Daniela Dahn

Kooperation oder Konfrontation mit Russland? – Münchner Friedenskonferenz

Daniela Dahn

aus der Anthologie: „Das freie Wort. Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter“

Parallel zur Münchner Sicherheitskonferenz fand auch 2017 im alten Rathaus wieder die aus der Bürgerschaft kommende Münchner Friedenskonferenz statt. Diese darf seit einigen Jahren zwei Beobachter zur Sicherheitskonferenz entsenden. Eine dieser Beobachterinnen war diesmal die Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn. Ihre Eröffnungsrede auf der Friedenskonferenz der Bürger hat sie später durch das auf der Sicherheitskonferenz der Eliten Gehörte durch kursive Passagen ergänzt.

Münchner Friedenskonferenz im alten Rathaus am 17.2.17
Daniela Dahn: Kooperation oder Konfrontation mit Russland?

Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Wer aber für Kooperation ist, muss sich mit der Konfrontation beschäftigen.

Noch keine Münchner Sicherheitskonferenz war so aufgeladen mit Erwartungen und hatte einen solchen Andrang von einst und gegenwärtig hochrangigen Politikern wie diese. Erstmals standen die transatlantischen Beziehungen zur Disposition. Konferenzchef Wolfgang Ischinger fragte eingangs besorgt, ob wir vor einem post-westlichen Zeitalter stünden. Auch von anderen Rednern wurde der womögliche Wechsel zu einer „neuen Weltordnung“ beschworen, was den auf Verständigung Bedachten Anlass zu großer Sorge bot, da Weltordnungen erfahrungsgemäß durch Kriege verändert  werden.
Der Auftritt von US-Vize Mike Pence wurde atemlos verfolgt, wie der eines Messias. Dass es die intellektuell magerste Rede von allen war, fiel nicht weiter auf, denn der erlösende Satz nahm die Ängste: Die USA ist und wird immer ihr größter Verbündeter sein. „Unter Präsident Trump werden wir die stärkste Armee der Welt sein.“ Die USA unterstütze die NATO energisch, aber Donald Trump erwarte, dass alle Mitglieder jene zugesagten zwei Prozent zur Aufrüstung beitrügen. Mit ihm jedenfalls, so die wiederholte Botschaft, werde die USA so stark wie nie zuvor.

 

  1. Die Geschichte der Konfrontation jenseits von Propaganda erzählen

Der völkerrechtswidrige Jugoslawienkrieg, die Expansion der NATO nach Osten, neue Raketensysteme, die Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten Russlands und dessen traditionell Verbündeten, die Sanktionen, die Propaganda,  – all das hat zu einer neuen Ära der Konfrontation mit Russland geführt. Die NATO-Mitglieder behaupten natürlich, das Gegenteil sei wahr, Russlands aggressive Politik sei der Grund der Spannungen.
Wer angesichts solcher Antagonismen kapituliert und meint, wir seien endgültig im Postfaktischen angekommen, verkennt wohl, dass genau diese Ratlosigkeit ein Herrschaftskonstrukt ist, mit dem man sich vor belastenden Tatsachen schützen will. Es soll nur noch auf die „gefühlte Wahrheit“ ankommen. Allein im Pentagon arbeiten 27.000 PR-Spezialisten mit einem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar. Sie beeinflussen Agenturen mit gezielten Nachrichten, Fernsehspots und Rundfunkinterviews.

Als Gegengewicht gegen russisches Fernsehen sendet seit dem 7. Februar der vom US-Kongress finanzierte, russischsprachige Kanal Nastojaschee Wremja – Current Time. Die Deutungshoheit über die Meinung  von Mehrheiten ist im digitalen Zeitalter die wichtigste Waffe geworden. Hier findet die eigentliche Aufrüstung statt, auch wenn die herkömmliche sich wahrlich nicht lumpen lässt. Gleichzeitig  verteidigen sich derzeit viele Medien und Institutionen mit Faktenchecks , bei denen man auch genau hinsehen muss. Das ist mühsam, aber der einzige Weg: Desinformation widersprechen, neuer Desinformation besser widersprechen.

