Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 1999

Berlin. – Der Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik wird in diesem Jahr an die Berliner Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn vergeben.
„Daniela Dahn vertritt in der deutsch-deutschen Öffentlichkeit umstrittene Positionen; sie greift pointiert, Überspitzungen nicht scheuned, Tabu-Themen auf und wehrt sich gegen tradierte Klischees. Unbeeinflußst durch offentlichen Druck klagt sie als linke Demokratin die Normen des Rechtsstaates ein und stellt Geschichtslegenden infrage; sie untersucht die Verwerfungen des Einigungsprozesses, versteht sich als Anwältin der Beleidigten und Preisgegebenen und bietet, im Sinne Tucholskys, der Ideologie sogenannter „Sieger“ Paroli. Auf diese Weise gelingt es ihr, verletzem Selbstbewußtsein überzeugend Sprache zu geben“, heist es in der Begründung der Jury.

Tucholsky-Preis – Laudatio von Egon Bahr

tucholskyAls ich am Tag, bevor eine überfällige Kur anzutreten war, gefragt wurde, ob ich für Günter Gaus, der zu seinem und meinem Bedauern absagen mußte, einspringen und die Laudatio auf Daniela Dahn halten könnte, war der erste Gedanke: Der Gaus könnte das besser, nicht nur, weil er die zu Lobende besser und länger kennt. Seine krankheitsbedingte Abwesenheit bringt uns um den Genuß eines kleinen Kunstwerks. Der zweite Gedanke war: Ich mach’s, weil ich gern Daniela Dahn loben will. Nicht wegen des Preises. Das hat die Jury zu verantworten. Es wird ihr nicht schwergefallen sein; denn daß da Verwandtschaften auszumachen sind, daß Daniela Dahn in die Tradition Kurt Tucholskys hineingewachsen ist, liegt auf der Hand.

Nun fühle ich, daß es für einen bescheidenen Menschen auch belastend sein kann, in die Tradition eines großen Namens gestellt zu werden, daß der mißtrauische Intellekt bei aller Freude über die Auszeichnung selbstkritisch vor der Verführung des Ruhms warnt. Aber vor solchen Gedanken hoffe ich, Daniela Dahn bewahren zu helfen, indem ich sage: Ich möchte Sie loben, für Ihre Haltung, Ihren Weg und die Gabe, Ihren Befund literarisch geschliffen zu vertreten. Der Preis ist ein Stempel, nicht mehr abwaschbar. Sie sollten, liebe Daniela Dahn, sich durch ihn nicht belastet empfinden; Sie sollten sich ermutigt fühlen, weiter-zumachen, die Realität hinter den Fassaden prüfen, die Wirklichkeit an den Zusagen messen, neugierig, zu welchen Erkenntnis-sen, Äußerungen und Aufgaben das führen wird, damit die naive Sentimentalität, wenn diese dichterische Anleihe auf die Publizistik übertragbar ist, ihre Stärke bleibt.

Es gibt einen weiteren Grund, weshalb ich hier gern spreche. Heute jährt sich zum neunten Mal der Tag, an dem staatsrechtlich unsere Einheit begann. Damals, 1990, habe ich mich den großen Feiern entzogen, um meine tiefe Freude privat über das Ereignis zu genießen. Die übliche Reporterfrage habe ich mit dem Wunsch beantwortet, daß niemand mehr aus diesem neuen Land auswandern müsse. Auch heute werden die dazu Berufenen den nationalen Feiertag öffentlich begehen und zum ersten Mal wird festzustellen sein, welche Unterschiede neben der Kontinuität des Rahmens in den Inhalten zu hören sein werden; denn schließlich haben wir eine neue Regierung. Auf die Unterschiede kann man gespannt sein, denn der Zustand unserer Republik verträgt alles andere als Routine, in die solche Feierlichkeiten zu geraten drohen.

Es trifft sich außerdem, daß hier ein Westdeutscher zu einer Ost-deutschen spricht, zugegeben einer, der auf den Wandel hoffte, indem man sich dem Osten zuwandte. Aber vielleicht wäre es eine interessante Idee, künftig zeitgleich neben der offiziellen eine inoffizielle Veranstaltung zum Tag der Einheit abzuhalten. Dann könnte verglichen werden, wo mehr schöngefärbt und mies gemacht, mehr vergessen wurde, an Erfolgen und Mißerfolgen, wo unter- oder übertrieben wurde, Unterschiede deutlich gemacht werden zwischen unerfüllbaren und erfüllbaren Hoffnungen, vermeidbaren und unvermeidbaren Begünstigungen und Benachteiligungen. Aus solchen Spannungsbögen könnte sich eine Diskussion über die Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft ergeben; eine solche Diskussion braucht das Land. Sie könnte sogar eine Hilfe dafür werden, die innere Einheit zu gewinnen, um die es erschreckend still geworden ist, seit Helmut Kohl sie als prioritäres Ziel, parteiübergreifend anerkannt, formuliert hat.

