Irmtraud Gutschke: Der Sieger siegt nicht. ND 2.6.09
Nicht nur, dass wir uns früher überwachen ließen, sollen wir Ossis auch daran noch Schuld sein, dass die Wirtschaft heute jeder Kontrolle entglitten ist? Dass die Reichen immer reicher wurden, so dass sie sich wie in einem Casino wähnten, wo sie das Gemeinwohl verzocken? Das Buch von Daniela Dahn lesend, lässt mich der Gedanke nicht los, dass es auch bei unsereinem eine Verantwortung dafür gibt. Wir haben zugelassen oder daran mitgewirkt, dass eine Menschheitshoffnung erst einmal begraben ist und es so aussieht, als gäbe es zum Raubtierkapitalismus keine Alternative mehr. Wir haben gedacht, dass manches verändert werden müsse in der DDR und das irgendwann gelingen würde mit neuem Personal an der Führungsspitze. Auf Glasnost und Perestroika haben wir gehofft und erlebt, dass es anders kam. »Wer die Produktivkräfte behindert, hat abzutreten – so die eigene Lehre, die schließlich auch einsichtig befolgt wurde«, heißt es bei Daniela Dahn.
Wie sie in ihrem Buch formuliert, das trifft, das lässt einen tief Luft holen, das bläst einem den Kopf frei. Die Erkenntnis, dass das östliche System – selbst als Pseudosozialismus – ein Widerpart und Konkurrent für das westliche war, ist ja nicht neu. Dass BRD-Gewerkschafter meinten, bei Tarifverhandlungen habe die DDR mit am Tisch gesessen, ist ein geflügeltes Wort. Aber wie konkret der Wettlauf um die bessere Sozialpolitik stattfand – bei dem der Osten schließlich unterlag –, das habe ich noch nie so detailliert dargestellt gefunden wie in diesem Buch. Es ist eine Streitschrift, die auch als solche aufgenommen werden wird. Aber vor allem ist es eine Zusammenstellung von Fakten – von Gekanntem, Vergessenem, auch von Noch-Nicht-Gewusstem. Man ahnt, wie aufwendig die Recherche gewesen sein muss.
Die Autorin: eine Wissende, aber immer wieder auch eine Fragende und Zweifelnde. Daniela Dahn, geboren 1949, arbeitete beim Fernsehen der DDR und kündigte dort 1981, was ein ziemlich ungewöhnlicher Vorgang war. 1989 wurde sie zur Mitbegründerin der Bewegung »Demokratischer Aufbruch«. Früher kritisch, heute kritisch. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass eine bestimmte Persönlichkeitskonstellation unter unterschiedlichen Verhältnissen zu ähnlichen Verhaltensweisen führt. Rächt sich also im heutigen Stillehalten der Mehrheiten im Osten auch der Mangel an Opposition in der DDR? Andererseits: In welcher Versenkung sind die aufmüpfigen 68er denn in der BRD verschwunden? Warum ist, obwohl es eine gemeinsame Partei gibt, die Verständigung zwischen Ost- und West-Linken schwieriger als zugegeben? Natürlich hat auch das mit dem Untergang der DDR zu tun. Von Verlierern braucht man sich keine Ratschläge zu holen. Zwar halten wir uns zugute, die Erfahrung eines Systemwechsels schon einmal gemacht zu haben, aber die wird uns für die Zukunft nicht viel nützen. Und außerdem, wenn wir ehrlich sind, waren wir doch ziemlich lange historisch blind.
Trotzdem: Das Scheitern der Ost-West-Kommunikation ist zumindest eine der Ursachen, warum von deutscher Einheit auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall nicht die Rede sein kann. Der wichtigste Grund aber ist: wie sich das kapitalistische System demaskierte. Es war allein schon ökonomisch nicht in der Lage, sich als soziale Marktwirtschaft nach Osten auszudehnen, und es fehlte auch der Wille, noch soziale Rücksichten zu nehmen.
»Weshalb hat das vom Westen jahrzehntelang erstrebte Absterben der Diktaturen von Politbürokratien nicht wie erhofft zu einem anhaltenden Aufblühen der Demokratie geführt? Warum wird, wo die östliche Unfreiheit besiegt ist, die eigene Freiheit abgebaut? Weshalb hat der sang- und klanglose Abgang des hochgerüsteten Militärbündnisses Warschauer Pakt, einst Hauptfeind der NATO, uns nicht eine traumhafte Friedensordnung beschert?« Solche Fragen stellt sich Daniela Dahn – wirklich und nicht nur rhetorisch. Sie analysiert, denkt nach, gräbt nach Tatsachen, studiert gesellschaftspolitische Analysen, spricht mit vielen Leuten – vom Politiker bis zum Arbeitslosen – fügt solche persönlichen Geschichten auch in das Buch ein. Dabei macht sie sich immer auch selber kenntlich als jemand, der sich nicht für dumm verkaufen lassen will.
