Daniela Dahn

Bananenrepublik – Ost-West Debatten über Unterschiede und Gemeinsamkeiten wollen nicht enden

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag | Nr. 51/52 | 21. Dezember 2017

Wie ist ein typischer Ossi und wie ein typischer Wessi? Ist Herkunft „vererbbar“? Und wie wichtig ist das alles noch für junge Menschen, die gesamtdeutsch aufgewachsen sind? Ein Streitgespräch über Werte und Lebensleistungen, Demokratie, Religion und Identitäten zwischen der „Ostfrau“ Daniela Dahn und dem „Westmann“ Micha Brumlik.

Wann haben Sie das letzte Mal Jägerschnitzel gegessen?

Daniela Dahn: Das habe ich schon zu DDR-Zeiten  gemieden.

Micha Brumlik: Vor sieben, acht Jahren etwa.

Und was haben Sie da gegessen?

B: Rindfleisch mit einer Pilzsoße.

D: Panierte Jagdwurst mit einer geschmacklosen Tomatensoße und Makkaroni.

Hinter dieser ironischen Frage steckt eine ernsthafte: In welcher Situation haben Sie persönlich zuletzt gemerkt, dass Sie aus dem Westen beziehungsweise aus dem Osten kommen? Das Jägerschnitzel heißt zwar gleich, ist aber etwas völlig anderes.

D: Ich war in der vergangenen Woche im Museum Barberini in Potsdam. Dort wird gerade  DDR-Kunst präsentiert, endlich mal anspruchsvoll. Trotzdem hatte ich das Gefühl, die Werke werden  wohlwollend begutachtet wie die Kunst von fernen Exoten, die Deutung kam aus der wissenden, westlichen Sicht. .  Und so habe ich mich etwas fremd gefühlt, obwohl es eine gutgemeinte und wichtige Geste ist.

B: Das letzte Mal habe ich nach der Bundestagswahl darüber nachgedacht. Ich habe mich angesichts der vergleichsweise hohen Wahlerfolgen der AfD in Sachsen und Sachsen-Anhalt gefragt, ob diese mit 40 Jahren SED-Diktatur zu tun haben könnten? Mit einem gewissen Mangel an Weltläufigkeit und demokratischem Freiheitsgedanken. Mir ist durchaus bewusst, dass die AfD ebenso in wohlhabenden, westdeutschen Regionen, etwa im Süden Baden-Württembergs starke Ergebnisse erzielt hat. Ich habe mich das trotzdem gefragt.

Ist die Bundesrepublik nach fast 30 Jahren deutscher Einheit immer noch geteilt?

D: Vieles ist zusammengewachsen und normaler geworden: Die Städte im Osten sind saniert, viele Menschen sind wohlhabender geworden, die  Leute reisen selbstverständlich in der Welt herum, besuchen ihre dort studierenden Kinder. Trotzdem: Ich finde es interessant, dass Sie bei der Frage des starken AfD-Wahlergebnis die Ursachen zunächst allein in der DDR suchen und nicht auch  in den vergangenen 25 Jahren. Da findet man nämlich einige Erklärungsmuster.

Welche?

D: Das Wahlergebnis offenbart die Fehler dieser Vereinigung. Ich kann nicht für alle Ostdeutschen sprechen, die sind nämlich, wie alle Menschen, höchst verschieden. Belegt ist, dass sich eine Mehrheit mit ihren spezifischen Erfahrungen und Kenntnissen nicht anerkannt fühlt.

Sie spielen auf die Studie der Uni Leipzig und des Mitteldeutschen Rundfunks „Wer beherrscht den Osten?“ an.

D: Und auf den Sachsenmonitor. Über 70 Prozent sagen da, es sei schwierig, eigene Rechte beim Staat durchzusetzen. Weil die eigenen Netzwerke in Führungspositionen und dort, wo es um Deutungshoheit geht,  nicht ausreichend vertreten sind. Meines Erachtens spiegelt sich darin kein sozialer Frust, sondern ein kultureller und  mentaler. Der hat sich bei der vergangenen Bundestagswahl entladen. Früher konnte man Protest zeigen, indem man die PDS wählte. Wenn man heute die Linkspartei wählt, ärgert man niemanden mehr, die Partei ist weitestgehend etabliert. Aber sein Kreuz bei der AfD zu machen, das ärgert.

B: Wie soll Lebensleistung denn anerkannt werden?

D: Ein Beispiel, das ich in meinem Buch „Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten“ 1994  beschrieben habe: Nach der Wende wurden aus dem Westen 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe von Wohn-Immobilien im Osten gestellt. Wenn man das mal hochrechnet, waren über acht Millionen Ostdeutsche von der Sorge betroffen, Häuser, Wohnungen oder Grundstücke  räumen zu müssen. Obwohl sie  nach DDR-Recht die Besitzer waren. Anträge von Ostlern im Westen waren nicht möglich, obwohl es auch solche Fälle gab. Damals hat der Gesetzgeber für einseitige Umverteilung gesorgt. Und eins ist klar: Wo kein Haben ist, da kein Sagen.

B: Ich verstehe immer noch nicht, wie Lebensleistung anerkannt werden sollte?

D:  Manchmal hätte es genügt, nicht schikaniert zu werden.  Es gab einen Uni-Rektor, der nach seinem Rauswurf Hausverbot bekam und die Uni-Bibliothek  nicht mehr betreten durfte. Oder wie der einstige Wehrmachtsoffizier Rudolf Mühlfenzl …

… den früheren Rundfunkbeauftragten für die neuen Bundesländer, der das DDR-Fernsehen und die DDR-Hörfunksender abwickelte …

D: … Journalisten rausgeworfen hat, das war unvorstellbar. Es hat ein Telefon in einem leeren Raum gegeben, die Journalisten gingen da einzeln rein, nahmen den Hörer ab und Mühlfenzl sagte  – angeblich wie Gottvater – einen Satz: Sie werden übernommen oder Sie werden nicht übernommen. Dann musste man auflegen und der nächste kam. Da war demütigend.

B: Dabei ist doch sicher auch wichtig, ob jemand hoher Parteikader war oder nicht?

D: Ja, denn die waren schon entlassen. Alle anderen mussten sich der Prozedur stellen.

Ich hätte mir etwas mehr Neugier auf Erprobtes   gewünscht Die DDR war ja bekanntlich nicht sehr wohlhabend, trotzdem wurde viel Geld in den Containerverkehr auf der Schiene investiert, öffentliche Verkehrsmittel waren stark subventioniert. Es gab ein weltweit einzigartiges Krebsregister, das nun mühsam wieder eingeführt wird. Jetzt fordert die SPD eine Bürgerversicherung, die hatten wir längst. Der Westen konnte nicht aufhören zu siegen und hat einfach alles verschrottet, was da war.

Was hat das mit dem persönlichen Leben der Menschen zu tun?

D: Es war die Lebensleistung vieler Leute, die da verschrottet wurde. Auch aus den gravierenden Fehlern der DDR hat man nicht genug gelernt. Etwa aus der abwegigen Vorstellung, Geheimdienste müssten von ihren Bürgern sicherheitshalber sämtliche Daten haben. Auch ist man im Osten noch allergisch gegen staatsnahe Medien.

Was macht die Identität der Ostdeutschen aus?

D: Ich habe ein Problem mit dem Wort Identität, ich spreche lieber von Mentalität. Kaum ein Ostdeutscher war mit der DDR identisch. Überall wurde gemeckert, mal mehr, mal weniger öffentlich.

Merken Sie, dass Sie auf verschiedenen Seiten geboren worden sind? Spüren Sie, dass das Teil Ihrer Identität oder Mentalität ist?

B: Ich bin froh, dass es mir erspart geblieben ist, dass meine Eltern in die DDR gegangen sind. Und ja, ich habe eine westliche Identität. Ich bin ein selbstbewusster Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

D: Ich  wollte immer schon in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Insofern bin ich mit sehr gemischten Gefühlen in die Einheit gegangen, und die sind bis heute nicht weniger geworden. Es ist mir nicht wichtig, eine bestimmte Mentalität zu haben. Ich würde viel lieber die Erfahrung machen, dass wir uns alle dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. Trotzdem merke ich, dass manche Prägungen dauerhaft sind.

Zum Beispiel?

D: Nirgends auf der Welt gibt es anteilmäßig so viele Atheisten wie in Ostdeutschland.

B: Furchtbar.

D: Nein, ganz wunderbar.

B: Das ist ein Verlust an kulturellem Wissen.

D: Genau das Klischee habe ich erwartet: Immer diese Atheisten, die keine Kultur und keine Werte haben. Selbst im Realsozialismus wurde versucht, eine Kultur zu schaffen: Internationale Solidarität, Glaube an Menschlichkeit, Vernunft, soziale Gleichheit. Man muss nicht in jedem Fall auf christliche oder jüdische Werte zurückgreifen. Es gab auch in der Arbeiterbewegung Werte, die völlig in Ordnung sind.

B: Wer wollte denn das bestreiten?

D: Dann sprechen Sie doch der anderen Seite nicht Kulturlosigkeit zu.

B: Ich rede von einem Verlust an kulturellem Wissen. Man kann beispielsweise mittelalterliche Kunst und Kultur nicht verstehen, wenn man keine Ahnung von der Glaubensgeschichte hat.

D: Natürlich gehört das Wissen über biblische Geschichte und Religionen zur Allgemeinbildung. Wie gut, dass das heute im Ethik-Unterricht gelehrt wird. Ich bin glücklicherweise diesbezüglich nicht ganz unwissend aufgewachsen. Es gibt aber auch die Theorie, dass ein gewisses Nichtbetroffensein von sektenhaften Feindseligkeiten Vorteile mit sich bringt. Der erbitterte Streit darüber, wer nun der richtige Messias war oder ob mit ihm noch zu rechnen ist, lässt Atheisten ziemlich kalt. Einige Wissenschaftler sehen darin einen der Gründe, weshalb der Antisemitismus in der DDR und auch heute in Ostdeutschland deutlich geringer war und ist als in Westdeutschland.

B: Ich halte es für keinen Zufall, dass die stärksten Kritiker der SED-Diktatur aus den Kirchen in der DDR kamen.

D: Ja, aus der Kirche und aus der SED selbst. Von da kam Insiderwissen über die Strukturen, denken Sie an Bahro, Hawemann, Löst. Viele Kritiker waren geschasste Genossen.  Als junge Autorin habe ich viel in Kirchen gelesen, es gab da keine  Berührungsängste. Ich habe den moralischen Rigorismus, der von den  Kirchenleuten kam, weitgehend übernommen. Die zehn Gebote habe  ich akzeptiert. Und doch gab es immer den Versuch, den religiösen Regeln atheistische, säkulare Gebote entgegen zu setzen. Das muss kein Widerspruch sein.

Herr Brumlik, hat die in Ihren Augen religiöse Kulturlosigkeit der Ostdeutschen ein Demokratiedefizit zur Folge?

B: Die Ostdeutschen hatten noch viel weniger Gelegenheit, westlich parlamentarische Demokratie zu erleben als die Westdeutschen. Betrachten wir nur mal die vergangenen hundert Jahre: Da gibt es so etwas wie Demokratie  im Jahr 1919, das hält bis 1933. Es folgen 12 Jahre Nazidiktatur, und im Osten schließlich 40 Jahre SED-Diktatur. Dann kann man fragen: Wo soll Demokratieverständnis denn herkommen?

Im Westen sind ehemalige Nazis Richter und Hochschullehrer geworden.

B: Gewiss, wir hatten immer wieder solche Fälle, auch in großen Parteien, vor allem bei CDU und CSU gab es nicht wenige frühere Nationalsozialisten. Aber es gab immer so etwas wie eine Öffentlichkeit, die das angeprangert und dagegen gekämpft hat.

Sind die Ostdeutschen zu doof für Demokratie, Frau Dahn?

D:  Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich Ja sage?  In der Wendezeit haben wir erlebt, wie sich viele Menschen für mehr Demokratie engagiert haben. Sie wollten sich stärker einbringen, das Geschehen direkt beeinflussen. Es gab die allseits bekannten Montagsdemos, überall Runde Tische, von unten wurde nach oben weitergegeben, was man sich wünschte. Und das alles ohne Gewalt. Da waren hunderttausende Leute in einer politisch reifen Weise aktiv. Darüber staunten wir selber.  Bald kam es aber zur  Desillusionierung: Die Hoffnung, sich weiterhin einzubringen zu können, schwand. Die Gewalt ging nicht mehr vom Volke aus. Das führte letztlich zu einem Nationalismus der Deklassierten, das zeigen die Wahlerfolge der AfD.

B: Da kann ich nur sagen: Diese Leute haben das Wesen der parlamentarischen Demokratie nicht verstanden. Etwas Besseres haben wir nicht. Um mit Brecht zu sprechen: Das sind die „Mühen der Ebene“. Jeder Mann und jede Frau kann in politische Parteien eintreten, in Ortsräte gehen, in Kommunalparlamente.

D: In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung habe ich mich als Verfassungspatriotin bezeichnet. Damals fand ich, dass unser Problem eher zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit lag. Bis ich irgendwann merkte, dass das Hauptversprechen des Grundgesetzes schlicht nicht erfüllt wird.

B: Nämlich?

D: Alle Gewalt geht vom Volke aus.

B: Im Rahmen der repräsentativen Demokratie – mehr heißt das nicht. Mehr soll das auch gar nicht bedeuten.

D: Dann antworte ich ebenfalls mit Brecht: Es wird immer nur so viel Vernunft produziert, wie zur Aufrechterhaltung  bestehender Zustände  nötig ist. Das hat etwas sehr Affirmatives. Das Parlament macht nicht das, was die Wähler ihm aufgetragen haben. Zum Beispiel sind 80 Prozent der Menschen gegen Kriegseinsätze. Das Parlament beschließt sie trotzdem. Ebenso das Umwandeln von Wohnungen und öffentlichen Gütern in Privateigentum.

B: Den Kapitalismus werden wir nicht abschaffen.

D: Wir sind weit gekommen, ja, wir sind ein reiches Land. Aber wir sind auch weit darin gekommen, die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werden zu lassen. Vor allem international. Und wenn Sie sagen, dass die Frust- und Wutbürger die Demokratie nicht verstanden haben, dann ist das arrogant. Vielleicht haben sie sie nur zu gut verstanden.

B: Sämtliche Alternativen zum Kapitalismus haben sich als schlimmer erwiesen.

D: Das muss ja nicht so bleiben. Warum haben denn die sogenannten Volksparteien so viel Vertrauen verloren? Entweder gelingt es, die Leute wieder einzubinden und sozialen Ausgleich zu schaffen, oder wir erleben einen weiteren Rechtsruck. Ich glaube, dass es im Osten stärkere, durch die Erfahrungen der Wende bedingte Verlustängste gibt. Und das Gefühl: Wir sind immer noch Bürger zweiter Klasse.