Fangen wir gleich beim diesjährigen, überall verteilten Report der Münchner Sicherheitskonferenz an. Unter Berufung auf „zahlreiche Menschenrechtsorganisationen“ wird dort behauptet, 80 Prozent der russischen Luftangriffe auf Syrien galten nicht dem IS sondern zielten auf Rebellen und Zivilisten.  „Damit ist das russische Märchen des Kampfes gegen den Terror in Syrien endgültig bloßgestellt“, sekundierte die Bild-Zeitung. Immer wenn wieder das Ende einer Geschichte verordnet wird, muss man misstrauisch werden und die Geschichte von vorn erzählen. Denn hier liegt ein klassisches Beispiel vor, wie man mit Zahlen, die vielleicht sogar stimmen, durch Fehlinterpretation manipulieren kann.
Russland und Syrien haben nie behauptet, nur den IS zu bekämpfen, sondern alle islamistischen Terroristen, die gewaltsam die Regierung stürzen wollen. Einer der Hauptgegner ist daher die al-Qaida zugehörige al-Nusra-Front, die sich im letzten Sommer aus taktischen Gründen in Eroberungsfront der Levante umbenannt hat, um nicht mehr als Terroristen wahrgenommen zu werden. Ihr Ziel ist aber unverändert ein islamisches Kalifat, in dem alles Säkulare ausgerottet und die alawitische und christliche Minderheit vertrieben wird. Diese vom Westen jetzt verharmlosend zu den Rebellen gezählten Kämpfer, haben nach Erkenntnissen der Geheimdienste auch das Nervengas Sarin im syrischen Ghouta und später nahe Aleppo eingesetzt, um den Verdacht auf Assad zu lenken. Der UN-Sicherheitsrat hat sie als Terrororganisation eingestuft.

Diese sogenannte Eroberungsfront und die mit ihnen verbündeten Gruppen machen nach Angaben von Experten, auf die sich die Korrespondentin Karin Leukefeld beruft, die Hälfte der Anti-Assad Kämpfer aus. Zählt man die Luftangriffe auf sie zu denen auf den IS, sind wir statt 20 schon bei 70 Prozent, die sich gegen Terroristen richteten. Soviel also präzisierend zum Report der Sicherheitskonferenz.

Bleibt immer noch die Frage, warum die Russen im Verbund mit der syrischen Armee angeblich so gern Zivilisten bombardieren. Dabei unterscheidet sich die gegenwärtige US-Offensive auf das irakische Mossul nicht von der russischen Offensive auf Aleppo. Wenn die US-Koalition Tag und Nacht mit Langstreckenraketen Wohngebiete in Mossul  angreift, auch gezielt die Universität, Krankenhäuser, ja die gesamte zivile Infrastruktur zerstört, dann heißt es, das waren alles Orte, die die Terroristen als Basis benutzt hätten. Bei den russischen Bombardements in Syrien dagegen wird verlangt, ganz sauber zwischen Zivilisten und Terroristen zu unterscheiden. Da aber Terroristen nun mal keine Armeen befehligen, die in ordentlichen Kompanien kämpfen und anschließend in ihren Kasernen ein übersichtliches  Ziel abgeben, wird dies nie und nirgends möglich sein.

Aber diese Einsicht  müsste alle Seiten zu der Frage bewegen, ob die Bombardiererei im Kampf gegen islamischen Terrorismus  überhaupt etwas ausrichten kann. Außer unermesslichem Leid.

