Der Sozialstaatsgedanke kommt in Joachim Gaucks schlichter Freiheitspredigt nicht vor und seine Nähe zu US-republikanischem Denken kommt nicht von ungefähr. Rot-Grün hat auf ein Pferd gesetzt, das ihnen leicht durchgehen könnte. Ein Kommentar
Wer sich etwas intensiver mit Joachim Gauck beschäftigt hat muss befürchten, dass er eben nicht ein Bürgerpräsident wird, sondern ein Präsident der Eliten. Diese wiederum haben für ihn auch nicht vor dem Mittel der pränatalen Heiligsprechung zurückgeschreckt. Denn – auch das weiß man inzwischen – die Idee zu diesem Kandidaten kam weder von den Grünen noch von den Sozialdemokraten, sondern vom damaligen Chefredakteur der Welt, Thomas Schmid.
Für die Springer-Presse müssen die Ansichten von Pastor Gauck die ideale Grundlage sein, um die Diskurshoheit im Lande nach rechts zu rücken. Und Rot-Grün hat offenbar bis heute nicht begriffen, dass sie auf ein Pferd gesetzt haben, das ihnen leicht durchgehen könnte.
Der Sozialstaatsgedanke, der im Grundgesetz ein Ewigkeitsgebot hat, weil er nämlich die Voraussetzung für die persönliche Freiheit der Bürger ist, kommt in Gaucks eher schlichter Freiheitspredigt nicht vor. Er zweifelt diesen Gedanken vielmehr an, wie auch in seinem ersten großen Interview nach seiner Nominierung 2010, das natürlich Thomas Schmid führen durfte. Darin beklagt er die „gefährliche Liebe der Deutschen zu Vater Staat“ und gibt zu bedenken, „ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen“.
Das ist nicht so strikt formuliert, wie bei der Bürgerbewegung der US-Republikaner, der Tea-Party, denen jegliche staatliche Sozialpolitik sozialistisches Teufelszeug ist, aber es liegt doch auf deren Linie. Insbesondere wenn er fortfährt: „Noch bewegt sich die Politik in den Bahnen paternalistischen Verteilens. Irgendwann brauchen wir einen eisernen Willen, eine bislang noch gefürchtete Entschlusskraft.“ Wann, wenn nicht jetzt. Ein eiserner Bundespräsident, der auszieht das Fürchten zu lehren?
Die Nähe zu US-republikanischem Denken dürfte nicht von ungefähr kommen. Joachim Gauck ist Mitglied des elitären Vereins Atlantik-Brücke – über die der Lobbyist Arend Oetker sagt: „Die USA wird von 200 Familien regiert und zu denen wollen wir gute Kontakte haben.“ Wer ist wir? Von der Website des Vereins lächelt einem der Vorsitzende Friedrich Merz entgegen, der mehr Kapitalismus wagen will. Sein Vorgänger war Thomas Enders aus der Chefetage des Rüstungskonzerns EADS.
Genauso freundlich lächeln da als Vorstandsmitglieder Bild-Chef Kai Diekmann und Jürgen Fitschen von der Deutschen Bank. Chefs von Energiekonzernen und Versicherungen fehlen nicht. Im Kuratorium darf die Ex-Treuhandchefin Birgit Breuel wen begrüßen? Richtig – Christian Wulff und Karl-Theodor zu Guttenberg, allerdings auch Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckhardt. Ein richtiger Präsidentenmacherclub eben. Da darf der alles überstrahlende Oberlächler auf der Website nicht fehlen: George W. Bush junior.
Hofiert von diesen Kreisen ist es nachvollziehbar, wenn der designierte Bundespräsident „unserem guten politischen System“ viel zutraut, dagegen Leute, die über einen Systemwechsel nachdenken, für reaktionär hält. Es gibt von Joachim Gauck auch nicht den Ansatz einer Erklärung dafür, warum neun von zehn Deutschen sich die Freiheit nehmen, eine andere Wirtschaftsordnung zu wollen. Kann er auch der Präsident dieser Mehrheit sein? Selbst wenn die Occupy-Bewegung noch nicht ganz 99 Prozent hinter sich hat, sind Konflikte vorprogrammiert.
Wie sind dann aber die hohen Sympathiewerte für den angeblichen Bürgerpräsidenten zu erklären? Am Tag des Rücktritts von Bundespräsident Wulff lag die Zustimmung zu dem möglichen Kandidaten Gauck noch bei 46 Prozent. Und obwohl jenseits der Springer-Presse in den vergangenen Tagen in den Medien eher kritische Nachfragen überwiegen, soll die Begeisterung schon auf 70 Prozent gestiegen sein. Abgesehen davon, dass niemand weiß, was genau gefragt wurde und deshalb die Ergebnisse schwer einzuordnen und zu überprüfen sind, ist diese Tendenz doch bemerkenswert.
Zweifellos ist nach all den Desillusionierungen der Wunsch nach Glaubwürdigkeit jenseits von Parteien echt und berechtigt. Und wenn alle großen Blätter und Sender 2010 in einem beispiellosen Medienhype vorhergesagt haben, dass der Messias kommt, dann will man sich den Glauben daran wenigstens im zweiten Anlauf nicht wieder nehmen lassen.
Zweifellos hat der geübte Prediger Gauck eine erfrischend undiplomatische, emotionale Sprache, die nicht drum herum redet und ankommt. Die Fähigkeit zu nicht enden wollender freier Rede und Assoziation ist herausragend.
Wenn man allerdings nur ein Ohr auf Bewunderung programmiert und im anderen eine Art Phrasen-Detektor einbaut, dann wird das Fiepen in diesem Ohr kaum zur Ruhe kommen. Es wird nur gemildert durch die unterhaltsame Erwartung, welchen Bolzen er nun gleich wieder raushauen wird. Denn dass Gauck seine Formulierungen und Emotionen selbst immer unter Kontrolle haben wird, trauen ihm die, die ihn kennen, nicht zu. Das ist ja auch, wenn es nicht in Beschimpfung endet, ein menschlicher Zug. Nur wird von einem Bundespräsidenten eher Diplomatie erwartet, wenn von der „Würde des Amtes“ die Rede ist.
Nicht auszuschließen, dass dieser Präsident so provoziert, polarisiert und herausfordert, dass die Gesellschaft doch noch auf analytische Weise politisiert wird – mit welchem Ergebnis auch immer.