B: Das ist doch ein Generationenphänomen. Stimmen Sie mir zu, dass eine Generation gebildeter junger Menschen aus Ostdeutschland diese Aberkennung nicht mehr so stark wahrnimmt?

D: Für sich selber sicher, aber nicht für die Geschichtsschreibung. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass 70 Prozent der ostdeutschen Schüler sagen, die DDR war kein Unrechtsstaat. Im Westen sagen das nur 20 Prozent der Gleichaltrigen.

Ist Identität – oder Mentalität – sozial vererbbar?

D: Prägungen aus dem Elternhaus werden übergeben. Das eher osteuropäische  Feiern, das Datschenwesen, ein gewisser Zusammenhalt in den Betrieben. Gleichzeitig beobachte ich eine Angleichung unter jungen Leuten: Sie hören dieselbe Musik, leben in WG´s, reisen gemeinsam, da macht es keinen Unterschied mehr, woher jemand kommt.

B: Das gab es alles bei uns auch. Ich sehe da keine Differenz.

Ist der Unterschied möglicherweise der, dass die DDR einem immer sagte: Wir wollen dich, wir brauchen dich, du bist uns etwas schuldig. Im Westen hat der Staat einen weitgehend in Ruhe gelassen, jede und jeder machte sein individuelles Ding.

D: Jede Gesellschaft hat ihr Disziplinierungsmodell. In der DDR war das die Ideologie. Und im Westen ist das der finanzkonforme Arbeitsmarkt. Ich glaube, dass die verhaltensprägende Kraft des Kapitalismus  ungeheuerlich ist.

Wie meinen Sie das?

D: In der DDR konnte niemand entlassen werden, außer man wurde straffällig. Also sah man in den Kollegen nicht so stark Konkurrenten. Das wirkte bis ins Privatleben. Ich beobachte, dass Ostdeutsche heute noch einen größeren Freundeskreis haben als Westdeutsche. Vielleicht ist das Zufall, vielleicht nicht.

Dem widerspricht eine Studie des Zentrums für Sozialforschung in Halle von 2014. Danach empfindet eine Mehrheit der Ostdeutschen die Wiedervereinigung als Vorteil für Ostdeutschland. 70 Prozent der Ostdeutschen sagen sogar, dass heute die Chancen für den persönlichen Aufstieg größer sind.

D: Das ist doch sehr schön. Aber kein Widerspruch. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der nach der Wende sagte, die Ostdeutschen müssten jetzt durch den Windkanal.

Was meinte er damit?

D: Marktförmig werden. In der DDR haben sich Ostdeutsche in politischen Anpassungstaktiken geübt, heute müssen sie sich marktpolitisch anpassen.

Was ist schlimmer?

D: Eine Leitungsposition in der DDR war schon deshalb nicht immer erstrebenswert, weil der Unterschied in den Gehältern zwischen Chef und Untergebenen nicht so hoch war wie heute. Und je höher man stieg, umso weniger Spielraum hatte man politisch.

Karriere war im Osten nicht attraktiv?

D: Nicht so attraktiv wie heute. Heute trifft das nicht mehr zu, heute haben sich die Ostdeutschen diesbezüglich vermutlich auf westliche Denkmuster eingestellt.

Der Theologe, SPD- und Linksparteipolitiker Edelbert Richter hat mal gesagt, der Osten wurde nach dem Mauerfall verwestlicht, weil die Menschen die Marktwirtschaft lernen mussten. Und jetzt würde der Westen verostlicht, weil die Menschen in unsicheren Zeichen nach dem starken Staat rufen. Richtig?

B: Ich finde nicht. Der westdeutsche Sozialstaat hat bis in die 80er Jahre hinein sehr gut funktioniert, die sogenannte soziale Marktwirtschaft mit Kündigungsschutz und Rente und so weiter. Ist das verostlicht? Nein.

D: Vielleicht hat es so gut funktioniert, weil es die Systemkonkurrenz gab.

B: Einiges spricht dafür.

Mit Kanzlerin Angela Merkel und dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck hatte die Bundesrepublik zwei Ostdeutsche an der Spitze. Warum erfahren gerade die beiden so viel Hass und Ablehnung?

D: Gauck war nicht der Bürgerrechtler, als der er sich ausgegeben hat. Als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde hat er mit dazu beigetragen, dass sich die Sicht auf die DDR verengte: Die DDR vor allem als Stasi-Staat. Die Behörde hat nach Analyse der Akten herausgefunden, dass nur zwei Prozent der DDR-Leute für die Stasi gearbeitet haben. 98 Prozent hatten also nichts mit ihr zu tun. Und trotzdem war das Vertrauen der Mehrheit in diese Behörde  gering. Weil die meisten wussten, dass Biografien instrumentalisiert werden konnten. Als Bundespräsident hat er den Mächtigen keine unbequemen Fragen gestellt.

Und Merkel?

D: Merkel wurde nicht  gehasst –  bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Flüchtenden  ins Land gelassen hat. Unabhängig davon hat sie sich nicht wirklich mit ostdeutschen Interessen profiliert. Sie ist eine gesamtdeutsche Kanzlerin.

B: Das ist ihre Aufgabe.

D: Ja, natürlich. Sie hätte trotzdem dann und wann offener sein können für den Frust der Leute.

Wann wird die Ost-West-Herkunft keine Rolle mehr spielen?

B: In der vierten Generation, bei jenen Menschen, die in den vergangenen zwei, drei Jahren geboren worden sind. Sagen wir also mal, 2030 bis 2035 wird das keine Rolle mehr spielen.

D: Sie wird keine Rolle mehr spielen, wenn die Lebensverhältnisse in Ost und West tatsächlich angeglichen sind. Noch heute kann sich Ostdeutschland wirtschaftlich nicht selbstständig tragen, es ist nach wie vor in hohem Maße subventionsbedürftig. Auch wenn drei Viertel der Ostdeutschen mit ihrer persönlichen materiellen Situation zufrieden sind, muss man wissen, dass das ein  alimentierter Wohlstand ist. Vielleicht wird das auch zum Dauerzustand. Auf jeden Fall dauert es noch mehrere  Generationen.

Können Sie sich vorstellen, dass es 2040, wenn Ost-West-Identität keine Rolle mehr spielen, eine Identität gibt, die Europa heißt?

B: Das kann ich nicht. Aber was ich heute feststelle, ist, dass wir ein Land sind, in dem bereits ein Viertel der Bevölkerung Migrationshintergrund hat. Ich glaube dass uns diese Entwicklung sehr viel stärker beeinflussen wird, als wir uns das heute vorstellen können.

D: Ich denke, dass es diese Europa-Mentalität gibt. Ich jedenfalls fühle mich als Europäerin.

Wir haben einen starken Zustrom von Menschen mit Migrationshintergrund und damit einer anderen Identität. Werden wir irgendwann ein Europa mit vielen verschiedenen Identitäten haben? Was wiederum ebenfalls identitätsstiftend ist?

D: Ja, die Vielfalt  als Identität. Wenn man sie als Bereicherung erfährt. Ich glaube, dass die Schwäche des heutigen Europas  ihren Konstruktionsfehler offenbart. . Es gab  eine Währungsunion, aber keine Sozialunion. Ja die Währungsunion hat die Abhängigkeit der schwächeren Länder vertieft, weil sie ihnen die finanzielle Souveränität genommen hat. Deshalb stoßen heute nationale Interessen aufeinander. Um das zu ändern müsste grundsätzlich die Struktur geändert werden.

Was meinen Sie konkret?

D: Es ist eine Schande für Europa, dass für die Bankenrettung zwanzig Mal mehr Geld ausgegeben wurde als für Flüchtlingsintegration.

B: Da stimme ich Ihnen zu. Um mit einem bösen Zitat des Historikers Hans-Ulrich Wehler zu enden. Er sagte: „In einigen Jahren wird die DDR nur eine Fußnote der deutschen Geschichte gewesen sein.“ Aber manchmal steht in den Fußnoten ja das Interessanteste drin.

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Galoppierende Gefahr

Daniela Dahn

Deniz Yücel Wer sich mit dem in der Türkei Inhaftierten Journalisten solidarisiert, sollte nicht übersehen, wie es um die Bürgerrechte in Deutschland steht

erschienen in: der Freitag | Nr. 48 | 30. November 2017

Neun Monate dauert die Geiselhaft nun an. Schon zum zweiten Mal hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereit erklärt, die Frist zu verlängern, bis zu der sich türkische Stellen zum Fall Deniz Yücel erklären sollen. Zuletzt bis zum 28. November. Ich versuche mir vorzustellen, wie einem sprach- und sachkundigen Korrespondenten zumute sein muss, der gerade jetzt gebraucht wird, um einzugreifen, stattdessen aber hinter Gittern lahmgelegt ist. Nein, nicht stattdessen, sondern deswegen. Wie fühlt sich ein Journalist, der verhaftet ist, weil er nach bestem Wissen und Gewissen seine Arbeit getan hat?
Deniz Yücel und so viele andere wie der jüngst verhaftete Intellektuelle Osman Kavala erfahren am eigenen Leib, was rechtliche Willkür und Gleichschaltung von Medien bedeuten. Zu den Anschuldigungen gegenüber Deniz Yücel gehört die „Unterstützung terroristischer Vereinigungen“ wie der Gülen-Bewegung und der kurdischen PKK. Dabei ist man als Journalist schon Unterstützer, wenn man nur einen führenden PKK-Vertreter interviewt. Kontaktschuld. Dieses Vorgehen trägt selbst terroristische Züge. Dabei werden inzwischen dubiose rechtliche Maßstäbe angewandt, eine Art politisches Feindstrafrecht.

Geschleifte Grundrechte

Deniz Yücel wird etwa der Straftat Datenmissbrauch beschuldigt. Und da stutze ich schon. Ist bei uns klar, was Datenmissbrauch ist? Journalistische und juristische Grauzonen der westlichen Demokratien fallen Yücel und anderen politischen Gefangenen der Türkei nun auf die Füße. „Edward Snowden hat ein neues Zeitalter des Strafrechts begründet“, schrieb der Spiegel 2013. Es war klar, dass die NSA weltweit eine gesetzeswidrige Vorratsdatenspeicherung betrieben hatte. Bis dahin galt das Ausspähen von Daten über Rechtsbrüche als geheimdienstliche Agententätigkeit und wurde mit mehrjährigen Haftstrafen belegt. Im Jahre eins nach Snowden setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch: Das Aufdecken staatlicher und privatwirtschaftlicher Rechtsbrüche ist gesellschaftlich erwünscht und darf nicht bestraft werden. Doch in diesem neuen Zeitalter hinkt die Rechtslage in Deutschland im internationalen Maßstab hinterher.
Ein diesbezüglicher Bericht der G20/ OECD-Arbeitsgruppe hat Deutschland Defizite beim Schutz von Whistleblowern bescheinigt und Empfehlungen für Standards gegeben, die bisher auch nicht annähernd erfüllt sind, wie auf der Seite von whistleblower-net.de zu lesen ist. Kanzlerin Merkel hat sich gegenüber den G20-Staaten, also auch gegenüber der Türkei, verpflichtet, entsprechenden gesetzlichen Schutz zu schaffen, doch nichts ist geschehen.
In einem Gesetzentwurf forderten die Grünen 2012, das Whistleblowing zum Grundrecht zu erklären. Ein Antrag der Linken ergänzte Ende 2014, dass Whistleblower, die beim Militär und in den Geheimdiensten Verstöße gegen Völker- und Menschenrecht aufdecken, dafür nicht verfolgt werden dürfen, auch wenn sie Geheimhaltungsvorschriften verletzt haben. Denn derartige Geheimnisse seien nicht vom Recht gedeckt. Ein solcher Schutz liege daher nicht nur im Interesse des Betroffenen, sondern der ganzen Gesellschaft. Weshalb auch Journalisten, die solche Verschlusssachen veröffentlichen, nicht haftbar gemacht werden dürfen. Zwei vergebliche Vorstöße der Opposition, versteht sich.
Die Praxis bleibt absurd. Außer in den USA gilt Edward Snowden überall als Held der Wahrheitsfindung. Als solcher hat er in 20 westlichen Staaten um Asyl gebeten, mit dem bekannten Ergebnis. Dabei hätte deutsches Recht ihn vor der Auslieferung an die USA schützen können. Wie das Recht der übrigen Staaten auch. Vasallentreue, auch von den Journalisten, denen selbst die USA unter Trump kein Grund waren, dieses Thema wieder aufzurollen. Noch im Januar gab es eine kurze Meldung: EU-Kommission will Whistleblower schützen, doch Deutschland bremst.
Was bleibt, sind Unklarheiten: Gibt es einen Unterschied von im Dienste der Wahrheit tätigen Hackern auf der einen und Whistleblowern, die das an die Öffentlichkeit bringen, auf der anderen Seite? Was bedeutet es für die Medien, dass Journalisten auf Informanten angewiesen sind, die nicht hinreichend geschützt sind und von Journalisten im Zweifelsfall auch nicht geschützt werden können?
Als Beleg für die von türkischer Seite gegen Deniz Yücel erhobenen Vorwürfe gilt ein Artikel aus der Welt, in dem dieser Erdoğan seine geheime, 6.000 Mann starke Troll-Armee zur gezielten Beeinflussung von Twitter und Facebook vorwirft. Die Erkenntnisse stammten von Redhack – in der Türkei als linksextremistische Terrororganisation angesehen. Die hatte 60.000 Mails von Berat Albayrak gehackt, dem einstigen Medienmogul und jetzigen Energieminister Erdoğans, der auch noch dessen Schwiegersohn ist. Im Lichte der deutschen Gummiparagrafen für Hacker und Whistleblower dürfe die Argumentation zur Verteidigung Yücels gar nicht so einfach werden.
Der 2015 in Kraft getretene Paragraf 202d StGB zur Datenhehlerei gilt als strafrechtliches Minenfeld. Er öffnet den Staatsanwaltschaften die Türen für die Durchsuchung von Redaktionen, wie damals bei den Bloggern von netzpolitik.org geschehen. Gegen sie wurde wegen Landesverrats ermittelt. Sie hatten zwei Papiere des Verfassungsschutzes veröffentlicht, in denen es um die Überwachung von vermeintlichen Radikalen auf deren Computern und in sozialen Netzwerken ging. Die Süddeutsche Zeitung zitierte einen namenlosen Juristen aus Karlsruhe: Schmal sei der Grat „zwischen dem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Staates und der Möglichkeit, mithilfe dieser Vorschrift auch die Aufdeckung von Missständen zu verhindern und Medien zu schikanieren“. Die Ermittlungen gegen netzpolitik.org wurden eingestellt. Aber was berechtigt uns zu der Annahme, dass es bei gleicher Rechtslage, aber anderen Regierungskoalitionen so bleibt?
Im selben Jahr hatte sich der DGB gegen eine neue EU-Richtlinie gewandt, nach der Journalisten nur in eng begrenzten Ausnahmefällen über Geschäftsgeheimnisse berichten dürfen. Vor dem Amtsgericht Oberndorf läuft seit längerem ein Verfahren gegen den Friedensaktivisten Hermann Theisen wegen Aufforderung zum Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nach Paragraf 111 StGB. Da er der Meinung ist, dass staatliche Aufsicht über das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz versagt, wollte er Insider- Wissen aktivieren. Deshalb hatte er an Mitarbeiter des Waffenproduzenten Heckler & Koch Flugblätter verteilt, auf denen er sie zum Whistleblowing aufrief. Vergeblich. Wer will schon seinen Job verlieren?

