Demokratisierungsdruck aus dem Osten
Geleitwort von Daniela Dahn zu Heinrich Fink: „Wie die Humboldt-Universität gewendet wurde“.
Es war für fast alle im weitesten Sinne bürgerrechtlich engagierte DDR-Bürger die politisch intensivste Zeit ihres Lebens. Alles musste parallel bewältigt werden – das Bisherige analysieren und aufarbeiten, zwischen den allzu gegenwärtigen Terminen von Demos, Protestveranstaltungen, Pressekonferenzen, Ver-sammlungen ein paar Stunden Schlaf finden und Entwürfe für Künftiges nicht aus dem Auge verlieren. Überall schossen Gesetzentwürfe, Programme und Statuten aus dem Boden. Man lernte lauter Leute jenseits des eigenen Berufs-kreises kennen, denen zu begegnen es zuvor keinen Anlass gab.
Den Theologen Heinrich Fink lernte ich im Oktober 1989 kennen, als sich in Berlin die erste Unabhängige Untersuchungskommission bildete. Zusammenge-setzt aus Mitgliedern der Evangelischen Kirche, der neuen Bürgerbewegungen und Parteien, der Künstlerverbände sowie unabhängigen Bürgern. Es galt, die Befehlsstrukturen während der gewaltsamen Übergriffe von Polizei und Sicher-heitskräften anlässlich der Protest-Demonstrationen zum 40. Jahrestag der DDR am 7. und 8. Oktober in Berlin aufzudecken. Unsere Untersuchungskommission bekam anfangs gute Plätze in der Haupt-nachrichtensendung.
Heinrich Fink und seine erwachsenen Kinder waren, kerzenhaltend, nahe der Gethsemane-Kirche wie viele andere von Polizisten mit Schlagstöcken traktiert worden. Mitte März 1990 beschwor er die vor unsere Kommission geladenen Polizeioffiziere, doch nun Konsequenzen aus dem empörenden Vorgehen ge-gen die Aktiven der Wende zu ziehen. Mit dem Enthusiasmus der damaligen Tage hielt er ihnen vor: „Meine Freunde haben mir gesagt, am 7. Oktober haste Dresche in Berlin gekriegt, wie wir dich kennen, wirste dich gegen die Kraftwer-ke in Gorleben einsetzen, und dann wirste ganz andere Dresche kriegen. Wir haben die Zeit und die Möglichkeit, sogar ein neues Verständnis von Polizei in den zusammengewachsenen deutschen Staaten zu erreichen. Das ist im Mo-ment drin, wenn wir nicht verdrängen, sondern aufarbeiten.“ Wir lebten da-mals noch weitgehend in der Illusion, uns würde die Zeit bleiben, aufarbeitend Neues zu schaffen und damit sogar den Westen anzustecken.
Zwei Wochen später wurde der Theologie-Professor Heinrich Fink zum ersten frei gewählten Rektor der Humboldt-Universität. Seine Devise war auch dort: Erneuerung aus eigener Kraft. Und das funktionierte zunächst. Inzwischen wa-ren auch die Studenten aufgewacht, mit unabhängiger Studentenzeitschrift, Studentenrat und Studentenparlament kämpften sie für eine Abkehr von den konservativen Strukturen der Professoren-Universität. Und sie bekamen Zu-spruch von den Kommilitonen der Freien Universität, der Technischen Universi-tät, ja der Sorbonne.
Auch wenn es zunächst kein zentrales Motiv war, so wurde es doch zu einem ermutigenden Nebeneffekt: Der Funke sprang in vielen Bereichen auf den Wes-ten über. Auf einem Studientag der theologischen Fakultät der Universität Tü-bingen wurde eine Resolution verabschiedet, in der es hieß, die bundesdeut-sche protestantische Kirche sei auf dem Weg, „ihr staatskonform obrigkeitshö-riges Verhalten fortzusetzen… Es ist Zeit, für eine grundlegende Kritik des Kapi-talismus.“ Die SPD schlug tatsächlich einen Runden Tisch auch für Bonn vor. Und wie die taz am 9. Dezember 1989 den Runden Tisch und das Übergangska-binett Modrow für das fürs Volk berechenbare Programm der Demokratisie-rung lobte, das war keine Einzelmeinung:
„Insofern geht die Macht wirklich vom Volk aus und bleibt vor allem bei ihm – in einem Maße, wie es im ehemals freien Westen nie denkbar war und ist … Die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik, die im Grunde eine Großpar-teienherrschaft ist, wehrt nach wie vor alle Ansätze direkter Demokratie und Kontrolle von unten ab. In der DDR hingegen wird inzwischen selbst der inners-te Repressionsbereich einer demokratischen Kontrolle von unten unterworfen. Ganz abgesehen davon, dass inzwischen alles, Volkswirtschaft, Volksarmee, Verfassung, der Diskussion unterworfen ist. Schon jetzt beginnen die Impulse der neuen Demokratie DDR in der Bundesrepublik zu wirken. Denkbar, dass Bonn bald den Wiedervereinigungsprozess massiv beschleunigen will, um den möglichen Demokratisierungsdruck aus dem Osten zu brechen.“
Diese hellsichtige Prognose hat sich auf der ganzen Linie bewahrheitet. Der Demokratisierungsschub wurde blockiert und ins Gegenteil verkehrt. Entschei-dend war die überstürzte Rechtsangleichung. Obwohl es dem Willen vieler Menschen in Ost und West widersprach, wurde keine einzige der verkrusteten westlichen Strukturen aufgebrochen und Ostdeutschland zum Ableger des an-geblich siegreichen Modells geklont. Den Parlamentariern wurde in einem bei-spiellosen Schnellverfahren der tausendseitige Einigungsvertrag zur Zustim-mung vorgelegt. Die Regierungsbürokratie hatte sich, unter Federführung der von der „Treuhand“-Anstalt vertretenen Wirtschaft, zum Gesetzgeber gemacht. Kein Ausschuss, kein Abgeordneter hatte das Recht, auf die Gesetze Einfluss zu nehmen, etwa durch Änderungsanträge.