Ich denke nicht an eine Gegenveranstaltung zu der offiziellen, sondern an eine ergänzende Veranstaltung, in der sich die Regierten ausgedrückt fühlen, in der die Kluft zwischen den beiden Öffentlichkeiten überbrückbar wird: Zwischen den Ansprachen und Leitartikeln und dem allgemeinen Bewußtsein der breiten Mehrheit.

Günter Gaus hat zum ersten Jahrestag der Einheit eine nicht gehaltene Rede entworfen. Nach seinem Wunsch sollte dieser Tag traditionell der Freimütigkeit gewidmet sein. Ich will nur einen Ausschnitt zitieren: »Die Vereinigung der Deutschen in einem Staat tut nicht nur dem Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes genüge, sie hat nicht nur das Glück der individuellen Freiheiten, den Segen der Rechtsstaatlichkeit für die Deutschen in der ehemaligen DDR im Gefolge, sondern ist auch von Mißverständnissen, Ernüchterungen, Kränkungen und Enttäuschungen begleitet«. Gaus nennt die Mühen für viele Menschen im Osten beim Namen: »Ungewißheiten, Ängste um den Arbeitsplatz, konkrete Identitätsverluste, die nicht mit abstrakten Begriffen, auch nicht mit Westgeld, sondern nur im Laufe der Zeit mit neuen konkreten, zuverlässigen Verankerungen der persönlichen Lebensumstände in der vorerst noch unvertrauten, weithin westlich bestimmten Gesellschaft wettgemacht werden können. Um es bei der Gelegenheit dieses Tages zu sagen: Die Ostdeutschen haben keineswegs, sozusagen kollektiv und grundsätzlich, dank-bar zu sein für das, was die seit bald nach Kriegsende begünstigten Westdeutschen als Erfüllung ihres oft beschworenen Verfassungsauftrags für die Vereinigung leisten«.

Dankesworte
anläßlich der Entgegennahme des Kurt Tucholsky-Preises für Literarische Publizistik

Ganz herzlichen Dank, lieber Egon Bahr für diese mich sehr berührende und ermutigende Laudatio. Ich danke den Schöpfern des Kabarettprogramms, Volker Kühn und seinen Schauspielern, ich danke der Jury und meinem Verlag, der ja auch Tucholskys war, und allen hinter und vor der Bühne, die Sie heute gekommen sind, um gemeinsam das Erbe des polemischsten deutschen Dichters dieses Jahrhunderts hochzuhalten.

Wie beschreibt man seine Freude und seinen Stolz, in auch nur irgend eine Art von Zusammenhang mit einem literarischen Vorbild gerückt worden zu sein, und gleichzeitig die Demut, die einen angesichts des eigenen Ungenügens gerade bei solcher Gelegenheit befällt? Gern hätte ich mir Rat beim Meister geholt, aber Tucholsky hat nie einen literarischen Preis bekommen. Und da fängt doch die ganze Ungerechtigkeit schon an.

Vermutlich hätte er an einem so symbolträchtigen Datum die Gelegenheit nicht ohne einige Attacken auf die aktuelle Situation verstreichen lassen. Was hätte der scharfzüngige Gesellschaftskritiker Ignaz Wrobel wohl zum heutigen Tag der deutschen Einheit zu sagen gehabt?
»Wenn ein neues Regime ans Ruder kommt, so vernichtet es gewöhnlich alle äußeren Spuren der Vorgänger, soweit ihm das möglich ist. So ist es bisher immer in der Weltgeschichte gewesen«, meinte er zumindest in seinem vor genau siebzig Jahren erschienenen »Deutschland, Deutschland über alles«, diesem von John Heartfield montierten Bilderbuch mit Texten, die heftigere Auseinandersetzungen und Angriffe auslösten, als alles, was Tucholsky je geschrieben hat. »Die Presse lobt — die Presse tobt«, warb der Verlag in einer Anzeige. Bei Lesungen kam es zu Tumulten und Schlägereien — auch das zeigt, wir haben heute längst nicht alle Steigerungsmöglichkeiten ausgeschöpft.
Einleitend hatte Tucholsky Hölderlin vorgeschickt: »Ich kann kein Volk mir denken, das zerissener wäre, wie die Deutschen«. Und so kam ich unter die Deutschen: Indem ich versuchte, ihre Mißverständnisse zu beschreiben. Mit dem Erfolg, daß diese offenbar nie größer waren, als zur jetzigen Zeit. Der Tonfall der westdominierten Debatten ist gereizter und aggressiver geworden, die Vorwürfe grundsätzlicher. Da aber Gereiztheit und Agressivität immer ein Anzeichen von argumentativer Schwäche sind, rückt der unvermeidliche Zusammenbruch von Klischees vielleicht näher als wir ahnen.
Schon vor Jahren war mir klar: Das Grundmißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. Immer drohender wird mit den Milliarden gefuchtelt, entziehbar wie die Mohrrübe dem lahmen Gaul, falls der gewünschte Trott ausbleibt und stattdessen weitere Fehltritte vorkommen.