Greenpeace: Terroristen?

Wirtschaftsprüfer haben hierzulande sowieso keinen Schutz als Whistleblower, besonders wenn sie aufdecken, wie Konzerne Steuern sparen. Generell gibt es im Pressewesen keine Rechtsschutzversicherung, weil die juristische Interpretation dessen, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und was nicht, so unvorhersehbar ist, dass dies jeden Versicherer ruinieren würde. So bleibt das Risiko bei den Journalisten, ihren Verlegern oder Intendanten. Auch deshalb sind die Medien, wie sie sind.
Immerhin ist es noch nicht so lange her, dass diese Medien die schleichende Gefahr des Einzugs von Feindstrafrecht in Deutschland beklagt haben. Manche Journalisten sahen für das deutsche Recht gar eine galoppierende Gefahr, die die rote Linie schon überschritten hat. Diese besteht in dem juristischen Grundprinzip, wonach vor dem Gesetz alle gleich sind. Alle, also Freund und Feind. In unserem Recht verbietet sich ein Urteil ohne Beweisführung. Und die Todesstrafe verbietet sich sowieso, will man die Aufklärung nicht rückabwickeln.
Die gezielte Tötung von vermeintlichen Terroristen wirft da viele Fragen auf. Die Aufklärungsdrohnen der Bundeswehr vom Einsatzgeschwader in Masar-i-Scharif liefern die Daten für staatlich gewolltes Töten ohne rechtsstaatliche Ermittlungen und ohne Prozess. Wer ein Rebell ist, entscheidet die Turbanfarbe auf dem Video. Unter der afghanischen Zivilbevölkerung löst das ein Gefühl dauernder Bedrohung aus, das zu Radikalisierung führt. Der Rechtsstaat wird am Hindukusch verloren.
Kann er dann hierzulande verteidigt werden oder erwartet uns eine Art Feindstrafrecht gegen politische Unruhestifter, die das System der Bereicherung der Eliten (verschwörerisch) in Frage stellen? Die Überwachung und Einschüchterung von G8-Protestlern 2007 in Rostock und Heiligendamm durch Panzerspähwagen, Tornados und US-Kriegsschiffe und die zeitweilige Unterbringung Festgenommener in Metallgitter-Käfigen mag da ein Vorgeschmack gewesen sein. Für solche Eingriffe ist durch die gemeinsame EU-Terrorismusdefinition auch vorgesorgt. Danach ist eine Tat dann terroristisch, wenn sie mit der Absicht begangen wurde, die „politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen“ eines Landes „zu bedrohen und stark zu beeinträchtigen oder zu zerstören“. Wer sich gegen marktradikale Strukturen einsetzt, könnte also als Terrorist bestraft werden, was bereits passiert ist. 2006 haben Greenpeace-Aktivisten in Dänemark ein Bürohaus erklommen, um dort ein Anti-Genmais-Plakat auszurollen. Für diesen Akt zivilen Ungehorsams sind sie nach einer Strafnorm verurteilt worden, die sich auf jene EU-Terrorismusdefinition berief.
Hierzulande ist dabei Paragraf 129a StGB behilflich, der nicht zimperlich ist, Gruppierungen als terroristische Vereinigung zu deklarieren. Strafrecht ist Individualstrafrecht, doch hier genügt es, einer Organisation Sympathie bekundet zu haben, der die Begehung künftiger Straftaten unterstellt wird. Autonome der Hausbesetzer-Szene, der Anti-Atom-Politik oder Mitglieder von Antifa-Gruppen sind so verurteilt worden. Natürlich nicht mit unbegrenzter Untersuchungshaft. Aber nachhaltig genug, um als Vorbestrafte einen schwereren Lebensweg zu haben.
Es ist wohltuend, wie hartnäckig die Kollegen von Deniz Yücel bei der Welt nun für ihn kämpfen und vor das türkische Verfassungsgericht ziehen wollen. Vielleicht kommt das Engagement etwas spät. Mir ist zumindest entgangen, dass die Zeitung sich bei der Aufarbeitung der Grauzonen des deutschen und EU-Rechts, die Repressionen gegen Oppositionelle aller Art ermöglichen, hervorgetan hätte.
Westliche Werte verteidigt man am besten, indem man sie selbst einhält. Damit Geschichte sich nicht wiederholt, muss aus ihr gelernt werden. Der Verfall von Demokratie beginnt oft mit dem Verfall von Recht. Solidarität mit Deniz Yücel heißt daher auch, den Anfängen juristischer Schieflagen zu wehren und sich dafür einzusetzen, dass deutsches Recht ein klares Bürgerrecht ist. Damit könnte man in Europa einmal Vorbild sein.

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Journalismus ist kein Verbrechen – Free Deniz und alle anderen

Daniela Dahn

Ich versuche mir vorzustellen, wie einem rasenden Reporter, einem sprach- und sachkundigen Korrespondenten, ja überhaupt einem aktiven Menschen zumute sein muss, der gerade jetzt gebraucht wird, eingreifend mitgestalten will und stattdessen hinter Gittern lahmgelegt ist. Nein, nicht stattdessen, sondern deswegen. Wie ist einem Journalisten zumute, der verhaftet ist, weil er nach bestem Wissen und Gewissen seine Arbeit getan hat. Wie hält man dieses Gefühl himmelschreienden Unrechts aus?

Deniz Yücel und so viele andere Weggesperrte müssen ohnmächtig mit ansehen, wie in einem Land, dessen Wohl ihnen am Herzen liegt, ein fanatischer und nationalistischer Präsident und seine Regierung polarisieren und ins Extrem führen. Die PR-Berater von Recep Tayyip Erdogan scheinen zu glauben, wenn ihr Mandant anderen Regierungen, gern auch der deutschen, faschistoide Methoden vorwirft, mache er sich selbst gegen diesen Vorwurf immun. In der Tat kann man diesen Präsidenten kaum einen klassischen Diktator nennen. Denn er ist, das macht es besonders bitter, unbestritten von Mehrheiten demokratisch legitimiert.

Das kommt uns bekannt vor. Auch der Freitod der Demokratie ist ein Meister aus Deutschland. Nationalistischer Narzissmus, religiöse Erweckungsphantasien, imperialer Größenwahn – was für ein Vernunft narkotisierendes Gebräu. Kritische Journalisten erfahren in der Türkei nun am eigenen Leibe, was Gleichschaltung von Medien bedeutet. Zu den willkürlichen Anschuldigungen gegenüber Deniz Yücel gehört die Unterstützung terroristischer Vereinigungen wie der Gülen-Bewegung und der kurdischen PKK. Dabei ist man als Journalist schon Unterstützer, wenn man nur einen führenden PKK-Vertreter interviewt. Der türkische Rechtsstaat schwankt und wankt, als sei er einem Hurrikan ausgesetzt. Für Andersdenkende und Oppositionelle werden inzwischen dubiose rechtliche Maßstäbe angewandt, eine Art politisches Feindstrafrecht.

Dies mit der gebotenen Empörung niederschreibend, stutze ich plötzlich. Nicht, weil auch bei uns tausende politisch aktive Kurden, die aus der Türkei geflohen sind, kriminalisiert worden sind, ihre Druckereien und Redaktionen untersucht, sie inhaftiert oder abgeschoben wurden. Obwohl die PKK sich gewandelt hat und inzwischen im Kampf gegen den IS Verbündete des Westens ist, bleibt sie auf Drängen des Nato-Partners Türkei auf der EU-Terrorliste – das ist nur eine der vielen Paradoxien in dieser Geschichte.

Ich stutze, weil Deniz Yücel auch der Straftat Datenmissbrauch beschuldigt wird. Aber ist bei uns etwa klar, was Datenmissbrauch ist? Journalistische und juristische Graubereiche der westlichen Demokratien fallen Deniz Yücel und den übrigen politischen Gefangenen der Türkei nun auf die Füße.

„Edward Snowden hat ein neues Zeitalter des Strafrechts begründet“, schrieb der Spiegel 2013. Denn nun war klar, dass die NSA gesetzwidrig weltweit unbegrenzte Vorratsdatenspeicherung betreibt. Bis dahin galt das Ausspähen von Daten über Rechtsbrüche als geheimdienstliche Agententätigkeit und wurde mit mehrjährigen Haftstrafen belegt. Im Jahre 1 nach Snowden setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass das Aufdecken staatlicher und privatwirtschaftlicher Rechtsbrüche gesellschaftlich erwünscht ist und nicht bestraft werden darf.

Doch in diesem neuen Zeitalter hinkt die Rechtslage in Deutschland im internationalen Maßstab hinterher. Ein diesbezüglicher Bericht der G20/OECD-Arbeitsgruppe hat Deutschland Defizite beim Schutz von Whistleblowern bescheinigt und Empfehlungen für Standards gegeben, die bisher auch nicht annähernd erfüllt sind, wie auf der Seite von whistleblower.net nachzulesen ist. Bundeskanzlerin Merkel hat sich gegenüber den G20-Staaten, also auch gegenüber der Türkei, verpflichtet, entsprechenden gesetzlichen Schutz zu schaffen, doch nichts ist geschehen. (Deutschland hat schließlich auch elf Jahre gebraucht, bis es die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert hat.)

In einem Gesetzentwurf forderten die Grünen 2012, das Whistleblowing zum Grundrecht zu erklären. Ein Antrag der LINKEN ergänzte im November 2014, dass Whistleblower, die beim Militär und in den Geheimdiensten Verstöße gegen Völker- und Menschenrecht aufdecken, dafür nicht verfolgt werden dürfen, auch wenn sie Geheimhaltungsvorschriften verletzt haben. Denn derartige Geheimnisse seien nicht vom Recht gedeckt. Ein solcher Schutz liege daher nicht nur im Interesse des Betroffenen, sondern der ganzen Gesellschaft. Weshalb auch Journalisten, die solche Verschlusssachen veröffentlichen, nicht haftbar gemacht werden dürften. Zwei vergebliche Vorstöße der Opposition, versteht sich.

Die Praxis bleibt absurd. Außer in den USA gilt Edward Snowden auf der ganzen Welt als Held der Wahrheitsfindung. Als solcher hat er in 20 westlichen Staaten um Asyl gebeten, mit dem bekannten Ergebnis. Dabei hätte deutsches Recht ihn bei politischem Willen vor Auslieferung an die USA schützen können. Wie das Recht der übrigen Staaten auch. Vasallentreue. Auch von den Journalisten, denen selbst eine USA unter Trump kein Grund war, dieses Thema wieder aufzurollen. Noch im Januar diesen Jahres gab es eine kurze Meldung: EU-Kommission will Whistleblower schützen, doch Deutschland bremst.

Was bleibt, sind Unklarheiten: Gibt es einen Unterschied von im Dienste der Wahrheit tätigen Hackern auf der einen und Whistleblowern, die das an die Öffentlichkeit bringen, auf der anderen Seite? Was bedeutet es für die Medien, dass Journalisten auf Informanten angewiesen sind, die nicht hinreichend geschützt sind und die die Journalisten im Zweifelsfalle auch nicht schützen können?

Als Beleg für die von türkischer Seite gegen Deniz Yücel erhobenen Vorwürfe gilt ein Artikel aus der Welt, in dem Yücel Erdogan seine geheime, 6000 Mann starke Troll-Armee zur gezielten Beeinflussung von Twitter und Facebook vorwirft. Die Erkenntnisse stammten von Redhack – in der Türkei als linksextremistische Terrororganisation angesehen. Sie hatten 60.000 Mails gehackt, vom einstigen Medienmogul und jetzigen Energieminister von Erdogan, Berat Albayrak, der zu allem Überfluss auch noch sein Schwiegersohn ist. Im Lichte der deutschen Gummiparagraphen für Hacker und Whistleblower dürfte die Argumentation zur Verteidigung Yücels gar nicht so einfach werden.

Der 2015 in Kraft getretene §202d StGB zur Datenhehlerei gilt als strafrechtliches Minenfeld. Er öffnet den Staatsanwaltschaften die Türen für die Durchsuchung von Redaktionen, wie damals bei den Bloggern von Netzpolitik.org geschehen. Gegen sie wurde wegen Landesverrat ermittelt. Sie hatten, Deniz wird sich erinnern, zwei Papiere des Verfassungsschutzes veröffentlicht, in denen es um die Überwachung von vermeintlichen Radikalen auf deren Computern und in sozialen Netzwerken ging. Die Süddeutsche zitierte einen namenlosen Juristen aus Karlsruhe: Schmal sei der Grat „zwischen dem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Staates und der Möglichkeit, mithilfe dieser Vorschrift auch die Aufdeckung von Missständen zu verhindern und Medien zu schikanieren“. Die Ermittlungen gegen Netzpolitik.org wurden eingestellt. Aber was berechtigt uns zu der Annahme, dass es bei gleicher Rechtslage aber anderen Regierungskoalitionen so bleiben wird?

Im selben Jahr hatte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund gegen eine neue EU-Richtlinie gewandt, nach der Journalisten nur in eng begrenzten Ausnahmefällen über Geschäftsgeheimnisse berichten dürfen. Zur Zeit läuft vor dem Amtsgericht Oberndorf ein Strafverfahren gegen den Friedensaktivisten Hermann Theisen wegen Aufforderung zum Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nach §111 StGB. Da er der Meinung ist, dass staatliche Kontrolle über das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz versagt, wollte er Insiderwissen aktivieren. Deshalb hatte er an Mitarbeiter des Waffenproduzenten Heckler & Koch Flugblätter verteilt, auf denen er sie zum Whistleblowing aufrief. Auch vergeblich. Wer will schon seinen Job verlieren. Einer vor Gericht reicht ja.

Wirtschaftsprüfer haben hierzulande sowieso keinen Schutz als Whistleblower, insbesondere wenn sie aufdecken, wie Konzerne Steuern sparen. Generell gibt es im Pressewesen keine Rechtsschutzversicherung, weil die juristische Interpretation dessen, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und was nicht, so unvorhersehbar ist, dass dies jeden Versicherer ruinieren würde. So bleibt das Risiko bei den Journalisten und ihren Verlegern oder Intendanten. Auch deshalb sind die Medien wie sie sind.