Dass der Widerspruch gegen dieses Vorgehen in Ost und West auf zwar nam-hafte, aber letztlich zu wenige Politiker und Fachleute beschränkt blieb, lag zum einen an dem unglaublichen Tempo, in dem es für den Einzelnen schwer wurde zu durchschauen, was eigentlich hinter den Kulissen läuft. Es lag zum anderen an den von den Medien gierig aufgegriffenen Gerüchten von bevorstehendem Staatsbankrott und unvorstellbarer DDR-Regierungskriminalität, die zunächst unüberprüfbar waren und die Menschen verunsicherten. Und es lag schließlich an den perfiden Methoden, mit denen die verbliebenen Widerständigen ins Aus gedrängt wurden.
Wie das Unter den Linden, in der traditionsreichen Berliner Humboldt-Universität geschah, davon erzählen die Erinnerungen des letzten DDR-Rektors Heinrich Fink auf detaillierte, bedrückende Weise. Dass die Dogmatiker, die un-kreativen Bürokraten abgesetzt werden, war von den Bürgerrechtlern beab-sichtigt. Dass aber flächendeckend abgeräumt wird, auch unter politisch unbe-scholtenen, hochqualifizierten Spezialisten und erfahrenen Fachleuten, sogar unter links gebliebenen Dissidenten wie Rudolf Bahro, das war nicht beabsich-tigt. Von der „Elitenrestitution“ soll etwa eine Million Menschen betroffen ge-wesen sein. Unter dem Vorwand, politische Altlasten zu entsorgen, wurden einträgliche Posten an mehrheitlich zweitrangige Westimporte vergeben.
Zwielichtige Gestalten lebten ihre unverhofft gewonnene Macht in Orgien per-sönlicher Herabwürdigung aus. So der aus Bayern eingeflogene einstige Wehr-machtsoffizier Rudolf Mühlfenzel, nunmehr Rundfunkbeauftragter der Bundes-regierung für die neuen Bundesländer. Sein despotisches Wirken unter den An-gestellten des DDR-Rundfunks ist legendär: Wochenlang erreichten besonders die leitenden Mitarbeiter aller Redaktionen, auch der nur bedingt politischen wie Sport, Musik oder Hörspiel, Entlassungsschreiben, die zu begründen nicht für nötig befunden wurde. Wer bis zum Herbst 1990 diesem Los entgangen war, dem wurde großzügig erlaubt, sich für eine Neueinstellung zu bewerben. All diese Bewerber wurden eines Tages vor eine angegebene Tür im 1. Stock von Block A bestellt. Sie wurden einzeln aufgerufen, gelangten über ein Vor-zimmer in einen leeren Raum, in dessen Mitte ein Tisch stand, darauf ein Tele-fon. Der Hörer lag daneben. Die langjährigen Rundfunkmitarbeiter wussten, sie müssen ihn aufnehmen und ihren Namen sagen. Sie wussten, die Stimme, die sie hören würden, sollte die des Herrn Mühlfenzel sein. Sie wussten, diese Stimme würde nur einen Satz sagen: Entweder „Sie werden übernommen“ o-der „Sie werden nicht übernommen“. Dann hatte man den Raum zu verlassen und der Nächste wurde aufgerufen.
Genau diese Art von Demütigung wollte Heinrich Fink an seiner Humboldt-Universität vermeiden. Er hatte dafür die Studenten und den akademischen Senat hinter sich. Doch das erzählt er viel besser selbst. Wie der damalige Wis-senschaftssenator Erhardt (CDU) dennoch einen Abwickler ins Haus schickte: den für den Fachbereich Wirtschaftswissenschaften vorgesehenen Dekan Wil-helm Krelle, ebenfalls einstiger Wehrmachtsoffizier. Wie dieser selbstgerecht verkündete: „Kein Marxist wird seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen, solange ich hier das Sagen habe.“ Wie die Humboldt-Universität die einzige war, die es wagte, gegen die sofort einsetzenden Abwicklungen gericht-lich vorzugehen. Auch weil sie die einzige war, an der die demokratisch gleich-berechtigte Teilnahme von Studenten in allen Gremien noch nicht zerschlagen war. Wie Heinrich Fink im November 1991 von Mitgliedern des Studentenpar-laments gebeten wurde, doch wieder als Rektor zu kandidieren. Wie just in die-sem Moment von der damaligen Gauck-Behörde Verdächtigungen lanciert wurden, Fink habe für die Stasi gearbeitet. Ein „bestelltes Ding“, wie Rudolf Bahro sagte.