Die Idee, den Terrorismus zu bekämpfen, ohne dessen Ursachen zu erkennen und zu eliminieren, ist falsch, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner von den Medien kaum beachteten Rede. Dabei war dies die mutigste und analytischste Rede der ganzen Münchner Sicherheitskonferenz. Sie enthielt einen der beiden Schlüssel-sätze, die die Frage von Krieg und Frieden von entgegengesetzten Positionen beschrieben. Auf die schwere Anklage von Guterres ging wie zu erwarten niemand ein: „Die größte Bedrohung für die Sicherheit ist das politische Establishment.“ Er beklagte dessen mangelnde Kapazität für Analysen, die Lücke in den Erkenntnissen, dessen disfunktionale Strukturen. Die Globalisierung habe viele Verlierer – eine Jugend ohne Chance sei anfällig für Extremismus. Der UNO-Chef forderte Langzeitstrategien für Bildung und Armutsbekämpfung, für Klimaschutz und Wasserversorgung. Es fehle an Visionen und Investitionen zur Friedenssicherung.
Diesen Eindruck hatte man auch beim Statement des afghanischen Präsidenten Mohammad Ashraf Ghani. Er sah etwas anderes als die größte Bedrohung, nämlich dass sich etwas wie der 11. September wiederhole. Man hätte den Terrorismus bisher nie mit friedlichen Mitteln in den Griff bekommen. Afghanistan sei daher „in höchstem Maße dankbar für das globale Handeln“ in seinem Land – die Taliban seien zurückgeschlagen worden, behauptete er.
Man werde den Daesh (IS) „zerschmettern“, versprach auch der irakische Premierminister Haider Al-Abadi. Zwar sei es schwierig, den Feind zu identifizieren, denn er trage keine Uniform und stelle sich als Zivilist dar. Aber Ramadi, Falludscha und Teile von Mossul seien zurück erobert worden, und das habe „nicht unmäßig viele Menschenleben gekostet“. Diese Erfolgsgeschichte müsse gemeinsam auf die ganze Region ausgeweitet werden.
Nur der pakistanische Verteidigungsminister Khawaja Asif klang weniger begeistert über die westliche Einmischung. Die Terroristen hätten nichts mit islamischer Religion zu tun, sie seien Kriminelle. Die Frage, ob die militärische Gewalt nicht kontraproduktiv war und Elend in die Region gebracht habe, sei offen. Zwar seien die Anschläge derzeit zurückgegangen, aber nun müsse man die Opfer der Interventionen prüfen.

Eine andere Sprache als Gewalt verstehen Terroristen nicht, heißt es unversuchter weise. Welch verstörender Gedanke: Terrorismus, dieser auf teuflische Weise politisch erzeugte  Homunkulus, kann nur politisch gebändigt werden. Indem man nämlich mit diesen selbsterzeugten, vermeintlichen Ungeheuern redet. Terrorismus ist ein Schrei, der gehört werden will.

Was aber, wenn diese, oft gekauften und vom Ausland hochgerüsteten Söldner, tatsächlich nicht zu stoppen sind. Am 11. September 2013 veröffentlichte die New York Times einen offenen Brief Putins an das amerikanische Volk.  Gewalt hat sich als unwirksam und sinnlos erwiesen, hieß es darin. Es war ein geradezu flehender Appell, zum Weg zivilisierter, politischer Vereinbarungen zurück zu kommen, das Völkerrecht einzuhalten und militärische Interventionen wegen innerer Konflikte in anderen Ländern zu unterlassen. Doch das Morden der von den USA, Saudi Arabien und anderen mitfinanzierten islamistischen Terroristen ging weiter.

Der UN-Syrienbeauftrage Staffan de Mistura sagte bewegt, er habe noch nie einen so grausam ausgetragenen Konflikt gesehen, mit mittelalterlichen Belagerungen von beiden Seiten. Daesh und al-Nusra seien die Feinde von uns allen. Die Russen hätten die selbe Priorität, „sie haben was geleistet“. Das russische Militär habe vermieden, dass es in Aleppo  zum Allerschlimmsten gekommen sei und nochmals 100 000 Flüchtlinge in Bewegung gesetzt würden. Der Waffenstillstand halte besser, als bei früheren Versuchen. Es bedürfe jetzt einer Verfassung, die von Syrern und nicht von Ausländern geschrieben würde und Wahlen unter UN-Aufsicht. Die UN-Resolution 2254 zum politischen Übergang sei seine Bibel, sein Koran.
Konstantin Kosachev, Chef des Auswärtigen Ausschusses im russischen Parlament, kritisierte, dass zur Unterstützung dieses Prozesses niemand aus Damaskus auf der Konferenz sprechen könne.