Sie zitiert Brecht: »Es ist der älteste Trick der Bourgeoisie, den Wähler frei seine Unfreiheit wählen zu lassen, indem man ihm das Wissen um seine Lage vorenthält. Das, was jemand braucht, um seinen Weg wählen zu können, ist Wissen. Was kommt dabei heraus, wenn man einen Mann, der weder Notenlesen noch Klavierspielen lernen durfte, vor ein Klavier stellt und ihm die freie Wahl über die Tasten lässt?« Auch wer meint, ziemlich informiert zu sein: Jedem Leser des Buches sei eine Denkübung vorausgesagt, die ihn weiterbringt.
Hier und da wird man merken, wie groß das Ansteckungspotenzial herrschender Meinungen ist, was man schon vergaß oder verdrängte bezüglich konkreter DDRWirklichkeit, wie man sich auch bezüglich heutiger Verhältnisse mitunter zu bequemen Deutungen verleiten ließ. Und obwohl Daniela Dahn gar nicht zur Selbstauseinandersetzung auffordert, habe ich mich gefragt: Sehe ich die Dinge vielleicht nicht nüchtern genug, habe ich doch noch Illusionen? Die Vorstellung, die Bourgeoisie selbst möge ihre Krise bewältigen, weil sie das muss, um an der Macht zu bleiben, scheint doch ziemlich nahe an der einstigen Hoffnung auf sozialistische Veränderung aus den bestehenden Machtstrukturen heraus. Es scheint: Ich habe Angst vor Erschütterungen, auch wenn sie notwendig sind. Auch wenn ich mit den Verhältnissen meinen Frieden nicht mehr machen kann, möchte ich, dass ihre Veränderung friedlich erfolgt. Gelächter von Marx bis Tucholsky, Einspruch von Brecht … Und trotzdem.
Das Buch ist so vollgepackt mit Gedanken und Informationen, dass es eigentlich aus mehreren Büchern besteht: über das Scheitern des Sozialismus, über die parallele Entwicklung von DDR und BRD, den Nationalsozialismus, die Ausgrenzung der Ost-Kultur, das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung und das Sonderrecht Ost mit ihren Folgen, den Raub des Volkseigentums, das Schicksal der landwirtschaftlichen Genossenschaften, die unterschiedlichen Ängste und Freiheiten in DDR und BRD, die Frauenemanzipation, die Krise des Parlamentarismus, den 11. September und den Kampf gegen den Terrorismus.
Großartig zu nennen ist Kapitel 5: »Mein erster Angriffskrieg «. Gewiss hat es schon mehrere profunde Untersuchungen zu Ursachen, Zielen und Verlauf des Jugoslawien-Krieges gegeben, aber hier ist Erhellendes auf engem Raum zusammengedrängt und mit Erlebnissen der Autorin in Belgrad verbunden. Wer den Abschnitt zur Otpor-Strategie gelesen hat, wird sich nicht mehr hinters Licht führen lassen. So wurde schon vielerorts in der Welt ein Machtwechsel inszeniert. Man braucht sich eigentlich nur zu fragen, wem etwas nützt, um eine Ahnung zu bekommen, was geschehen ist. Ob »Wehe dem Sieger « eigentlich immer gilt?
»1990 war das beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte. Im Westen des Landes entstanden zwei Millionen neue Arbeitsplätze, und die Zahl der Einkommensmillionäre erhöhte sich um 40 Prozent «, heißt es im Buch. »Heute sitzt der Westen auf unabsehbare Zeit in der Transfer-Falle. Der Hauptteil der jährlich etwa 100 Milliarden Euro, die in den Osten fließen, wird für Arbeitslosengeld, Rente und Sozialleistungen ausgegeben, auf die ein gesetzlicher Anspruch besteht … Die Gier der Privatisierer hat eine Gegend zurückgelassen, die aus eigener Kraft viel weniger lebensfähig ist als zuvor.« Dabei mangelte es an Vorschlägen für langfristige strukturpolitische Maßnahmen nicht.
Auch die Chancen der Einheit für den Westen wurden vertan. Das lediglich an persönlichen Fehlentscheidungen festzumachen, wäre zu einfach. »Im privatkapitalistischen System gibt es zu viele Anreize, die dem Gemeinwohl widersprechen«, stellt Daniela Dahn fest und kann es belegen. Da bleibt die Frage: »Wie wird der Kapitalismus untergehen?«