Es ging um unbewiesene und unbeweisbare Vorwürfe, da es Zeugen der Ankla-ge nicht gab und die eigentliche Akte vernichtet war. Eine von vielen damals zu ertragende Groteske, in der einen nichts so belastet wie verschwundene Akten. Oder gar gefälschte Unterschriften unter Verpflichtungserklärungen wie im Fal-le des international renommierten Charité-Arztes Peter Althaus, der gegen den Willen seines Rektors und vor allem gegen den Willen seiner Patienten den Hut nehmen musste. Einer dieser Patienten, Stefan Heym, fragte damals: „Was ist das für eine Demokratie, was für ein Rechtsstaat, in dem ein Mann von einer Verwaltungsinstanz für schuldig erklärt und bestraft werden kann, ohne dass ein Beweis seiner Schuld vorgelegt, ohne dass er selber auch nur gehört wor-den wäre von einem der hohen Herren der Kommission?“
„Unsern Heiner nimmt uns keiner“, skandierten die Studenten. Aber mit Blick auf die Treuhand hatten sie zu lernen, dass noch ganz anderes genommen werden konnte.
Bliebe nachzutragen: 1994 sollten an der Humboldt-Universität erstmals nach der Wende Ehrendoktoren ernannt werden. Vorgeschlagen waren u.a. Günter Grass und Wilhelm Krelle. Dieser hatte inzwischen an der Wirtschaftswissen-schaftlichen Fakultät die Struktur- und Berufungskommission geleitet, die von den 180 Hochschullehrern und wissenschaftlichen Mitarbeitern nur zehn übrig ließ. Krelle verlangte den DDR-Dozenten sehr viel mehr ab als sich selbst: Sie hätten Widerstand gegen das herrschende System leisten sollen.
Für die Studenten war dies Anlass, die Arbeit der desinteressierten Presse zu übernehmen und genauer zu erforschen, was seit seiner Zeit an der Bonner Universität bekannt war: Krelle hatte in der Waffen-SS gedient. Und zuvor in der berüchtigten 164. Infanterie-Division des XXX. Armeekorps, die bei Durch-bruchskämpfen an der Metaxas-Linie Massaker an griechischen Zivilisten ver-übte und strategisch bedeutungslose Dörfer in Schutt und Asche legte. Im Wehrmachtsbericht vom 14. April 1941 wurde Krelles Tapferkeit erwähnt, was immer das bedeutete. Als er im August 1944 als Generalstabsoffizier zur Waf-fen-SS abgeordnet wurde, hätte er dies nach eigener Aussage ablehnen kön-nen, hätte das aber als „ehrenrührig“ empfunden. Stattdessen pries er seinen gefallenen Standartenführer als „glühenden, fanatischen Vertreter der Idee un-seres Führers“ und gelobte in seinem Sinne weiter für „unser Großgermani-sches Reich“ zu kämpfen. Noch in den letzten Kriegstagen forderte er Standge-richte vor versammelter Mannschaft. Eine selbstkritische oder auch nur nach-denkliche Äußerung Krelles zu seiner Rolle in der NS-Zeit hat es nie gegeben.
Ein Gutachten von der Hamburger Bundeswehruniversität kam zu dem Schluss, dass Krelle keine persönlichen Verfehlungen nachzuweisen seien. Auch die etablierte Presse stand unbeirrt hinter ihm und verwies auf die „Vernichtungs-kraft von Verdächtigungen“. In der inzwischen fast ausschließlich von Westkol-legen besetzten Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät hatte man ihm viel zu verdanken und wählte ihn zum ersten Ehrendoktor nach der Wende. In der ebenfalls mehrheitlich mit Westdozenten ausgestatteten Germanistischen Fa-kultät tat man sich mit dem von einem Ostprofessor vorgeschlagenen Grass schwer. Wer weiß, hätte dieser nicht erst Jahre später beschrieben, wie er als 17 jähriger Rekrut zur Waffen-SS eingezogen wurde, wäre er vielleicht ein ernstzunehmender Konkurrent gewesen. So aber wurden ästhetische Einwände vorgeschoben, aus denen unschwer herauszuhören war, dass Günter Grass ihnen für einen Ehrendoktor einfach zu links war.
Als sich diese die geistige Situation an der Humboldt-Universität und im Lande spiegelnde, kleine Duplizität zutrug, war Heinrich Fink schon zwei Jahre aus dem Rektorenamt gejagt.