Von mindestens 400 000 Toten in den Jahren vor dem russischen Eingreifen in Syrien geht der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura aus. Aktivisten zufolge, schrieb die Zeit, soll Russland mit seiner Offensive dann für 10 000 Tote verantwortlich sein. Ist das ein zu rechtfertigender Preis für die Befreiung von Aleppo und die jedenfalls vorläufige Eindämmung der Gewalt in Syrien? Darf man überhaupt so fragen? Ich weiß es nicht.

Bringt das nicht alle Überzeugungen auch der Friedensbewegung durcheinander, wonach Krieg niemals Mittel der Politik sein darf? Oder war das legale Hilfe für die Verteidigung der Regierung, ein Befreiungskrieg, um den Zerfall Syriens zu einem weiteren failed state zu vermeiden? Dominiert von strategischen Interessen Russlands, aber vielleicht doch ein Beginn für einen langwierigen Prozess der Befriedung? Der der NATO noch nirgends gelungen ist? Wird das Schicksal des Nahen Ostens jetzt vom fernen Trump-Kurs abhängen? Gewissheiten sind rar geworden. Frühere Gewissheiten waren allerdings oft auch nicht besser.

Eigene Zweifel sollten offen debattiert werden, denn hinter vorgehaltener Hand braut sich nur Unheil zusammen.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit. Am 7. Februar meldeten die Medien knapp, dass die Dienste nach einjähriger Untersuchung keine Beweise für russische Desinformationskampagnen gegen die Bundesregierung gefunden haben. Nur feindselige Berichterstattung auf RT Deutsch und Sputnik News. Die Art von russischen Faktenchecks eben.
Putlitzer Preisträger Seymour Hersh kritisierte die US-Medien für die unkritische Übernahme der russischen Hacker-Story der Geheimdienste. Wenn es nicht genügend Beweise gäbe, um jemanden vor ein US-Gericht zu stellen, dann gäbe es auch nicht genügend Gründe, um Sanktionen gegen eine Atommacht zu verhängen.

Der Republikanische Senator Lindsey o. Graham kündigte an, man werde Präsident Trump wegen Russlands hybrider Kriegsführung und dessen Expansionismus einen neuen Plan für Sanktionen auf den Schreibtisch legen. Sein Versprechen, man werde die russischen Einmischungen nicht durchgehen lassen, brachte ihm Beifall im Plenum der Sicherheitskonferenz. „2017 ist das Jahr, in dem wir Russland in den Hintern treten müssen.“

Der unbewiesene Vorwurf, Trump sei mit Hilfe russischer Hacker an die Macht gekommen, bleibt fatal. Falls dieser Präsident je die Absicht hatte, das Verhältnis zu Russland zu entspannen, wird er sich das nun gut überlegen müssen. Jeder Versuch wird als Beweis dafür gewertet werden, wie abhängig ihn der den Russen geschuldete Dank macht. Dabei lohnt es, sich zu erinnern, worin genau die Wahlbeeinflussung bestanden haben soll. Es ging bei diesen unbekannten Hackern weder um Fake News, noch um die wirklich widerwärtigen, egal ob echten oder gefälschten Sex-Videos, für die das prüde Amerika so anfällig ist. Es ging um Mails der Demokraten zu ihrer Taktik im Wahlkampf, speziell zur Abdrängung von Bernie Sanders. Wahlfälschung durch Veröffentlichung der Wahrheit? Weil es nur auf einer Seite geschehen ist? Vielleicht. Doch wann sind Hacker eigentlich Whistleblower, die öffentlich machen, was Wähler wissen sollten?