Immerhin ist es noch nicht so lange her, dass diese Medien die schleichende Gefahr des Einzugs von Feindstrafrecht in Deutschland beklagt haben. Auch deshalb stutze ich, wenn ich Erdogans Instanzen zu Recht, wie ich meine, die Anwendung von Feindstrafrecht gegenüber den vielen beweislos Inhaftierten vorwerfe. Manche Journalisten sahen für das deutsche Recht gar eine galoppierende Gefahr, die die rote Linie schon überschritten hat. Diese besteht in dem juristischen Grundprinzip, wonach vor dem Gesetz alle gleich sind. Alle, also Freund und Feind. In unserem Recht verbietet sich ein Urteil ohne Beweisführung. Und die Todesstrafe verbietet sich sowieso, will man die Aufklärung nicht rückabwickeln.

Die gezielte Tötung von vermeintlichen Terroristen wirft da viele Fragen auf. Die sogenannten Aufklärungsdrohnen der Bundeswehr vom Einsatzgeschwader in Masar-i-Scharif liefern die Daten für staatlich gewolltes Töten ohne rechtsstaatliche Ermittlungen und ohne Prozess. Wer ein Rebell ist, entscheidet die Turbanfarbe auf dem Video. Unter der afghanischen Zivilbevölkerung löst das ein Dauergefühl der Bedrohung aus, das wiederum folgerichtig zu Radikalisierung führt. Die große Mehrheit der Deutschen ist gegen solche völkerrechtswidrigen Praktiken. Auch gegen die stillschweigende Akzeptanz US-amerikanischer Verhörmethoden, die auch gegenüber deutschen Staatsbürgern angewendet werden. Doch eine breite und vor allem andauernde Diskussion darüber gibt es nicht. Etwa wie Mitte der 90er Jahre, als der Streit um die Strafbarkeit des verwendeten Tucholsky-Zitates „Soldaten sind Mörder“ durch die Medien und Gerichte bis zum Bundesverfassungsgericht ging. Heute ist unser Feindstrafrecht offenbar kein Grund zu anhaltender Sorge. Der Rechtsstaat wird am Hindukusch verloren.

In meinem Buch „Wehe dem Sieger“ habe ich schon 2009 versucht mir vorzustellen, wie man sich als politisch Engagierter angesichts durchlöcherter Bürgerrechte fühlt: „Kommt niemand auf die Idee, dass, was jetzt gegen islamistische Verschwörer erdacht wird, bald schon als aktualisierte Notstandsgesetze gegen Unruhe in der eigenen Bevölkerung in Stellung gebracht werden könnte? Die Überwachung und Einschüchterung von G8-Protestlern 2007 in Rostock und Heiligendamm durch Panzerspähwagen, Tornados und US-Kriegsschiffe und die zeitweilige Unterbringung Festgenommener in Metallgitter-Käfigen mag da ein Vorgeschmack gewesen sein. Erwartet uns eine Art Feindstrafrecht gegen Oppositionelle, die das System der Bereicherung der Eliten (verschwörerisch) in Frage stellen? Für derartige Eingriffe ist durch die gemeinsame EU-Terrorismusdefinition auch schon vorgesorgt. Danach ist eine Tat dann terroristisch, wenn sie mit der Absicht begangen wurde, die ,politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen‘ eines Landes ,zu bedrohen und stark zu beeinträchtigen oder zu zerstören‘. Wer sich für eine andere Wirtschaftsordnung einsetzt, könnte also als Terrorist bestraft werden. Das ist auch bereits passiert. 2006 haben Greenpeace-Aktivisten in Dänemark ein Bürohaus erklommen, um ein Anti-Genmais-Plakat auszurollen. Für diesen Akt zivilen Ungehorsams sind sie nach einer Strafnorm verurteilt worden, die sich auf jene EU- Terrorismusdefinition berief.“

Auch ohne Inkrafttreten der Notstandsgesetze, deren Geheimhaltung offenbar fast alle Journalisten akzeptiert haben, sind hierzulande Praktiken der Einschüchterung und Verurteilung von Dissidenten und Oppositionellen längst erprobt. Berüchtigt dabei §129 a StGB, der nicht zimperlich ist, Gruppierungen als terroristische Vereinigung zu deklarieren und entsprechend zu bestrafen. Strafrecht ist Individualstrafrecht, doch hier genügt es, einer Organisation anzugehören oder Sympathie bekundet zu haben, der die Begehung künftiger Straftaten unterstellt wird. Zahllose Autonome der Hausbesetzerszene, der Antiatompolitik oder Mitglieder von Antifa-Gruppen sind der Terrornähe beschuldigt worden. Natürlich nicht mit unerträglich unbegrenzter Untersuchungshaft. Aber doch nachhaltig genug, um als Vorbestrafte einen schwereren Lebensweg zu haben und einschüchternd (oder radikalisierend?) auf das Umfeld zu wirken.

Es ist wohltuend, wie hartnäckig die Kollegen von Deniz Yücel von der Welt nun für ihn kämpfen und vor das türkische Verfassungsgericht ziehen wollen. Vielleicht kommt das Engagement aber auch etwas spät. Mir ist zumindest entgangen, dass diese Zeitung sich in der Aufarbeitung der Graubereiche des deutschen und EU-Rechts, die Repressionen gegen Oppositionelle aller Art ermöglichenden, besonders hervorgetan hätte.

Westliche Werte verteidigt man am besten, indem man sie selbst einhält. Damit Geschichte sich nicht wiederholt, muss aus ihr gelernt werden. Der Verfall von Demokratie beginnt oft mit dem Verfall von Recht. Solidarität mit Deniz Yücel heißt daher auch, den Anfängen juristischer Schieflagen zu wehren und sich dafür einzusetzen, dass deutsches Recht ein klares Bürgerrecht ist. Damit könnten wir in Europa und bei EU-Beitrittskandidaten ausnahmsweise einmal Vorbild sein.

Zur Pressefreiheit gehört auch die Freiheit zur Kritik an der Presse

Daniela Dahn

aus: Lügen die Medien? Das Medienkritik-Kompendium von Jens Wernicke
Westend-Verlag, September 2017

 

Ist Medienkritik per se „rechts“? Sind die Medien unparteiische Apparate, die die Wirklichkeit nur abbilden, oder vielmehr Instanzen der Macht, die die soziale Realität erst herstellen und dabei die Interessen der Macht gegen jene der Ohnmacht vertreten? Welche Geschichte hat die „Medienkritik“ und was ist zu tun, da  die Medien immer häufiger parteiisch Propaganda verbreiten? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit der Bestsellerautorin und Zeitkritikerin Daniela Dahn.

 

Frau Dahn, wer die Medien kritisiert, ist neuerdings rechts, insbesondere, wenn er dieselben als „Lügenpresse“ bezeichnet – meinen jedenfalls die Leitmedien. Sind die Medienkritiker also allesamt dumm oder verrückt und unsere Medien „Qualitätsmedien“?

Der Zeitgeist nimmt für seine Verbreitungsbasis gern die Bezeichnung Qualitätsmedien in Anspruch – eine PR-Behauptung, die einen permanenten Anspruch suggeriert, der vielmehr täglich neu bewiesen werden muss. Die sich auch gern Leitmedien nennenden Organe verlieren diese Leithammel-Funktion immer mehr. Die kulturelle Hegemonie, um diesen Schlüsselbegriff von Antonio Gramsci aufzugreifen, ist umkämpft wie lange nicht mehr. Wer nur die ewig selben Leitmedien kennt, gehört schon zum Establishment. Zu den Eliten, auf die die Mehrheit gerade nicht so gut zu sprechen ist, weshalb auch deren großes Geld nicht mehr die große Wirkung garantiert.

Die allen zugänglichen Medien, die nicht zufällig die sozialen genannt werden, entwickeln eine subversive Kraft. Jenseits von Eigentum an Grund und Boden und von großem Finanzvermögen hat sich im Netz spontan eine Art Gemeineigentum gebildet. Wem gehören bahnbrechende Institutionen wie Wikipedia? Allen und niemandem. Sie sind unabhängig von Werbekunden. Derartige Initiativen widerlegen das Vorurteil, dass etwas, was allen gehört, nicht verantwortungsvoll betrieben wird. Stattdessen ist es vielen frustrierten Medienkonsumenten der Versuch wert, zu beweisen, dass solch alternative Medien, Archive und investigative Faktensucher sogar verantwortungsvoller arbeiten, als die durch vielerlei Zwänge im System gefesselten Angestellten. Viele Leser sind inzwischen besser informiert als die permanent unter Zeitdruck arbeitenden Journalisten. Das ist eine ungeheure Herausforderung.

Warum kann man den Großmedien das Monopol auf Information nicht überlassen?

Der massenhafte Aufstand der Leser und Zuschauer begann mit der einseitigen Berichterstattung während der Maidan-Ereignisse in Kiew und der Rolle Russlands und der NATO in der Ukraine. Die Vertrauenskrise hält seither an. Damals quollen die Proteste, Gegendarstellungen und Beschimpfungen auf den Webseiten von ARD, ZDF und den großen Zeitungen über und oft wurden die Kommentarseiten erstmalig seit ihrer Existenz einfach geschlossen. Eine Bankrotterklärung? In der ARD-Medien-Dokumentation „Vertrauen verspielt?“ räumte der Sender im Juli 2016 ein, dass 67 Prozent der Zuschauer, Leser und Hörer wenig oder kein Vertrauen in die Medien hätten. Von Kulturwandel war die Rede und von verunsicherten Diskussionen über das journalistische Selbstverständnis.

Doch die Selbstreflexion des Berufsstandes blieb nicht nur in dieser Sendung unter dem Niveau, das nötig gewesen wäre, um Vertrauen wiederherzustellen. Zwar wurde eingeräumt, dass bei der Maidan-Berichterstattung das Treiben der Faschisten weitgehend fehlte und im Fall der Hetzjagd auf den damaligen Bundespräsidenten Wulff war von „Rudeljournalismus“ die Rede. Einzelne Fehler und Versäumnisse eben, die schließlich überall vorkommen. Kritik an grundsätzlichen Problemen wurde in der Tat aber ausschließlich im rechten Spektrum verortet. Die Denunziation der Kritiker als wirksamste Form, die Kritik selbst zu entsorgen.
Noch bequemer war der Versuch, seriöse wissenschaftliche Analysen, gut recherchierte polemische Essays und anspruchsvolle alternative Webseiten öffentlich gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Vorwürfe von Buchautoren wie Albrecht Müller, Harald Schumann, Uwe Krüger, Ulrich Teusch,Walter van Rossum oder Uli Gellermann werden einfach ignoriert. Die von all diesen Kritikern angesprochenen Schmerzzonen bleiben tabuisiert: die Folgen der Rücksicht auf die Interessen der Medieneigentümer und Anzeigenkunden, der Mangel an Zeit und Geld für Recherchen und der Rückgriff auf PR-Agenturen, die Existenz „diskreter Fabriken der Desinformation“ (Peter Scholl-Latour), die Disziplinierung durch Zeitverträge, der Zusammenhang von Karriere und Selbstzensur, die besseren Honorare für Beiträge, die den Mächtigen gefallen, Hofberichterstattung in Folge allzu enger Kontakte mit Politikern, der Mainstream als Parteinahme für die Elite, zu der man selbst gehört, die Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung, redaktionelle Vorgaben und Anpassungsdruck als Ursache für die Tendenz zu Selbstgleichschaltung, Meinungshomogenität durch Ausgrenzung allzu deutlicher Abweichler. Indem die selbsternannten Leitmedien bei ihrer Selbstreflexion diese Fragen weitgehend aussparen, belegen sie freiwillig den Hauptvorwurf gegen sie: Lügen durch Weglassen.

Also doch Lügenpresse?

Zwar fällt auf, dass insbesondere die öffentlich-rechtlichen Sender sich bemühen, Quellen transparenter zu machen, Fakten stärker zu hinterfragen und in Talkshows Andersdenkende zu Wort kommen zu lassen. Doch diese sind immer in der Minderheit und werden in aller Regel von der Mehrheitsmeinung in der Runde unterbrochen, übertönt, in die Ecke gedrängt, wenn nicht auf das Übelste beschimpft. Als Populist, Propagandist, Putin-Versteher, Verschwörungstheoretiker oder gar Lügner. Und das täglich – so etwa am 9. April bei „Anne Will“ gegenüber Michael Lüders, der es immer wieder wagt, die Verantwortung für den Flächenbrand im Nahen Osten und auch in Syrien beim Westen zu sehen. Und extreme Diffamierung am nächsten Tag in „hart aber fair“, nicht vom Moderator, aber von einigen Gästen gegenüber dem Ex-Planungsstabsoffizier der NATO Ulrich Scholz, der Trumps Bombardement in Syrien weder militärisch noch politisch nachvollziehbar fand.

Inzwischen übernehmen die Großmedien immerhin Methoden der Gegenöffentlichkeit, betreiben Faktenchecks und Faktenfinder.

Sie instrumentalisieren diese Werkzeuge aber ganz gern um nachzutreten: die Verfechter von abweichenden Meinungen gelten dann als „umstritten“, ihre Quellenlage als „dünn bis widersprüchlich“ und „nicht besonders substantiell“. Es werden allerlei Leute zitiert, die die erwünschte Position bestätigen, während Gegenaussagen weggelassen werden. Bei der Fülle von kursierenden Behauptungen und Fakten ist es nicht schwer, ein Übergewicht an Beweisen zugunsten des eigenen Standpunktes zusammenzutragen. Eine Gefahr, der sich natürlich auch die Medien der Gegenöffentlichkeit bewusst sein müssen. Ihr Markenzeichen sollte dennoch ganz offensiv nicht die nur als Fiktion existierende Ausgewogenheit sein, sondern das andernorts Tabuisierte und Unterdrückte.

 Wo sehen Sie Tabus und Zensur? Was verschweigen die Etablierten?

Besonders viele Tabus und Einseitigkeiten finden sich dort, wo es wirklich um Macht, Geschäfte und Einflusssphären geht, also in der Außenpolitik. Was treiben die 27000 allein vom Pentagon bezahlten PR-Leute eigentlich? Soviel Power allein im Dienste der Wahrheit?

Wie schnell die meisten Medien wieder bereit waren, Trump, Hollande und Merkel zu folgen, die ohne auch nur den Ansatz einer Untersuchung sofort wussten, dass Assad der „alleinige Verantwortliche“ für den jüngsten Einsatz von Giftgas im syrischen Chan Scheichun sei, hätte man nicht für möglich gehalten. Gibt es doch bis heute nicht einmal zu dem fürchterlichen Angriff 2013 in Ghouta einen eindeutig Schuldigen, sondern immer noch die widersprüchlichsten Angaben. Keines von diesen Medien stellte die naheliegende Frage, was für eine Idiotie es wäre, im Moment, da die eigene Armee in der Offensive ist, ein solches militärisch völlig irrelevantes Verbrechen zu verüben und damit die ganze Welt gegen sich aufzubringen. Viel zu selten wird gefragt: Wem nutzt es? Wer stattdessen als erster die Deutungshoheit erobert, ist Sieger. Deutungshoheit ist wichtiger als militärische Lufthoheit geworden.

