Menschenbilder auf der renzk . di -To h
Ein Buch der Ost-Berlinerin Daniela Dahn — Geschichte und viele Geschichten eines „städtischen Bergvolks”
„Der Weg des Lebens gehet überwärts. Da niemand weiß, wo überwärts rauskommt, ist diese Prophezeiung als Grabinschrift brauch-bar.” Dies aus dem Buchende herausgegriffen. Und an dessen Anfang dies:
„Auf den Hügeln, rund um die Zentren großer Städte, stößt man merkwürdigerweise oft auf so eine Art städtisches Bergvolk. Jedenfalls ist in Berlin diese Population auffallend in der Gegend des Prenzlauer Bergs und des Kreuzbergs… Überall dort Arbeiter, aber auch Studenten, Künstler, Linksintellektuelle — loses Volk…”
Zwischen beiden Zitaten liegt „Kunst und Kohle” oder die „Prenzlauer Berg-Tour”, das eine der Titel der Lizenzausgabe der Luchterhand-Sammlung, das andere der Originaltitel von Daniela Dahns Buch (Mitteldeutscher Verlag, DDR, 1987).
Da denkste, das kennste, aber — denkste! Hier schreibt, erzählt, gräbt bis zum Grundwasser des Prenzlauer Bergs, nein: noch tiefer ‚und allemal verblüffend fündig werdend eine Journalistin, nein, mehr: eine Erzählerin, deren journalistische Neugier sie anfeuert und Literatur schafft.
Die — nachgerechnet an Hand sehr knapper Klappentextangaben zur Autorin — 39 Jahre alte Daniela Dahn war Journalistin beim DDR-Fernsehen. Jetzt ist sie freiberufliche Autorin. Berlinerin. Vom Prenzlauer Bergvolk? Elite mehr Auskünfte über jene Bergführerin, die einem den Schlaf nimmt, die Nacht stiehlt,im Bette nicht zur Ruhe kommen läßt, bis man zur letzten Seite gekommen ist. Ich vermisse ein Abbild
Sie bringt das so seltene Kunststück fertig, vom friderizianischen Mühlenhügel hinab in den Mietshauskeller der Schönhauser Allee 73 zu locken, immer an der Müller-Genealogie der Prillwitzens entlang, bis zu einem noch immer im Keller liegenden Mühlstein aus fritzischer Zeit. Diesem Stein wurde die Neuzeit gebäudlich übergestülpt. Wir erleben beim Lesen alte und neue Lebensbilder eines erstaunlich bodenständigen „Bergvolks”.
Daniela Dahn schreibt zudem kernberlinisch ohne Anbiederei. Sie läßt alte Leute erzählen, findet tatsächlich steinalte Menschen, die als ausgemergelte Prenzlauer Berg-Kinder vom Armenarzt“ Dr. Kollwitz betreut worden waren. Wir lesen in unveröffentlichten Tagebuchnotizen von Käthe Kollwitz, zur Einsicht gegeben vom Enkel.
Gerät ein alter Mensch in die erinnernde Versenkung, liest sich das bei Daniela Dahn dann so: „Endlich taucht sie wieder auf, und, wie ihre blitzenden Augen vermuten lassen, nicht ohne Beute.”
Sie läßt Menschliches, auch wenn es nicht mit dem angestrebten Menschenbild des sozialistischen Staates in Einklang ist, nicht aus, beschreibt eine Gerichtsverhandlung um einen Spieler, einen Bruder Leichtfuß, der in seiner Prenzlauer Clique „Putze” heißt. War der so etwas wie der „Chef” der Zocker? Als das
erörtert wurde, „erhält der Zeuge einen leichten Fußtritt. Das Hohe Gericht kann das nicht sehen, aber der Polizist mit den Handschellen unterm Stuhl hat’s gesehen und auch, daß einige aus dem Publikum bemerkt haben, daß er es gesehen hat. Aber er verharrt, verlegen reglos.”
Nach Nachtbummel zum Pfarrer
Mit Daniela durch die Nachtwelt der Schönhauser mit Menschen, Menschen, Menschen! Und morgens dann, müde, beim Pfarrer von Gethsemane, Abrundung dessen, was so oder ähnlich auch schon an allzu Menschlichem bei einer Barfrau abgeladen wurde.
Ein „Prenzel“-Punker — Kapitel: „Prenzlauer Berg-Predigt” — gibt seine Lebensphilosophie zum Besten. Ein Kind, das sich von seinen Eltern „abgeseilt” hat, von „totalen Spießern, Genossen in vertrauensvoller Stellung, mit Villa und allem Komfort”. Die Autorin kann zuhören. Ihn duzt sie.
In einem anderen Kapitel, Gespräch mit einem Bauhandwerker; findet sich als beiläufige Bemerkung dies: „Ginge es allein nach Sympathie, würde ich das mehrfach unterlaufene Duzen gern aufnehmen, aber aus Scheu vor einer mir nicht zustehenden Kumpanei neige ich doch zum respektvolleren ,Sie”. So einer wird so ein „Bergvolk:” vertrauen: Distanz und liebevolles Einfühlen. Daraus wurde ein sehr schönes Buch, ein aus allen Rahmen fallendes Berlin-Buch.
Ekkehard Schwerk