Das nicht zufällig kurze Gedächtnis der Medien hat längst in Vergessenheit geraten lassen, dass die Russen allen Grund hätten, den Amis eine schicksalhafte Wahlbeeinflussung in Moskau heimzuzahlen.  Denn die Amerikaner hatten 1996 Boris Jelzins Wahlfeldzug organisiert. Sie hatten alles Interesse daran, dass der Mann wiedergewählt würde, der mit der Schocktherapie des Washington Consensus, also Privatisierung und Deregulierung, die Wirtschaft des Kontrahenten ruinieren und eigene Interessen berücksichtigen würde. Als Jelzins Popularität auf fünf Prozent abgesunken war, zogen US-Experten ins Moskauer Hotel „President“. Zu diesem Team gehörten Bill Clintons Wahlhelfer Richard Dresner und der PR-Mann Steven Moore.
Diese rieten zu einer Diffamierungskampagne gegen den kommunistischen Gegenkandidaten Sjuganow, u.a. durch „Wahrheitsschwadronen“, die ihn auf seinen Veranstaltungen mit (damals noch nicht so genannten) Fake News aus der Fassung bringen sollten. Jelzin willigte ein, als zentrale Botschaft die Gefahr eines Bürgerkrieges zu beschwören, falls die kommunistische Mangelwirtschaft wiederkehre. Bis dahin hatten die Staatsmedien Jelzin wegen seines Tschetschenien-Krieges verdammt – wie von Zauberhand brachten die großen Fernsehsender in der Woche vor der Stichwahl 158 kritische Beiträge zu Sjuganow und 114 positive zu Jelzin. Für Jelzins Wahlkampf waren 100 Millionen Dollar von privaten Sponsoren eingegangen.

Nach seinem Sieg schilderte das US-Magazin Time am 15.7.1996 detailgenau, wie man sich massiv in Russlands innere Angelegenheiten eingemischt hatte: Verdeckte Manipulation führt zum Erfolg, hieß es dort. Man konnte auch noch Meinungsfreiheit demonstrieren, Kritik an solchen Machenschaften war nicht zu erwarten. Inzwischen war eine Kaste russischer Oligarchen mächtig geworden. In der Amtszeit dieses protegierten Präsidenten halbierte sich das Nationaleinkommen, bis Russland 1998 zahlungsunfähig war.

  1. Die Interessen der anderen Seite zur Kenntnis nehmen

„Die Grundprinzipien der europäischen Friedensarchitektur“ sind eben nicht erst durch die „Annexion der Krim“ in Frage gestellt worden, wie unser alter Außenminister und neuer Bundespräsident beklagte, sondern mit solchen Einmischungen und spätestens 1999 durch die NATO. Auch damals ging es um Separatisten – kroatische, slowenische, vom Westen unterstützt, auch um russischen Einfluss zu schwächen. Vier Jahre nach dem Gemetzel in Srebrenica, als die Konflikte längst weitgehend unter Kontrolle waren, hat der Westen mit aktiver deutscher Beteiligung unter dem fadenscheinigen Vorwand einen Völkermord verhindern zu wollen, einen sinnlosen, zerstörerischen Angriffskrieg gegen Restjugoslawien geführt. Wochenlang wurde eine europäische Hauptstadt bombardiert. Da spielten das Völkerrecht und territoriale Unversehrtheit keine Rolle, da wurden vom Verbündeten Russlands Gebiete abgetrennt, neue Grenzen gezogen und im Kosovo ungefragt die größte ausländische Militärbasis der US-Armee errichtet.

Die interessengeleitete Demagogie  des Westens in diesem Konflikt war, der Ukraine weiszumachen, ein Assoziationsabkommen mit dem traditionell verbündeten Russland sei eine Entscheidung gegen Europa und gegen Demokratie und müsse daher bekämpft werden. Als ob die kulturell gespaltene Ukraine nicht friedliche Beziehungen zu beiden Seiten hätte haben können.
Durch den vom Westen beförderten Machtwechsel in Kiew war plötzlich der Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte gefährdet, den Zarin Katharina 1783 in Sewastopol begründete. Seine Rückeroberung von der deutschen Wehrmacht 1944 durch die Rote Armee hat einen hohen Stellenwert im russischen Geschichtsbewusstsein.
Der andererseits als Russlandversteher beschimpfte Steinmeier hatte gemahnt, dass den Deutschen die Erfahrung der schuldbeladenen Vergangenheit nicht verloren gehen dürfe. Der deutsche Angriff auf die Sowjetvölker hat mehr als doppelt so viel Menschenleben ausgelöscht, wie im ganzen übrigen Europa. Wenn nicht billigen, so könnte man doch bedenken, warum die von den Bewohner der Krim gewollte Abtrennung als Akt verteidigungspolitischer Notwehr gesehen wird. Nötig, bevor man durch weitere Landnahme der Nato nicht mehr handlungsfähig ist.  Von Sewastopol bis Moskau sind es nur 1270 km – was eine BGM-109 Tomahawk Rakete mühelos erreicht, auch mit atomarem Gefechtskopf.