Sprache verrät Denken. Der Begriff transferieren degradiert den Osten wieder zum Ausland, in das mit anderer Währung gezahlt wird. Wo aber sollen reine Westquellen nach staatlicher Vereinigung herkommen? (Gut, auch wir profitieren vom Länderfinanzausgleich. Aber nach Abzug der Kosten für die Regierungsbauten in Berlin, die dem Aufbau Ost immer untergejubelt werden, machen diese Zahlungen ganze vier Prozent des sogenannten Transfers aus. Sehr anerkennenswert, aber für einen erkauften Anspruch auf Demutsgesten nicht tauglich.) Finanziert wird der angebliche Transfer aus dem Westen vielmehr mit Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, und mit Krediten, die verzinst und getilgt werden müssen. In all diese Töpfe zahlen natürlich auch die Ostdeutschen ein. Das heißt, der Fleischer in Güstrow, so er genausoviel verdient, wie der Bäcker in Fulda, trägt auch genausoviel zu diesem sogenannten Transfer bei. Nur die Vermögen-den in West und Ost (falls es sie hier gibt), zahlen nach dem Willen des Gesetzgebers weit weniger als angemessen wäre. Da selbst der Staatshaushalt nunmal vereint ist, können übrigens den ostdeutschen Steuerzahlern die erheblichen Subventionen für die bayrischen Bauern und die Ruhrkumpel auch nicht mehr ganz gleichgültig sein.

Fazit: Es gibt – so gesehen – keinen reinen Transfer von West nach Ost, sondern es gibt von West- und Ostdeutschen erarbeitete staatliche Fördermittel für eine Region, die erst unter zentralistischer Planwirtschaft, dann unter der Schocktherapie von Währungsunion und Treuhand erheblich gelitten hat. Wofür der Kassenwart für ausgleichende Gerechtigkeit nun von beiden seiten – vor allem aber von den nächsten Generationen – Bußgelder erhebt.

Ich stelle mir vor, wie Tucholsky auf seiner jenseitigen Wolke sitzt, mit den Beinen baumelt und sich über unsere irdischen Hahnenkämpfe belustigt. Sehr komisch und vor allem sehr deutsch müssen ihm die Vorhaltungen vorkommen, der andere habe nicht hart genug gearbeitet. Denn natürlich hat unterm Strich der besser gelebt, der weniger rackern mußte. Das ist doch der größte Luxus. Aber anstatt stolz darauf zu sein, will deutsche Tugend nicht eingestehen, daß Fortschritt meßbar ist im Wegfall von Arbeitsfron und Leistungsdruck. Tucholsky weiß, was ich meine. In einem seiner legendären, im Himmel spielenden Nachher«-Texte, schwärmt Kaspar Hauser rückblickend auf seiner Wolke, so daß man meinen könnte, er sei im Jenseits zum Ossitum konvertiert:
»Am liebsten waren mir zeitlebens die Betriebe, die ein wenig verfault waren. Da arbeitete ich so gern. Der Chef schon etwas gaga, wie die Franzosen das nennen, mümmlig, nicht mehr ganz auf Trab, vielleicht Alkoholiker; sein Stellvertreter ein gutmütiger Mann, der nicht allzuviel zu sagen hatte. Niemand hatte überhaupt viel zu sagen – der Begriff des Vorgesetzten war eingeschlafen. Auch Vorschriften nahm man nicht so genau – sie waren da, aber sie bedrückten keinen. Diese Läden hatten immer so etwas von Morbidität, es ging zu Ende mit ihnen, ein leiser Verfall. Wissen Sie: man arbeitete, man faulenzte nicht, hatte Beschäftigung – aber es war im großen ganzen doch nur die Geste der Arbeit… Ja, es gab viele Stätten solcher Art. Beim Militär habe ich sie gefunden, in der Industrie; auf dem Lande lagen solche Güter – Operettenbetriebe. Hübsch, da zu arbeiten. Sehr nett. Und immer so eine leise kitzelnde Angst vor dem Ende, denn einmal mußte es ja kommen, das Ende – immer konnte es nicht so weitergehen.«