Simpelste journalistische Grundsätze werden hierzulande immer wieder missachtet – etwa, dass es für eine Behauptung mindestens zwei unabhängige Quellen geben muß. Zur Zeit scheinen für fast alle Übel russiche Hacker verantwortlich zu sein, ohne dass man den Ehrgeiz spürt, nach einem Beweis wenigstens zu suchen. Oder der Grundsatz, dass im Konfliktfall beide Seiten gehört werden müssen. Die Regeln unseres „Feindbild-Journalismus“ besagen viel mehr, dass die Gegenseite unter keinen Umständen Gehör verdient, da sie a priori nur Propaganda verbreitet. Ausschließlich Lügen, die nicht mal wert sind, überprüft zu werden. Der Gegner wird genau so behandelt, als betreibe  er nichts als Lügenpresse. Das ist weder klug noch souverän. In unserer Medienlandschaft musste man annehmen, die syrische Regierung schweige zu den jüngsten Giftgas-Vorwürfen gegen sie. Aber es existiert ein Video mit der Stellungnahme des syrischen Außenministers al-Muallem (ja, der Diktator hat sogar richtige Minister). Die deutschen Fernsehsender haben diese nicht ganz unwichtige Erklärung übergangen.
Doch hoppla, wie zum Beweis, dass die Qualitätsmedien keine Tabus kennen, findet man sie unvermutet auf Tagesspiegel online. Nicht überraschend versichert darin der Minister, die syrische Armee habe in Chan Scheichun keine chemischen Waffen eingesetzt und werde auch künftig keine verwenden. Soweit nicht gerade beweiskräftig. Aber hier, nach 33 Sekunden, schneidet der Tagesspiegel den Rest weg. Die Fortsetzung findet man, soweit zu übersehen, nur auf arabischen oder russischen Seiten. Darin die brisante, aber relativ leicht zu überprüfende Behauptung des Ministers, die syrische Regierung habe in letzter Zeit viele Dutzende Male den UN-Sicherheitsrat darüber informiert, dass die in Syrien kämpfenden Terroristen über chemische Kampfstoffe verfügen. Die Warnungen seien aber ignoriert worden. Warum eigentlich, wo doch UNO-Inspektoren schon Giftgaseinsätze von Terroristen festgestellt haben? Was denkt sich wohl der Tagesspiegel bei einem solchen Schnitt? Wie kann er widerlegen, dass er hier zensiert hat?

Mündige Bürger haben ein Recht darauf zu erfahren, ob die schwerwiegende Behauptung des syrischen Außenministers stimmt. Und ob die Informationen an den UN-Sicherheitsrat Hinweise enthielten, wie IS und al-Nusra-Front an die Giftzutaten gekommen sind. Dies wissend, würde die russische Version des Vorgangs, dass nämlich chemische Kampfstoffe der Terroristen von Bomben getroffen wurden, plausibler. Wenn solche Gegen-Argumente  immer wieder verschwiegen werden, ist genauso Misstrauen geboten, wie bei den Behauptungen Assads.

Sind solche Beispiele Einzelfälle oder lassen sich derartige Beobachtungen verallgemeinern?

Das Institut Swiss Propaganda hat im Juni 2016 eine Studie über die Syrien-Berichterstattung der drei jeweils größten Zeitungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs in der Zeit unmittelbar nach Eintritt Russlands in den Syrienkrieg vorgelegt. 78 Prozent aller Artikel basierten auf Meldungen der großen Agenturen, null Prozent auf investigativer Recherche. Die Ausrichtung der Meinungsbeiträge, Gastkommentare und Interviewpartner war in der Welt, der Süddeutschen Zeitung, der Neuen Züricher Zeitung und dem österreichischen Kurier zu 100 Prozent NATO-konform. Die FAZ konnte im Untersuchungszeitraum einen ausgewogenen Beitrag vorweisen. Alle Zeitungen haben Propaganda zu 85 Prozent in Russland verortet, zu null Prozent in NATO-Staaten. Bei so viel vorauseilendem Gehorsam muss man sich nicht wundern, wenn die Leser vom Glauben abfallen.

Wie neu ist der Vorwurf der Lügenpresse eigentlich?

Es hat sicher Gründe, weshalb es seit Jahrhunderten Theater- oder Literaturkritik gibt, aber keine vergleichbar institutionalisierte Medienkritik. Obwohl Medien ungleich mehr Menschen erreichen, spätestens seit den Massenauflagen von Zeitungen in den Goldenen Zwanzigern.  Und noch mehr dann natürlich durch Radio, Fernsehen, schließlich Internet und die sogenannten sozialen Medien. Ein Bedürfnis nach solcher Kritik gibt es seit langem. Zur Pressefreiheit gehört die Freiheit der Kritik an der Presse. Kritik am Wahrheitsgehalt einzelner Artikel gibt es im Grunde seit Erscheinen der ersten Zeitungen. Lange Zeit wurde andererseits der Zweck von Zensur gerade damit erklärt, Zeitungen vom Lügen abzuhalten. Es gab also von Anfang an berechtigte Zweifel und zugleich Mechanismen, Zeitungen für bestimmte Tendenzen zu instrumentalisieren.
1676 veröffentlichte der Jenaer Rechtsgelehrte Ahasver Fritsch den „Diskurs über den Gebrauch und Missbrauch von Nachrichten“. Doch erst hundert Jahre später, als Folge der Aufklärung, begannen Zeitungen, gesellschaftliche Missstände zu artikulieren. Eine Art politische Opposition suchte die Öffentlichkeit und rief sofort strengste politische Zensur und Justiz auf den Plan. Man denke nur an die Demagogenverfolgung, die von Teilen der Presse affirmativ begleitet wurde.

Früher waren unbequeme Denker angeblich Demagogen, heute gilt ihr Infragestellen des Mainstreams als Propaganda oder Verschwörungstheorie und sie werden oft ausgegrenzt. Wie funktioniert Einschränkung von Pressefreiheit heute?

Die großen Zeitungen, Privatsender und Internetplattformen sind Waren, die sich verkaufen und Werbekunden bei Laune halten müssen. Mindestens so große Gefahren wie durch die oben benannten Strukturen drohen von dieser Seite. „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“, schrieb Karl Marx 1842 in der Rheinischen Zeitung. „Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu.“ Doch die Freiheit des Gewerbes hat gesiegt, Medien unterliegen der totalen Kommerzialisierung. Sie durch Kritik in ihrer Glaubwürdigkeit zu beschädigen, passt nicht ins Geschäftsmodell. Zumal die Öffentlich-Rechtlichen sich diesem Modell weitgehend angenähert haben – mit wichtigen Ausnahmen. Doch Verflachung durch Quote überwiegt. Am grundgesetzlichen Bildungsauftrag schrammen die Öffentlich-Rechtlichen mit ihren die beste Sendezeit füllenden Krimis, Thrillern, Komödienstadeln, Soaps und Actionfilmen meist vorbei. Erst auf der Mitternachtsschiene wird es gelegentlich interessant.

Die Vorwürfe gegen Kritiker sind aber schwerwiegender, vielleicht aus diesen Gründen. „Lügenpresse“ war das Unwort des Jahres 2014, beliebt bei Pegida und AfD, obwohl es als NS-belastet gilt.

Zu Recht. Goebbels und seine Leute haben auf das Widerlichste von der bürgerlich-liberalen Presse als Lügen- oder Systempresse gesprochen. Gesteuert und finanziert sei sie von einem angeblichen Weltjudentum, weshalb sie ihre Diffamierungen auf Juden und Kommunisten konzentrierten, die vermeintlich Lügen und Hetze verbreiten würden. Die „marxistische Presse“ oder „jüdische Journaille“ war nach dieser Lesart volksfeindlich und vertrat ausländische Interessen. Die Nazis haben den Begriff Lügenpresse allerdings nicht erfunden.
Der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Beda Weber schrieb 1848 in den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland“ über die „jüdische Lügenpresse“, die die Unruhen der Revolutionszeit angeheizt hätte. Wenig später beklagte das Bayrische Volksblatt, dass alles, was die Soldaten tun, in die „rothe Lügenpresse“ käme. In Grimms Wörterbuch gibt es das Stichwort „Lügenblatt“ als eines, welches „geflissentlich“, also absichtlich, Unwahrheit verbreitet.

In Kriegszeiten hatte der Begriff schon immer Konjunktur. Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 wurde die Lügenpresse hierzulande mit Vorliebe in Paris geortet. Im Ersten Weltkrieg veröffentlichte Reinhold Anton das Buch: Die Lügenpresse. Der Lügenfeldzug unserer Feinde. Darin sind die eigenen Nachrichten auf die Wahrheit abonniert, während die Feinde immer lügen. Das Muster kommt einem bekannt vor.

Man kann diesen umstrittenen Begriff also nicht einfach immer rechten Populisten in die Schuhe schieben?

Sicher nicht. Während der Novemberrevolution griffen auch Arbeiter- und Soldatenräte in ihren Reden die „Lügenpresse der Bourgeoisie“ an. Die bürgerliche Exilpresse bezeichnete ihrerseits die gleichgeschalteten Naziblätter als Lügenpresse, so Maximilian Scheer in der Neuen Weltbühne. Und im Kalten Krieg gehörte es zur Munition, die Medien der Gegenseite – vermutlich nicht immer zu Unrecht – der Lüge zu bezichtigen.
Nach all dieser Vorgeschichte gibt es Grund genug, mit dem Begriff sehr bedachtsam umzugehen, pauschale Verdächtigungen zu vermeiden. Was aber keinesfalls dahingehend instrumentalisiert werden darf, Medien, die einseitig berichten, verzerren oder wirklich lügen, nicht beim Namen zu nennen. Auch sie müssen mit sachlichem Faktencheck der Manipulation oder Lüge überführt werden dürfen. Die Ernennung zum „Unwort“ darf die Untat des tatsächlichen Lügens nicht tabuisieren. Kritiker dürfen nicht automatisch nach Rechts- oder Linksaußen abgeschoben werden. Eine allzu bequeme Methode, den Mainstream unangreifbar zu machen.

Was können wir tun? Was täte not?

Eigentlich müsste diese Art von Journalismus, der durch Weglassen und permanente Wiederholung unbewiesener Behauptungen verzerrt,  als umstritten gelten. Das nötige Bewusstsein dafür wird sich nur durchsetzen, wenn alternative Medien – nicht zu verwechseln mit den sogenannten alternativen Fakten –, gegenhalten. So qualifiziert und so permanent, dass diese Stimmen weder durch Diffamieren noch durch Ignorieren aus der Welt zu schaffen sind.

Daniela Dahn ist Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Bei Rowohlt sind bislang zehn Essay-Bücher erschienen, zuletzt „Wehe dem Sieger!“ und „Wir sind der Staat!“. 

Wie staatsnah ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk? – Beispiel Venezuela

Daniela Dahn

erschienen in: Nachdenkseiten vom 12.9.2017

Wie staatsnah ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk? Die Berichterstattung verfehlt ihren verfassungsmäßigen Auftrag – Beispiel Venezuela.

Die Moderation des sogenannten Kanzler-Duells hat demonstriert, dass sich die Fragen und Themen von ARD und ZDF den Privatsendern vollkommen angepasst haben. Da gibt es zweifellos Ausnahmen, besonders auf 3sat, Arte und Phoenix zu später Stunde. Aber die Nachrichten- und Informationssendungen – Kerngeschäft jeden Senders- müssen sich schon fragen lassen, wie öffentlich und rechtlich sie eigentlich sind.

Entsprechen sie noch den Anforderungen der Kommunikationsfreiheit und der im Rundfunkstaatsvertrag festgehaltenen Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne? Wer diese Fragen von Vornherein als rein rhetorisch oder gar polemisch abtut, sei an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. März 2014 erinnert. Darin wurde der ZDF-Staatsvertrag wegen des überproportionalen staatlichen Einflusses in den Aufsichtsorganen als verfassungswidrig erklärt. Die staatsnahen Vertreter im Fernseh- und Verwaltungsrat sollten auf ein Drittel begrenzt werden. Ob die anderen zwei Drittel in der Praxis nun tatsächlich unabhängig sind, sei dahingestellt.

Der ARD sind derartige gerichtliche Überprüfungen bislang erspart geblieben, nicht aber profunde Evaluierungen von sachkundigen Journalisten. Walter van Rossum schrieb einst über „Meine Sonntage mit ´Sabine Christiansen´“ und vor zehn Jahren „Die Tagesshow – Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht“. Darin beschrieb er an Beispielen, wie die Tagesschau verunklart, verschweigt, in Sprachregelungen erstickt und sich der Lesart der Regierung anpasst.

Der massenhafte Aufstand der Zuschauer und Leser gegen die sogenannten Qualitätsmedien begann dann im Frühjahr 2014 angesichts der einseitigen Parteinahme für die antirussischen Kräfte im Ukraine-Konflikt. Auch die online-Portale der ARD konnten sich vor kritischen Zuschriften oft nur durch Schließung der Kommentarfunktion retten. Kleinlaut und viertelherzig räumte der Sender einzelne Fehler ein, im Großen und Ganzen aber sei alles in Ordnung.

Zur Selbstgerechtigkeit der Groß-Medien gehört ihr Versuch, Kritik an ihnen vornehmlich rechts zu verorten, bei Pegida, AfD („Lügenpresse“) und anderen dubiosen Kräften. Statt Einsicht, Diffamierung der Kritiker. Dabei gibt es längst dutzende seriöse medienkritische Bücher von Wissenschaftlern, aufklärerische Plattformen von investigativen Journalisten, eine Netzöffentlichkeit, die gegenhält. Selbst Kanzlerin Merkel hat sich voriges Jahr auf der CDU-„Media-Night“ besorgt über den Glaubwürdigkeitsverlust der Medien geäußert. Es müsse uns alle unruhig stimmen, dass 60 Prozent der Bürger „wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien“ hätten.

Eine Meldung über diese Merkel-Sorge gab es in der ARD nicht. Dabei hatte selbst der Evangelische Pressedienst (epd-Medien) die Gremienaufsicht der Sender längst für reformbedürftig erklärt. Er empfahl konsequente Politikerferne, mehr Transparenz in der Gremienarbeit, mehr externen Sachverstand und vor allem eine kontinuierliche Programmevaluierung durch die Zivilgesellschaft, z.B. durch Zuschauer oder Media-Watch-Organisationen.