Die russischen Streitkräfte auf der Krim haben die ihnen im Vertrag mit der Ukraine zugebilligte Obergrenze von 25 000 Mann nie überschritten. Es gab keinen Grund, da auf der Krim kein Schuss und kein Tropfen Blut fiel.

Die Frage, ob im Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Unverletzlichkeit der territorialen Souveränität  Vorrang hat, ist offen. Die Rückkehr zu kaum lebensfähiger, nationalistischer Kleinstaaterei wie im einstigen Jugoslawien ist sicher ein Anachronismus in der globalisierten Welt. Wenn aber durch Kriege und koloniale Arroganz willkürlich gezogene Grenzen auch nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten bei der Bevölkerung keine Akzeptanz finden, dann wären verbindliche internationale Spielregeln für Autonomie bis zu mehrheitlich gewollter Separation womöglich hilfreich, um Blutvergießen zu vermeiden.
Dann hätte man jetzt zum Beispiel ein Druckmittel gegen die Regierung in Kiew, den im Minsker Abkommen vor zwei Jahren mit sofortiger Wirkung vorgesehenen Sonderstatus im Donbass, mit nachfolgender Verfassungsänderung, auch durchzusetzen.

Der russische Außenminister Sergey Lavrov zeigte sich vom Konferenzgeschehen genervt. Die NATO sei eine Institution des Kalten Krieges im Denken und im Herzen geblieben. Dies zeigten auch Erklärungen auf dieser Bühne. Der gesunde Menschenverstand sei für Russo phobische Elemente geopfert worden. Ein Eliteclub von Staaten regiere die Welt. „Unsere Vorschläge zum NATO-Russland-Rat sind nicht beantwortet worden.“ In der Ostukraine hätten beide Seiten den Waffenstillstand verletzt, aber der Westen blende in einer Art Selbstzensur die zivilen Opfer und die viel stärkere Zerstörung der Infrastruktur durch ukrainische Milizen aus. Der Mangel an Informationen sei das Hauptproblem. Russland wolle die volle Umsetzung des Minsker Abkommens, mit Verfassungsreform, Amnestie, Begnadigung der Maidan-Aktivisten, Wahlen und Wiedereinsetzung der Regierung im besetzten Gebiet. Aber Russland werde die ganze Schuld unterstellt, man höre nur Anschuldigungen, keine Fakten.

Der frisch gekürte Außenminister Sigmar Gabriel fragte, ob „unser Politik-Verständnis“ noch compatibel mit der heutigen Welt sei. Krieg sei leider als Instrument der Politik zurückgekehrt. „Die Außenpolitik muss der Verteidigungspolitik voran gehen, nicht umgekehrt.“ Während Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sich ungeachtet Trumpscher Tiefschläge als Transatlantikerin „ohne Wenn und Aber“ anbiederte und von der endlich gelungenen Kehrtwende zu mehr Aufrüstung schwärmte, warnte Gabriel, dass mehr Militärausgaben nicht zwangsläufig mehr Sicherheit brächten. Deutschland gäbe jährlich 30 bis 40 Millionen Euro für Flüchtlinge aus, weil militärische Interventionen schief gegangen seien. Dies sei auch Stabilisierung. Er verspüre „keine Glückseligkeit über eine neue Aufrüstungsspirale“. Die Richtung sei klar, wurde er dann doch kleinlaut, aber kurzfristig wisse er nicht, woher er das Geld nehmen solle.

