nur Anhänger der SED-Nachfolgerin PDS, sondern auch Bürgerrechtler gegen einen bloßen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Sie selbst waren Gründungsmitglied der Oppositionsgruppe »Demokratischer Aufbruch«, hatten sich zu der Zeit aber schon aus ihr zurückgezogen. Wie haben Sie damals die Vereinigungsdebatte erlebt?
Der »Demokratische Aufbruch« hat sich in seiner Anfangsphase noch gegen die Unterstellung verwahrt, er wolle »die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurück reformieren«. Aber im Laufe des Herbstes 1989 hat er sich nach erheblichem Mitgliederzuwachs aus Sachsen und Thüringen immer mehr der dominanten CDU-Linie angeschlossen. Die Positionen purzelten durcheinander, die Bündnisse sortierten sich neu. In der »Allianz für Deutschland« vertrat der DA nun oft gegensätzliche Positionen wie Bündnis 90, also der Zusammenschluss von Demokratie Jetzt, Neues Forum und Initiative für Frieden und Menschenrechte.
Zum Beispiel?
Uns allen, die wir gegen den Weg des Anschlusses waren, war klar, dass es dabei nicht um eine Formfrage geht. Wer etwas Fertigem beitritt, akzeptiert dessen gesamten Status quo. Da war dann kein Platz mehr für Mitgestaltung oder gar Veränderungswünsche. Wurden die vereinzelt doch noch formuliert, hat etwa der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble wiederholt und zurecht darauf hingewiesen, es habe sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gehandelt und nicht um die umgekehrte Veranstaltung.
Die damals diskutierte Alternative war ein Zusammengehen nach dem heute noch geltenden Artikel 146, dem zufolge das Grundgesetz »nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands« durch eine vom Volk beschlossene neue Verfassung ersetzt werden soll. Wäre das sinnvoll und praktikabel gewesen?
Sinnvoll auf jeden Fall. Ob etwas praktikabel ist, ist eine Frage von Mehrheiten. Aber der Wunsch nach einer neuen, gemeinsamen Verfassung und damit nach einem gemeinsamen Neuanfang kam ja nicht nur von ein paar versponnenen Bürgerrechtlern im Osten und versprengten Intellektuellen im Westen. Sicher, im Februar 1990 haben Günter Grass und Rudolf Augstein noch darüber gestritten, ob nicht vorerst zwei konföderierte Staaten angemessener wären. Und Grass fand es unsäglich, wie damals über Intellektuelle in beiden Staaten hergezogen wurde, die sich erlaubten, über eine dritte Möglichkeit nachzudenken.
Über ein Zusammengehen mit neuer, gemeinsamer Verfassung dachte anfangs sogar Kanzler Helmut Kohl noch öffentlich nach …
Ja, Mitte Februar 1990 erklärte Kohl nach einer Moskau-Reise im ZDF: »Wir werden eine neue Verfassung zu schaffen haben.« Er sei dafür zu übernehmen, was sich in der DDR bewährt habe. Und er betonte, er sei »ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht«. Zwei Wochen später erhob derselbe Kanzler dann Artikel 23 zum Königsweg seiner Regierung.
Dass die Einheit nach Artikel 23 vollzogen werden würde, war dann mit dem Ergebnis der Volkskammerwahl am 18. März 1990 klar: 41 Prozent für die CDU-geführte »Allianz für Deutschland« …
Es ging damals eben nicht nur rational und pragmatisch zu. Vieles war jenseits praktischer Vernunft. Ich saß Ende 1989/Anfang 1990 in zwei Arbeitsgruppen. Die eine vom Schriftstellerverband entwarf ein neues Pressegesetz, das innerredaktionelle Mitbestimmung gewährleisten sollte. Die andere von der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR kümmerte sich nach den gewaltsamen Vorkommnissen im Oktober 1989 um ein bürgernahes Polizeigesetz, wie es auch heute noch ein Fortschritt wäre. Dass das alles völlig illusionär war, haben wir nicht erwartet. Die Rolle von Fake News und der Medien als Stimmungsmacher ist auch noch nicht untersucht.
Auf einer Tagung Anfang April in Dresden wurde festgestellt, dass man mit Blick auf die Vorgänge der letzten 30 Jahre durchaus von Kolonisierung des Ostens sprechen könne. Zugleich hat dort der Soziologe Raj Kollmorgen darauf verwiesen, dass die Ostdeutschen den Anschluss im März 1990 gewählt haben und damit auch »unaus- weichlich« den kompletten »Transfer von Institutionen und Akteuren«. Würden Sie dem zustimmen?
Die Ostdeutschen haben eine baldige Einheit auch angesichts der Bankrottgerüchte gewählt, die aus politischen Gründen verbreitet wurden. Da gab es zum Beispiel den sagenumwobenen Schürer-Bericht, der die DDR-Auslandsschulden aufgelistet hat, aber die Guthaben, die fast die Hälfte davon abdeckten, aus taktischen Gründen wegließ. So war es damals für alle schwer, sich ein realistisches Bild zu machen. Die Deutsche Bank stellte später fest, dass die Darstellungen der desolaten wirtschaftlichen Lage der DDR teilweise heftig überzogen waren. Ich glaube dennoch nicht, dass die Ostdeutschen mit ihrer Wahl die Vorstellung verbunden haben, dass gar nichts aus ihrer Praxis übernommen wird. Artikel 23 hätte das nicht verboten.
Wie auch immer, letztlich wollte der Westen die deutsche »Einheit und Freiheit« nach seinen Vorgaben. Hätte es dazu noch eine Alternative gegeben?