Welche Erfahrungen machen Vertreter dieser Zivilgesellschaft, wenn sie diese Empfehlungen mit viel Sorgfalt und unter erheblichem Einsatz von Zeit und Kraft ernst nehmen? Die Autoren des im Frühjahr erschienenen Buches „Die Macht um Acht – Der Faktor Tagesschau“ haben diesen Versuch unternommen. Volker Bräutigam war selbst zehn Jahre Redakteur bei der Tagesschau, kennt die Spielregeln als Insider. Der Jurist Friedhelm Klinkhammer war 35 Jahre beim NDR, u.a. als IG-Medien- und Gesamtpersonalratsvorsitzender. Und der Journalist Uli Gellermann analysiert auf seiner Website rationalgalerie seit Jahren angriffslustig das Politik- und Mediengeschehen. Die Autoren gehen über die bisherigen Formen der kritischen Beispielsammlung hinaus und prüfen neben der zu analysierenden Sendung auch die vorgeblich demokratischen Möglichkeiten der kritischen Teilhabe der Zuschauer. Denn der Rundfunkstaatsvertrag bietet über die allgemeine Beschwerde hinaus die Möglichkeit einer Eingabe in Form der „Programmbeschwerde“. Um einen Verstoß gegen die Programmrichtlinien zu rügen, muss besonders präzise argumentiert werden.

Dabei ist im Vergleich zu anderen Nachrichten-Formaten das Tagesschau-Ensemble noch das ansehnlichste. Die Hauptausgabe um 20:00 Uhr ist mit im Schnitt 9,11 Millionen Zuschauern mit Abstand die meistgesehene Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen. Als eine Art amtliche Vermittlung von Neuigkeiten empfiehlt es sich, die 15 Minuten zur Kenntnis zu nehmen, will man wissen, was in regierungsnahen Kreisen für wichtig erachtet wird. Auch wenn nicht wenige die Sendung in Hab-Acht-Haltung verfolgen, in der ständigen Erwartung, sich auch heute Abend wieder über Einseitigkeiten ärgern zu müssen. Das belegen tagtäglich die Zuschauer-Kommentare auf tagesschau.de. Durch die Lektüre des erwähnten Buches wird man für Techniken der Manipulation sensibilisiert und motiviert, diffuses Unbehagen durch eigene Recherchen auszugleichen.

Nehmen wir als beliebiges Beispiel dieser Tage die Berichterstattung über Venezuela. Das Narrativ, wie man heute bedeutungsvoll sagt, ist klar: Diktatur oder Demokratie, Misswirtschaft oder Wohlstand, Gewalt oder Rechtsstaatlichkeit. Dabei geht es hier vielmehr darum, dass die wohlhabende Klasse in Venezuela die Reformen von Chávez zugunsten der Armen nie akzeptiert hat. Es geht also um Verteilungsfragen, um die sozialpolitische Verfügung über die Einnahmen aus den reichen Ölvorkommen, um den bei erneuter Privatisierung zu befürchtenden Rückfall in die jahrhundertealte Marginalisierung der Unterschichten. Es geht um die Befürchtung, die rechte Oligarchie könne die Überbleibsel der Chávez-Revolution zerstören. Doch derartige Hintergründe sind in der Berichterstattung nicht vorgesehen.

Dass der im Westen verhasste Chávez-Nachfolger Maduro den „Wirtschaftskrieg des Unternehmerlagers“ für die schwere Versorgungskrise verantwortlich macht, da sie u.a. Tonnen von Lebensmitteln zerstört hätten, erfahren wir nicht. Zweifellos ist diese Lesart auch nur die halbe Wahrheit, aber bei den Halbwahrheiten der Opposition ist die Berichterstattung weniger zimperlich. Boykotte, Gewalt, Korruption und Verfassungsbruch finden sich leider auf beiden Seiten. Der einstige Vizepräsident Venezuelas, José Vicente Rangel, beschreibt es so: „Die Hauptverantwortung trägt die Führung der Opposition wegen ihrer Besessenheit, mit dem Chávismus Schluss zu machen, den Dialog zu verweigern, die Gewalt auf unverantwortliche Weise zu schüren. Aber ich gebe zu, dass es seitens des Chávismus Exzesse, Arroganz und falsche politische und ökonomische Maßnahmen gegeben hat.“

Die Folge ist, dass das demokratisch gewählte, wenn auch rechtspopulistisch dominierte Parlament die demokratisch gewählte Regierung nicht anerkennt und umgekehrt. Das Parlament hat drei Abgeordnete vereidigen lassen, denen Wahlbetrug nachgewiesen wurde. Woraufhin das Oberste Gericht entschieden hat, dass die Entscheidungen des Parlaments ungültig sind, solange diese Abgeordneten nicht abgezogen werden. Daraufhin hat wiederum das Parlament das Oberste Gericht für illegal erklärt und das Gerichtsgebäude wurde in Brand gesteckt. Wie zuvor schon eine Geburtsklinik und Kindergärten. Hat man davon in unseren öffentlich-rechtlichen Nachrichten je gehört?

Derzeit repräsentiert offenbar weder die Regierung noch die Opposition die Mehrheit der Venezolaner. Wie fast alle westlichen Regierungen unterstützt die deutsche dennoch die Opposition – Angela Merkel hat eben erst ihre Vertreter als Staatsgäste empfangen und zu verstehen gegeben, dass die EU nicht abgeneigt ist, sich den Trumpschen Sanktionen gegen die Regierung Maduro anzuschließen. Darin ist sie sich einig mit den Chefs in Frankreich, Spanien und Großbritannien. Regierungen dürfen parteiisch sein, wenn sie das ihren Wählern erklären können. Die Medien dürfen es gerade deshalb nicht. Sie müssten über alle Seiten objektiv berichten. Wir aber bekommen gar nicht mit, dass hier wieder ein Propagandakrieg läuft, die andere Seite ist fast völlig ausgeblendet, der Zug dieser Geschichte fährt nur auf einem Gleis. Die Tagesschau hat sich wiedermal auf die prowestliche Regierungsseite geschlagen. Obwohl die Sendesekunden knapp sind und ausschließlich neuen Informationen vorbehalten sein sollten, wiederholt sie Tag für Tag: Die Opposition fürchtet, Präsident Maduro werde eine Diktatur einführen. Immer wieder, bis es auch der letzte Zuschauer verinnerlicht hat.

Es gibt gewichtige Anhaltspunkte für solche Bedenken, die müssen hier nicht wiederholt werden, weil sie permanent dargelegt wurden. Es gibt allerdings auch mindestens so gewichtige Anhaltspunkte dagegen. Von denen hat man in der Tagesschau und in den meisten „Leitmedien“ nichts gehört. Oder nur einmalig an versteckter Stelle, so dass die Redaktion abgesichert ist. Warum erfahren wir nicht, dass Nicolás Maduro immer wieder bestätigt, dass Ende nächsten Jahres wie geplant Präsidentschaftswahlen abgehalten werden? Merkwürdiger Diktator. Und stimmt es, wie Reuters schon im Juni meldete, dass der Präsident ein Referendum über die neue Verfassung angekündigt hat? Das wäre dann immerhin eine Diktatur, über die das Volk das letzte Wort hat. Falls es nicht stimmt, warum fordert niemand zur Befriedung ein solches Referendum?

Stimmt es, wie ein offensichtlich sachkundiger Kommentator auf tagesschau.de schreibt, dass es für die verfassungsgebende Versammlung immerhin 6000 Kandidaten gab, von denen Jede und Jeder mindestens 1200 Unterschriften vorweisen musste, um antreten zu können? Dann wären bis zu 72000 Venezolaner direkt in die Auswahl der Kandidaten einbezogen gewesen, nicht nur Maduro persönlich, wie in der Berichterstattung unterstellt wird. Vielleicht schaffen die Korrespondenten es nicht, solche Angaben zu überprüfen. Vielleicht haben sie auch nicht den Auftrag. Das Ergebnis könnte nicht recht ins Diktaturbild passen.

Auch alles, was nicht zum Bild einer einzig für Demokratie stehenden Opposition passt, wird wegzensiert. Held der Berichterstattung ist Oppositionsführer Leopoldo López. Natürlich muss über seine erneute Verhaftung berichtet werden. Allerdings wäre es kein Nachteil, wenn man zusätzlich wüste, dass der einstige Harvard-Student schon den Putschversuch gegen den mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Hugo Chávez unterstützte, der nur durch den Widerstand der aufgebrachten Menge verhindert wurde. Auch soll er jetzt seinem Freund Trump eine Liste mit zu sanktionierenden Chávisten gegeben haben. Nicht uninteressant ist doch auch, dass die von Merkel geforderte Ausreisegenehmigung für seine Frau derzeit deshalb ausgesetzt ist, weil ein Gericht prüft, was es mit den 200 Millionen Bolivares (etwa 100 000 Euro) auf sich hat, die in ihrem Auto entdeckt wurden.

All das würde zwar nicht Maduros Verstöße gegen Pressefreiheit verständlicher machen, wohl aber die Nervosität im Regierungslager.

Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen seien über 100 Menschen umgekommen, heißt es immer wieder ganz neutral. Diese Opfer lastet man im Kontext der versimpelten Erzählung automatisch dem Diktator an. Denn von der Lynchjustiz der Opposition weiß man nichts. Etwa, dass der Anwalt José Félix Pineda, der für die verfassungsgebende Versammlung kandidierte, von oppositionellen Angreifern in seinem Haus erschossen wurde. Will man sich über die paramilitärischen Gruppen dieser Opposition informieren, über ihre Waffen und Ku-Klux-Klan-Methoden, mit denen sie einzelne, mutmaßliche Regierungsanhänger bei lebendigem Leibe angezündet haben, so muss man schon lateinamerikanische Quellen bemühen.

Oder wenigstens die Chicago Tribune.

Aus dem Büro der Generalstaatsanwältin, die inzwischen ihr Amt niedergelegt hat, hätte man erfahren können, dass von diesen Opfern nach bisherigen Ermittlungen nur 14 auf das Handeln staatlicher Behörden oder Sicherheitskräfte zurückzuführen sind und die Täter fast alle bestraft wurden. 27 Tote sind Opfer gewaltsamer Oppositioneller, 14 Plünderer sind bei einem selbstgelegten Brand umgekommen und 44 Fälle sind noch umstritten.

Unterschlagen werden die Pläne des Rechtspopulisten Juan Requesens, der aus den Zielen seiner oppositionellen Partei „Primero Justicia“ kein Geheimnis macht: ein Klima der Unregierbarkeit schaffen, Venezuela lahmlegen, ausländische Interventionen befürworten und einer verfassungsgebenden Versammlung einen „heftigen Krieg“ liefern.

In der Tagesschau wird vielmehr die stolze Zahl von angeblich 7,5 Millionen Stimmen für die Opposition mehrfach wiederholt, ohne anzumerken, dass dies ein ganz und gar unbelegbares Ergebnis ist, da die Wahlzettel sofort nach diesem symbolischen Akt vernichtet wurden. Dagegen wissen die Hersteller der Wahlautomaten, die Londoner Firma Smartmatic, ohne die Wahlbehörde konsultiert zu haben, sofort und „ohne jeden Zweifel“, aber auch ohne jede Beweisführung, dass die Wahl der Kandidaten für die verfassungsgebende Versammlung gefälscht wurde. Die Tagesschau greift dies gern und vielfach auf. Für die Hintermänner ihrer Quelle interessiert sie sich nicht. Etwa für den Vorstandsvorsitzenden von Smartmatic, Mark Malloch-Brown, der auch im Vorstand der Open-Society-Stiftung des US-Milliardärs George Soros sitzt.

Diese Stiftung hat sich bekanntlich hervorgetan durch die Unterstützung der „Farbenrevolutionen“ in Georgien und der Ukraine, auch der jugoslawischen Regime-Change NGO Otpor, die sich offen zu der Strategie bekennt, die Wahlen der zu stürzenden Regierung medienwirksam als gefälscht darzustellen. Malloch-Brown ist auch Vorsitzender der „International Crisis Group“, in der Vertreter der USA, der EU, Kanadas, Mexikos, Perus und Kolumbiens der Opposition in Venezuela „mit Rat und technischer Unterstützung“ zur Seite stehen.

Wenn die größte Erdölgesellschaft Lateinamerikas, der Staatsbetrieb Petróleos de Venezuela, eine Kooperation mit Russland und China ankündigt, dann erhebt das der einstige Chef der US-Ölgesellschaft Exxon Mobile und jetzige Außenminister Rex Tillerson zum Problem der „nationalen Sicherheit“. Die Destabilisierungsversuche der CIA in Venezuela sind unter Kennern der Materie kein Tabu, ganz sicher aber in der Tagesschau. Ein Zuschauer belegt auf Tagesschau.de ein Zitat von CIA-Direktor Michael Pompeo: die USA habe großes Interesse sicherzustellen, dass ein wirtschaftlich so fähiges Land wie Venezuela stabil sei. Mit anderen Worten: nicht unter der Kontrolle von Sozialsten. „Wir arbeiten deshalb hart daran“.

So hart, dass der Rat der Wahlexperten Lateinamerikas nicht gehört wird: Das Ergebnis der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung sei „wahr und vertrauenswürdig“, es sei das gleiche System angewandt worden wie 2015, als die Opposition gewann. So hart, dass ständig wiederholt wurde, dass sieben Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten das Wahlergebnis nicht anerkennen, die logische Folge daraus aber, dass nämlich die übrigen 28 Mitglieder sie anerkennen, unterschlagen wurde. So hart, dass auch Präsident Maduro nicht wahrgenommen wird, wenn er die Opposition wiederholt vergeblich auffordert, das von der Verfassung festgelegte Überprüfen des Wahlergebnisses nicht weiter zu boykottieren. Wenn Trump dann jenseits jeder Rationalität Venezuela mit Krieg droht, fragt kaum noch jemand: Was hat er dort zu suchen? Was will er mitbringen? Selbstbestimmungs- oder Völkerrecht offensichtlich nicht.

Am 31. August hat der vielgeschmähte, da angeblich diktaturverliebte Verfassungskonvent ein Dekret über einen „nationalen Dialog zur Stabilisierung der Wirtschaft“ verabschiedet. Über ein Wirtschaftsmodell, das die Abhängigkeit vom Erdöl weitgehend überwindet, sollen sich gemeinsam Gedanken machen Unternehmen und Wirtschaftsvertreter, wie auch Arbeiter und Kommunale Räte. (Chávez war ein Anhänger des russischen Adligen und Verfechters der Rätedemokratie Kropotkin und hat mit seiner fortschrittlichen Verfassung vom März 2000 erste Strukturen eingeführt.) Von dieser Aufforderung des Verfassungskonvents „an alle, das Land aufzubauen“, hat man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nichts gehört.

Viele Zuschauer sehen sich von der Tagesschau und anderen Leitmedien nicht hinreichend mit unabhängigen und zweifelsfrei recherchierten Informationen versorgt, um sich zu Venezuela eine eigene, begründete Meinung bilden zu können. Das ist das eigentliche Dilemma. Weil es natürlich nicht nur Venezuela betrifft, sondern eigentlich das ganze Weltgeschehen. Es wird ein selektives Angebot von Symptomen serviert, das unerwünschte kausale Zusammenhänge weitgehend ausspart. Und das entgeht den Bürgern nicht, die den Mainstream-Medien nicht mehr trauen. Nach einer Untersuchung der Universität Mainz von Ende 2016 sind drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die Medien zumindest teilweise über Unerwünschtes nicht berichten. Doch löst dieser Befund die Unruhe aus, die die Kanzlerin angeblich erwartet? Sind staatlich finanzierte Studien zu dieser demokratiegefährdenden Situation in Auftrag gegeben? Ist externer Sachverstand, wie von der epd gefordert, vielleicht unnötig, weil die diensthabenden Journalisten selbstkritisch mit der Situation umgehen? Weit gefehlt.

Fundierte, kritische Analysen müssen gewöhnlich einzelne Fachleute ohne institutionelle Unterstützung in selbstausbeuterischer Privatinitiative stemmen. Die Autoren der „Macht um Acht“ haben bei der ARD zwischen Mai 2014 und Februar 2017 über 200 wohlrecherchierte Programmbeschwerden eingebracht, zu Themen, in denen ähnlich einseitig berichtet wurde, wie oben am Beispiel Venezuela veranschaulicht. Ihr Fazit: Die Pflicht zu objektiver Berichterstattung wird bei der Tagesschau immer wieder dahingehend missverstanden, das für objektiv zu halten, was die Regierung sagt. Dazu dient eine politisch motivierte Sprachregulierung, das Wording.

Dieser Logik folgen auch die meist in Privatbesitz befindlichen Nachrichtenagenturen. Mehr als 80 Prozent der Tagesschau-Informationen stammen aus gekauftem Agentur-Material. Das sind die marktführenden westlichen Agenturen, gemieden werden dagegen die großen indischen, chinesischen, lateinamerikanischen, gar afrikanischen Agenturen, von arabischen oder russischen ganz zu schweigen. Wer sich zu weit von der eigenen Darstellung entfernt, betreibt Propaganda. Eine solche Haltung prägt zwangsläufig Feindbilder. Zitiert wird einer, dem man nicht nachsagen kann, dass er nicht wusste, wovon er spricht, Peter Scholl-Latour: Wir leben im Zeitalter der medialen Massenverblödung.

Wie also reagiert in diesem Zeitalter ein Sender auf 200 Programmbeschwerden von einstigen Kollegen? Eingaben müssen innerhalb eines Monats vom Intendanten beantwortet werden. Doch es kamen nur Floskeln. Und zwar nicht vom Intendanten, sondern vom Chefredakteur, also dem Macher der Sendung: Mit Interesse gelesen… an Redaktion weitergegeben… aus Zeitgründen nicht auf alle Mails eingegangen. 200-mal Abwiegeln.

Ist der Beschwerdeführer mit der Antwort nicht zufrieden und begründet das schriftlich, muss der Rundfunkrat innerhalb von vier Monaten entscheiden, ob ein Verstoß gegen die staatsvertraglichen Programmrichtlinien vorliegt. Das Autoritäre an diesem Gesetz ist: inhaltlich begründen muss diese höhere Instanz ihre endgültige Entscheidung nicht. Die nicht demokratisch gewählten, sondern durch intransparente Beziehungen und interne Abhängigkeiten berufenen Vertreter der politischen Klasse im Rundfunkrat haben „nach intensiver Diskussion und ausführlicher Prüfung des Sachverhaltes“ ausnahmslos keinen Verstoß gegen die Grundsätze der Programmgestaltung gemäß Staatsvertrag feststellen können. Die auf den ersten Blick als demokratisches Angebot erscheinende Mitwirkungsmöglichkeit der Zuschauer erweist sich somit als reine Farce. Auch die „Qualitätsmedien“ haben von den dargestellten Programmverstößen keine Notiz genommen.

Die Autoren sprechen von dreistem Anspruch auf Unfehlbarkeit, aber es ist wohl schlimmer: Die Programm-Redakteure würden sicher auch lieber über brisante Hintergründe berichten, als die ewig gleichen Klischees zu wiederholen. Doch nur wenn sie – vielleicht sogar unbewusst – eben diese Klischees bedienen, können sie zu Recht davon ausgehen, im Sinne ihrer Auftraggeber alles richtig gemacht zu haben. Das Leugnen von Fehlern ist Unterwürfigkeit. Was die Macht erwartet, ist für die eigene Entwicklung allemal wichtiger als die Erwartungen der machtlosen Zuschauer. Deshalb haben sich viele Journalisten freiwillig zu einer Art mehr oder weniger geschickten PR-Agentur der Bosse in Wirtschaft, Politik und Kultur gemacht. Ja, man gewinnt den Eindruck, als horchten sie fast nur auf das Echo der sie fördernden Hierarchien – darüber hinausgehende Zuschauer und Leser sind gar keine Zielgruppe.

Wenn es für diese Diagnose noch eines Beweises bedürfte, ließe sich auf eine Studie der IG-Metall nahestehenden Otto-Brenner-Stiftung verweisen. Dort wurden 35 000 Berichte aus SZ, FAZ, Die Welt sowie tagesschau, News-Websites wie tagesschau.de oder spiegel.de und auch von Lokalzeitungen zum Thema Flüchtlingskrise untersucht. Fazit: die Medien sind ihrer demokratischen Funktion nicht gerecht geworden. Das berichtete verknappt sogar der faktenfinder von tagesschau.de am 22.7.2017, ohne alle Zahlen zu nennen. Die Hauptakteure des Geschehens, nämlich Flüchtende, Helfer und freiwillige Unterstützer kamen nur in 7,5 Prozent der Beiträge zu Wort. Genau 10-mal mehr musste man wiedermal den Politikern und ihren Behörden zuhören. Die Medien spiegelten die Politik, statt sich als neutral hinterfragende Instanz zu verhalten.

Und die Politik, einig wie nie, über die ganz Große Koalition einschließlich Linken und Grünen, verteidigte Willkommenskultur – was durchaus sympathisch war. Da aber Bedenken und Ängste medial kaum wahrgenommen wurden, förderte man indirekt andere Antwortgeber: Pegida, AfD, NPD. Deshalb konnte die Stimmung über Nacht kippen, über die Silvesternacht in Köln. Als nun allen voran der Innenminister und viele andere Politiker auf Distanz gingen, überboten sich plötzlich auch Beiträge der eben noch so zugewandten Medien in übertriebenen, oft hysterischen, jedenfalls weitgehend unbewiesenen Beschuldigen gegenüber jungen „Magrebinern“.

Was einmal mehr zeigte, dass der weitgehend affirmative Nachrichten-Journalismus Mitte und Maß verloren hat. Oder sein vorherrschendes Maß Opportunismus ist. Die Studie beklagt, dass die Diktion des Mainstreams die öffentliche Meinung so stark prägt, dass abweichende Positionen entweder nicht mehr gehört oder aus Angst, ausgegrenzt zu werden, gar nicht mehr geäußert würden. Diese Furcht vor Isolation führe in eine Schweigespirale.

Die Journalisten stehen vor der durchaus schwierigen Aufgabe, genau so viel Meinungsfreiheit zu demonstrieren, wie Scheinobjektivität erfordert, aber durch das Ausblenden von Ursachen und Interessen nicht anzuecken. Gerade durch dieses Taktieren verfehlt die Nachrichtengebung letztlich ihren Programmauftrag. Leser, Hörer und Zuschauer wandern ab, finden im Netz andere Öffentlichkeiten. So sie mögen, stoßen sie trotz allem auch auf Möglichkeiten zu Mitbestimmung bei der Programmgestaltung in den Rundfunksendern. Etwa die „Ständige Publikumskonferenz“ oder die „Initiative für einen Publikumsrat“. Oder eben auf all die Plattformen, die wie diese bewährten NachDenkSeiten Informationen bieten, die ansonsten fehlen. Es gibt immer Alternativen. Allerdings nicht nur auf Seiten der Vernunft. Rechtsdemagogen wissen Informationslücken zu nutzen. Dass medial manipulierte, entpolitisierte Menschen leichter zu bevormunden sind, könnte sich insofern als ein folgenschwerer Irrtum der herrschenden Eliten erweisen.

Gut und gerne leben – Ingo Schulzes Romanheld glaubt unverdrossen an das Glück

Daniela Dahn

erschienen in: Der Freitag Nr. 36

Gut und gerne leben

Idealismus Man könnte sagen, er sei ein Träumer: Ingo Schulzes Romanheld glaubt unverdrossen an das Glück

Was an Ingo Schulzes neuem Roman aus allen Rahmen fällt, ist seine Hauptfigur: ein begeisterungsfähiger Simplicius, der den behaupteten Idealen noch vertraut und damit quer zu jedem Zeitgeist liegt. Der Autor versteckt sich nicht hinter der Einfalt seines Helden, sondern stattet ihn mit Argumenten und Handlungsmotiven aus, die eigentlich nachvollziehbar sind, wenn man nicht längst im üblichen Pragmatismus, Opportunismus und Zynismus versunken ist. Dieser Peter Holtz wird nicht denunziert, auch wenn andere Figuren ihm zu Recht trefflich widersprechen. Wenn sein Irrtum zu groß wird, ist er sogar in der Lage, dies einzugestehen. Da wird eine Figur vorgestellt, die vergnüglich, aber auch irritierend vorlebt, dass nichts ungewisser ist als unsere vermeintlichen Gewissheiten. In einer Zeit, in der utopisches Denken weitgehend verkümmert ist und sich eigentlich niemand mehr eine Wirtschaft mit völlig anderer Funktionslogik vorstellen kann, ist das eine gehörige Provokation.

Erzogen von einem strikten und aus mehrfachen Gründen liebevollen Antifaschisten in einem DDR-Kinderheim, glaubt Peter an eine Art unschuldigen Urkommunismus. Einen Beitrag zu leisten zum Glück aller soll der Sinn seines Lebens sein. Schon in dieser Phase erwägt er die tollkühnsten Vorhaben, von der Abschaffung des Geldes bis zum Ausreiseantrag in die Sowjetunion. Doch seine Begeisterungsfähigkeit macht ihn bald anfällig für andere Glücksversprechen.

Unschuldiger Urkommunist 

Autoren müssen oft erdulden, was Rezensenten in ihr Werk hineininterpretieren und herauslesen. Warum soll es Ingo Schulze besser gehen? Für mich hat die Dramaturgie des Buches etwas Faustisches. Zwar lässt das Werk sich durchaus komödiantisch an, doch gewinnt die Figur im Verlauf auch tragische Größe. Dieser Peter geht mit vielen Mephistos einen Pakt ein, die ihm versprechen, ihm zum Verweile-doch-du-bist-so-schön zu verhelfen, wenn er dafür nur seinen bisherigen Weg verlässt. Über den rechten Weg lässt Peter mit sich reden, über seine Ideale eigentlich nicht. Gestartet als proletarischer Maurer, führen ihn diese teuflischen Verführer, die gern auch Frauen sind, in alle möglichen Sphären des angeblichen Lebensgenusses, in denen er früher oder später scheitert.

Dass ihn ein Führungsoffizier der Stasi um Mitarbeit bittet, macht ihn stolz; mit seiner Naivität wird er aber schnell hinausgeschmissen. Mehrfach versucht er, in die SED aufgenommen zu werden, doch seine Art von Prinzipientreue ist den Genossen nicht geheuer.

Der Vater eines Kumpels wirbt ihn später für die Ost-CDU, deren Name er gern abändern würde in „Christlich kommunistische Demokraten“. Denn christliche Nächstenliebe ist für ihn vor allem Klassenkampf. Nachsichtig wird der Vorschlag überhört und er steigt eher ungewollt zur rechten Hand des Vorsitzenden auf. In den Wendewirren erreicht sein Revoluzzertum den Höhepunkt. Nicht nur die DDR, sondern auch die BRD will er revolutionieren. Doch der zur Vereinigung sprungbereite Westen zeigt wenig Neigung zu Erneuerung. Ein bedauerlicher Schicksalsschlag stellt, oder besser legt, Peter Holtz ins Abseits. Er zieht sich zurück, überzeugt, die Konterrevolution habe sich der Revolution bemächtigt, das Volk sich freiwillig an Geschäftemacher und Ganoven jeder Art verkauft.

Da seine Beziehung zu Gott sich auf die Dauer doch nicht als stabil genug erweist, sucht er sein Heil nun bei jenen, die ihn überreden, mit der Marktwirtschaft den Glückssehnsüchten der Menschen am besten dienen zu können. Der Mephisto aus der Immobilienbranche erweist sich dabei als der erfolgreichste. Peter will aber auch mit seinen Häusern Gutes tun, erwägt, sie an die Mieter zu verschenken, bietet Prostituierten bessere Unterkünfte, der Dank hält sich in Grenzen. Er eröffnet eine Galerie, hat verstanden, dass mitunter nur die Kunst Glück bringt. Doch all sein Altruismus kann nicht verhindern, dass er zum Multimillionär wird. Hatte der klassische Mephisto das Papiergeld eingeführt und die Landgewinnung gepriesen, so kommen Ingo Schulzes Bösewichte mit den Segnungen von Eigentum und Bankwesen daher.

Sein einstiger Maurer weiß jedoch noch, was Arbeit ist; Geld für sich arbeiten zu lassen, lehnt er ab. Seine Vision bleibt, das Gute in der Welt zu mehren, nicht sein Vermögen. Wohltätigkeit ist auch keine Lösung. Sie entwürdigt, hat er erfahren. Bleibt nur, radikaler zu denken und zu handeln. Schließlich übernimmt dieser Peter Holtz die Rolle des Mephisto selbst, tut, wovon alle abraten. Da es unmöglich ist, Geld mit Anstand loszuwerden, vernichtet er seine Millionen in öffentlichen Kunstaktionen. Alle verlassen ihn, auch die Frauen. Zuletzt bringen ihn lemurenähnliche Gestalten an einen Ort, der zweifellos alles andere als ein Glücksort ist, aber er ist sicher, seinen Platz gefunden zu haben, glaubt an so etwas wie die höchste Erfüllung. Wer immer strebend sich bemüht, kann am Ende des Romans erlöst werden.

Der Handlung fehlt es nicht an Dramatik, die sich in der zweiten Hälfte noch steigert. Ingo Schulze verfügt über präzise Detailkenntnisse der jeweiligen Jahre, hemmungslos konfrontiert er seine Personnage mit authentischen Personen der Zeitgeschichte, denen gegenüber sie sich zu bewähren haben. Oder ist es umgekehrt?