Politik ist ja kein Naturgesetz, es gibt immer Alternativen. Gegen den Beitritt nach Artikel 23 stimmten in der Volkskammer geschlossen die PDS-Fraktion, die Mehrheit von Bündnis 90 und zwei SPD-Abgeordnete. Die SPD in Ost und West war eigentlich dagegen, stimmte aber nach den Wahlen dafür, um Einfluss auf weitere Verhandlungen nehmen zu können.
Wie stellte man sich eine solche Einflussnahme denn vor?
Ihre Idee des »gestreckten« Beitritts war gar nicht schlecht. Nämlich erst Beitritt nach Artikel 23 und gleich im Anschluss eine öffentliche Verfassungsdebatte, wie sie in Artikel 146 vorgesehen ist. Es ist kaum noch im öffentlichen Bewusstsein, dass sich nach dem Beitritt als erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative ein Kuratorium mit vielen Prominenten aus Ost und West bildete. Es machte auf der Grundlage des von der Volkskammer nicht mehr behandelten Verfassungsentwurfs des Runden Tisches, der eine Modernisierung des Grundgesetzes war, ein überarbeitetes Angebot. Daran beteiligten sich auch Bürger mit 800 000 Vorschlägen. Der Entwurf berücksichtigte vieles, woran die Gesellschaft heute krankt: eine Konkretisierung des Sozialstaatsgebotes, das Recht auf kostenlose Bildung, auf eine angemessene Wohnung und Arbeit, Kinderrechte und mehr Teilhabe von Frauen. Außerdem ein digitales Kommunikationsgeheimnis und vor allem strikte ökologische Vorgaben. Die weitgehende Ohnmacht des Parlaments gegenüber der Regierung wurde als Gefahr für die Demokratie erkannt, sie sollte mit der neuen Verfassung reduziert werden. Dazu gehörte, auch Gesetzgebung durch die Bürger vorzusehen.
Woran scheiterte diese Chance?
Verfassungsfragen sind natürlich Machtfragen. CDU und CSU hatten keinerlei Interesse an einer Veränderung des Status quo. Die bis heute mögliche Option des Artikels 146 lehnen sie rigoros ab.
Mittlerweile wird die Fusion 1990 breit kritisiert. Viele Politiker, insbesondere der SPD, haben die fehlende Repräsentanz der Ostdeutschen in Verwaltung, Politik und Wirtschaft als Gefahr für die Demokratie erkannt. Sind Sie optimistisch, dass nun doch noch zusammenwächst, »was zusammengehört«, wie es Willy Brandt Ende 1989 schon erwartete?
Das Zitat von Brandt wird immer verkürzt. Er hat im Bundestag gesagt, dass die wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben zu leisten seien, während die Überwindung kultureller und seelischer Barrieren schwieriger sei. »Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammen gehört.« Die Narben sind da und lassen sich durch nachholenden Respekt nun nicht mehr retuschieren. Jedenfalls nicht bei denen, die all die Taktlosigkeiten erlebt haben und bis heute erleben, was auch vielen Jüngeren nicht entgangen ist.
Es wäre ja auch die Frage, ob das Zusammenwachsen angesichts der starken Rechtsentwicklung überhaupt erstrebenswert ist …
Ja, leider funktioniert die Einheit da am besten, wo wir es am wenigsten brauchen. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass der Bruch durch die Gesellschaft heute längst nicht nur, und oft nicht am stärksten, zwischen Ost und West verläuft. Soziale, politische und mentale Verwerfungen gehen quer durch. Und wo gemeinsame Interessen und Überzeugungen vorliegen, funktionieren Ost-West-Projekte andererseits recht gut. Die Linke hat es ja auch einigermaßen geschafft.
Im Zuge der aktuellen Debatte um Enteignungen hat mancher offen- bar erschrocken festgestellt, dass das Grundgesetz auch alle möglichen Formen von Sozialismus ermöglicht. FDP-Leute fordern deshalb zum Beispiel die Streichung des »Enteignungsartikels« 15. Und der Ökonom Gabriel Felbermayr will die »Soziale Marktwirtschaft« als Gesellschaftsform im Grundgesetz festschreiben, weil sie sowohl »den reinen Markt« als auch den Sozialismus ausschließe. Wie bewerten Sie solche Vorschläge?
Die Verfasser des Grundgesetzes hatten nach Krieg und NS-Zeit gute Gründe, keine Wirtschaftsordnung festzuschreiben. Die Ökonomie sollte für neue Entwicklungen und Erkenntnisse offenbleiben. Vertreter des Club of Rome halten angesichts heutiger Herausforderungen die derzeitige Marktlenkung für veraltet. Der Begriff »Soziale Marktwirtschaft« ist viel zu unklar definiert, als dass er Verfassungsrang verdienen würde.
Wir haben in den letzten 30 Jahren erlebt, wie schwach soziale Besitzstände gegenüber dem Eigentumsfundamentalismus juristisch gesichert sind. Die Gesetze sind so beschaffen, dass es jeder Art von Marktwirtschaft legal möglich ist, in reinen Marktfundamentalismus zurückzufallen. Da nutzen keine beschönigenden Umschreibungen. Wer dagegen die Möglichkeit von Sozialisierung streichen will, der will eben die Orientierung am Profit und nicht die am Allgemeinwohl festschreiben. Da kann es zum Konflikt mit der Ewigkeitsgarantie des Sozialstaatsgebotes kommen.
Das Grundgesetz ist im Detail sicher modernisierungsbedürftig, wie zum Beispiel beim Schutz von Whisteblowern. Aus ihm spricht aber im Kern eine historische Weisheit, hinter die man nicht zurückfallen sollte.