Das Geld findet ihn. Wie wird er es jetzt würdevoll wieder los? 

Wie schon in seinen vorherigen Büchern verknüpft Schulze kunstvoll bunteste Erzählfäden, führt souverän ein großes Figurenensemble aus dem alltäglichen Wahnsinn vor. Ehrliche Häute und raffinierte Blender, Wendehälse und Halsstarrige, Gewalttätige und Eingeschüchterte, Unternehmungslustige und Resignierte. Die eine oder andere Begegnung bleibt flüchtig und verzichtbar, während man gelegentlich auf etwas neugierig gemacht wird, vor dessen Schilderung der Autor sich dann drückt. Wie die überraschende Einladung Peters zu einer französischen Baronesse, ein Abend, der sicher komisch gewesen sein muss.

Doch man soll Autoren nicht vorwerfen, dass sie ihre Bücher nicht so geschrieben haben, wie der jeweilige Leser es sich ausmalt, sondern so, wie sie es wollten. Der unzulässige Versuch, die Kunst zu vergesellschaften und die Handlung basisdemokratisch zu beeinflussen zeigt nur, wie sehr man sie für sich angenommen hat. Dieser Typ mit seiner Fähigkeit, alles in Frage zu stellen, kann einem ans Herz wachsen und lässt einen den Kopf schütteln. Ingo Schulze ist ein ebenso hintergründiger wie amüsanter Roman gelungen.

Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst Ingo Schulze
S. Fischer Verlage 2017, 576 S., 22 €

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Buch des Monats: Die Macht um Acht

Daniela Dahn

aus: »Blätter für deutsche und internationale Politik« 9/2017

Erfüllt die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch ihren verfassungsmäßigen Programmauftrag? Entspricht sie den Anforderungen der Kommunikationsfreiheit und der im Rundfunkstaatsvertrag festgehaltenen Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne?

Von den angesprochenen Medien werden derartige Anfragen in aller Regel mit großer Selbstgerechtigkeit zurückgewiesen. Dazu gehört auch der Versuch, Kritik an ihnen vornehmlich rechts zu verorten, bei Pegida, AfD („Lügenpresse“) und anderen dubiosen Kräften. Dabei gibt es längst dutzende seriöse medienkritische Bücher von Wissenschaftlern, aufklärerische Plattformen von investigativen Journalisten und eine Netzöffentlichkeit, die gegenhält. Selbst Kanzlerin Merkel äußerte sich voriges Jahr auf der CDU-„Media-Night“ besorgt über den Glaubwürdigkeitsverlust der Medien. Es müsse uns alle unruhig stimmen, dass 60 Prozent der Bürger „wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien“ hätten.

Tatsächlich hat der massenhafte Aufstand der Zuschauer und Leser gegen die sogenannten Qualitätsmedien bereits im Frühjahr 2014 begonnen, und zwar angesichts der einseitigen Parteinahme für die antirussischen Kräfte im Ukrainekonflikt. Auch die Online-Portale der ARD konnten sich vor kritischen Zuschriften oft nur durch Schließung der Kommentarfunktion retten. Kleinlaut und viertelherzig räumte der Sender  schließlich einzelne Fehler ein, im Großen und Ganzen aber sei alles in Ordnung.

Aufs Trefflichste aufgenommen werden dagegen Kritik und Forderungen der Zuschauer von den Autoren des Buches „Die Macht um Acht – Der Faktor Tagesschau“. Die drei Autoren sind mit der Materie bestens vertraut: Volker Bräutigam war selbst zehn Jahre Redakteur bei der Tagesschau und kennt die Spielregeln daher als Insider. Der Jurist Friedhelm Klinkhammer war
35 Jahre beim NDR, unter anderem als IG-Medien- und Gesamtpersonalratsvorsitzender. Und der Journalist Uli Gellermann analysiert auf seiner Website rationalgalerie seit Jahren angriffslustig das Politik- und Mediengeschehen.

Um die weitgehende Wirkungslosigkeit dieser Kritik wissend, geht das Autorentrio über die bisherigen Formen der eher unverbindlichen Beispielsammlung hinaus und prüft  neben der zu analysierenden Sendung auch die  basisdemokratisch klingenden Möglichkeiten der kritischen Teilhabe der Zuschauer. Denn Paragraph 13 des NDR-Staatsvertrages bietet über die allgemeine Beschwerde hinaus die Möglichkeit einer Eingabe in Form der „Programmbeschwerde“. Um einen Verstoß gegen die Programmrichtlinien zu rügen, muss besonders präzise argumentiert werden.

Genau das leisten die Autoren mit fast stoischer Ausdauer. Dabei räumen sie eingangs ein, dass im Vergleich zu anderen Nachrichtenformaten das Tagesschau-Ensemble noch das „ansehnlichste“ sei. Die Hauptausgabe um 20 Uhr ist zudem mit rund neun Millionen Zuschauern die mit Abstand meistgesehene Nachrichtensendung. Als eine Art amtliche Vermittlung von Neuigkeiten empfiehlt es sich, die 15 Minuten zur Kenntnis zu nehmen.

Durch die Lektüre des Buches wird man für einseitige Berichterstattung sensibilisiert und motiviert, diffuses Unbehagen durch eigene Recherchen auszugleichen. Nehmen wir als beliebiges Beispiel dieser Tage die Berichterstattung über Venezuela. Das gängige Narrativ, wie man heute bedeutungsvoll sagt, ist klar: Diktatur oder Demokratie, Misswirtschaft oder Wohlstand, Gewalt oder Rechtsstaatlichkeit. Dass es in dem lateinamerikanischen Land auch um Verteilungsfragen geht, um die sozialpolitische Verfügung über die Einnahmen aus den reichen Ölvorkommen, um den bei erneuter Privatisierung zu befürchtenden Rückfall in die jahrhundertealte Marginalisierung der Unterschichten, um Gewalt und Verfassungsbruch auf beiden Seiten – derartige Hintergründe sind nicht vorgesehen. Wie fast alle westlichen Regierungen unterstützt die deutsche die Opposition in Venezuela – und sie darf durchaus parteiisch sein, auch wenn das nicht allen gefällt. Die Medien dagegen dürfen es nicht. Sie müssten über beide Seiten objektiv berichten. Doch die Tagesschau hat sich (wieder einmal) auf die prowestliche Regierungsseite geschlagen. Obwohl die Sendesekunden knapp sind und ausschließlich neuen Informationen vorbehalten sein sollten, wiederholt sie Tag für Tag: Die Opposition fürchtet, Präsident Maduro werde eine Diktatur einführen – immer wieder, bis es auch der letzte Zuschauer verinnerlicht hat.

Gewiss, es gibt gewichtige Anhaltspunkte für solche Bedenken, es gibt allerdings auch Anhaltspunkte dagegen. Von denen hat man in der Tagesschau und in den meisten „Leitmedien“ nichts gehört. Und eben darin liegt das Dilemma vieler Zuschauer: Sie sehen sich von der Tagesschau und anderen Leitmedien nicht hinreichend mit unabhängigen und zweifelsfrei recherchierten Informationen versorgt, um sich eine eigene, begründete Meinung bilden zu können. Und das betrifft bei weitem nicht nur Venezuela, sondern das ganze Weltgeschehen: Es wird ein selektives Angebot von Symptomen serviert, das unerwünschte kausale Zusammenhänge weitgehend ausspart. Das aber entgeht den auch von Angela Merkel erwähnten Bürgern nicht. Nach einer Untersuchung der Universität Mainz von Ende 2016 sind drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die Medien zumindest teilweise über Unerwünschtes nicht berichten. Doch löst dieser Befund die Unruhe aus, die die Kanzlerin erwartet? Ist ihre eigene Sorge ehrlich? Sind bereits staatlich finanzierte Studien zu dieser Demokratie gefährdenden Situation in Auftrag gegeben? Oder ist dies vielleicht völlig unnötig, weil die diensthabenden Journalisten hinreichend selbstkritisch mit der Situation umgehen?

Weit gefehlt. Die Autoren der „Macht um Acht“ haben  bei der ARD zwischen Mai 2014 und Februar 2017 über 200 wohlrecherchierte Programmbeschwerden eingebracht. Für ihr Buch haben sie 27 Beispiele ausgewählt, in denen sie beunruhigende Fehlstellen und Mängel feststellen. Insbesondere bei der Kriegsberichterstattung über Libyen, Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Syrien und den Jemen, bei der staatsnahen Darstellung der Rolle der USA und der Nato, bei der Parteinahme für die Ukraine und gegen Russland, bei der Schilderung von Vorgängen in der Türkei oder Brasilien. Auch Beiträge über Terrorismus, über Flüchtende oder soziale Brennpunkte im Lande werden unter die Lupe genommen.

Ihr Fazit: Die Pflicht zu objektiver Berichterstattung wird bei der Tagesschau immer wieder dahingehend missverstanden, das für objektiv zu halten, was die Regierung sagt. Dazu dient eine politisch motivierte Sprachregulierung, das Wording. Dieser Logik folgen auch die meist in Privatbesitz befindlichen Nachrichtenagenturen. Mehr als 80 Prozent der Tagesschau-Informationen stammen aus gekauftem Agenturmaterial. Das sind die marktführenden westlichen Agenturen, gemieden werden dagegen die großen indischen, chinesischen, lateinamerikanischen, gar afrikanischen Agenturen, von arabischen oder russischen ganz zu schweigen.  Wer sich zu weit von der eigenen Darstellung entfernt, betreibt Propaganda. Diese Haltung prägt zwangsläufig Feindbilder.

Wie also reagiert  ein Sender auf 200 Programmbeschwerden? Dass diese fast im Wochentakt eingingen und mitunter arg polemisch formuliert waren, wird die Adressaten vermutlich genervt haben. Denn Eingaben müssen innerhalb eines Monats vom Intendanten beantwortet werden. Dennoch wäre das eine oder andere Zugeständnis zu erwarten gewesen. Etwa derart, dass eine als fehlend gerügte Meldung zur Ermessensfrage erhoben und mit der Gegenfrage entkräftet worden wäre, welche andere Meldung an diesem Tag denn nach Meinung der Kollegen verzichtbar gewesen wäre. Doch offensichtlich war es nicht die Absicht des Senders, sich  auf ein Gespräch einzulassen, es kamen nur Floskeln,  nicht vom Intendanten, sondern vom Chefredakteur, also dem Macher der Sendung: „Mit Interesse gelesen“ … „an Redaktion weitergegeben“… „aus Zeitgründen nicht auf alle Mails eingegangen“. 200 Mal Abwiegeln. Ist der Beschwerdeführer mit der Antwort nicht zufrieden und begründet das schriftlich, muss der Rundfunkrat innerhalb von vier Monaten entscheiden, ob ein Verstoß gegen die staatsvertraglichen Programmrichtlinien vorliegt. Inhaltlich begründen muss der Rundfunkrat seine Entscheidung  nicht. Diese ist dennoch endgültig, eine höhere Instanz, etwa ein Gericht, muss sich damit nicht befassen. Eine Unterlassungsklage ist nicht möglich. Die nicht demokratisch gewählten, sondern durch intransparente Beziehungen berufenen Vertreter der politischen Klasse im Rundfunkrat haben „nach intensiver Diskussion und ausführlicher Prüfung des Sachverhaltes“ ausnahmslos keinen Verstoß gegen die Grundsätze der Programmgestaltung gemäß Staatsvertrag feststellen können. Die auf den ersten Blick als demokratisches Angebot erscheinende Mitwirkungsmöglichkeit der Zuschauer erweist sich somit als Farce. Die Autoren sprechen von dreistem Anspruch auf Unfehlbarkeit, aber es ist möglicherweise noch schlimmer: Die Programm-Redakteure würden  sicher auch lieber über brisante Hintergründe berichten, als die ewig gleichen Klischees zu wiederholen. Doch nur wenn sie – vielleicht sogar unbewusst – eben diese Klischees bedienen, können sie mit Anerkennung rechnen. Ja, man gewinnt den Eindruck, als horchten sie fast nur auf das Echolot der sie fördernden Hierarchien – darüberhinaus gehören interessierte Zuschauer und Leser gar nicht zur Zielgruppe.

Wie gefährlich dies sein kann, zeigt das Beispiel der Flüchtlingskrise. So beauftragte die der IG-Metall nahestehende Otto-Brenner-Stiftung Medienwissenschaftler, die Berichterstattung zu diesem Thema zu untersuchen. Nach der Analyse von 35 000 Berichten aus „Süddeutscher Zeitung“, „Frankfurter Allgemeinen“, „Welt“ sowie der Tagesschau, News-Websites wie tagesschau.de oder spiegel.de und auch von Lokalzeitungen kamen sie zu dem Schluss, dass die Medien ihrer demokratischen Funktion nicht gerecht wurden. Die Hauptakteure des Geschehens, nämlich Flüchtende, Helfer und freiwillige Unterstützer, kamen nur in 7,5 Prozent der Beiträge zu Wort. Genau zehn Mal häufiger konnte man dagegen (wieder einmal) den Politikern und ihren Behörden zuhören.  Die Medien spiegelten die Politik, statt sich als neutral hinterfragende Instanz zu verhalten. Und die Politik, einig wie nie als ganz große Koalition einschließlich Linken und Grünen, verteidigte ihre Willkommenskultur – was ja  durchaus sympathisch war. Da aber Bedenken und Ängste der Bürger medial kaum wahrgenommen wurden, förderte man indirekt andere Antwortgeber: Pegida, AfD, NPD. Die Stimmung kippte über die Silvester-Nacht 2015/16 in Köln in den Medien fast ins Hysterische, nachdem plötzlich viele Politiker auf Distanz gingen. Was einmal mehr zeigte, dass der weitgehend affirmative Nachrichtenjournalismus Mitte und Maß verloren hat. Oder sein vorherrschendes Maß Opportunismus ist. Wenn aber abweichende Positionen entweder nicht mehr gehört oder aus Angst, ausgegrenzt zu werden, gar nicht mehr geäußert werden, führt dies, so das Ergebnis der Brenner-Studie wie auch der „Macht um acht“, unweigerlich in eine Schweigespirale. Was nicht ins amtliche Bild passt, wird unterdrückt.

Wie aber reagieren die Bürgerinnen und Bürger darauf? Sie resignieren oder wandern ab und finden im Netz andere Öffentlichkeiten. Dort findet man Aufklärerisches neben abgeklärter Hetze. Dass medial manipulierte, entpolitisierte Menschen leichter zu bevormunden sind, könnte sich insofern noch als ein folgenschwerer Irrtum der herrschenden Eliten erweisen.

Volker Bräutigam, Friedhelm Klinkhammer und Uli Gellermann, Die Macht um acht – der Faktor Tagesschau. PapyRossa Verlag, Bonn 2017, 173 Seiten, 13,90 Euro.