  1. Wie kommen wir zu einer gemeinsamen Friedenspolitik?

Der Stein der Weisen ist nicht in meinem Besitz. Über diese Frage aller Fragen müssen wir schon gemeinsam nachdenken. Der Frieden betrifft uns alle so existentiell, dass man ihn nicht allein den Politikern überlassen kann. Auch nicht den Teilnehmern der Münchner Sicherheitskonferenz.  Auch uns nicht – aber die Gefahr besteht ja kaum.

Die Mächtigen müssen von der Militärlogik zu ziviler Logik zurück finden – wer würde da widersprechen. Denkt man. „Wenn eine Idee mit einem Interesse zusammenstößt, ist es allemal die Idee, welche sich blamiert“, so die zeitlose Einsicht von Friedrich Engels.
Der Gewinn des internationalen Waffenhandels beträgt so viel wie das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung. Zumindest diese Hälfte ist ziemlich sicher dagegen – aber welchen Einfluss hat sie?
Krieg wird sein, solange auch nur ein Mensch am Krieg verdient, prophezeite Bertolt Brecht. Denkbar aber ist, eine Ordnung zu schaffen, in der Frieden das bessere Geschäft ist. Schwerter zu Pflugscharen. Gemeinwohl vor Eigennutz.

Die Realität könnte davon weiter nicht entfernt sein. Die Ausgaben aller NATO-Staaten für Verteidigung betragen über eine Billion Dollar im Jahr. Seit Existenz der NATO ist aber kein Verteidigungsfall eingetreten. (Den Kampf gegen die Schwerstkriminalität terroristischer Anschläge zum Krieg zu erklären und so jahrelang vor allem Unschuldige zu töten, ist selbst kriminell.)
Es gibt keinen einzigen Fall, in dem das gewaltsame Eingreifen dieses US-dominierten, größten Militärbündnisses der Welt, nicht vielfach mehr Menschenleben gekostet hat, als zu schützen vorgeben wurde. Kein einziger Fall, in dem alle in der UN-Charta geforderten Voraussetzungen erfüllt gewesen wären.
Die Menschenrechte wurden zu einem ideologischen Instrument degradiert, um in deren Windschatten mit Gewalt geostrategische Macht zu erobern. Keine bewaffnete „humanitäre Intervention“ hat Humanismus gebracht. Die angeblich „friedenserzwingenden Maßnahmen“ haben nur Hass und Fundamentalismus erzwungen. Das ist das Gegenteil von Sicherheit. Das rückt ganze Teile Europas in nationalistische Abwehr.

Der neue US-Verteidigungsminister  James N. Mattis, der früher NATO-Funktionen innehatte, versprach, die Abschreckung der NATO zu verstärken, eine „verstärkte Vorwärtspräsens“. „Die NATO dient dazu, unseren Lebensstil zu bewahren.“ Dies war der zweite Schlüsselsatz auf dieser Konferenz. Wessen und welchen Lebensstil genau? Verteidigung nicht mehr als Schutz vor kriegerischer Gewalt, sondern als Behauptung der eigenen, elitären Ansprüche gegenüber dem Rest der Welt.

Alle sind schuldig, vor allem wir Politiker, bekannte Putin vor nunmehr 15 Jahren in seiner heute verdrängten Rede vor dem Bundestag. Wir hätten es noch nicht gelernt, uns von den Stereotypen des Kalten Krieges zu befreien. Soviel selbstkritisches Entgegenkommen hört man von westlichen Politikern selten. Ohne eine moderne europäische Sicherheitsarchitektur lasse sich kein Vertrauensklima schaffen, so Putin. Doch von einem Bündnis unter Einbeziehung Russlands wollte die NATO nichts wissen. Sie setzte auf verharmlosend „Abschreckung“ genannte existentielle Bedrohung: bis zu Bundeswehreinsätzen in Ex-Sowjetrepubliken, in denen einst die Wehrmacht wütete. Wandel durch Annäherung hat zu Entspannung geführt, nicht Wandel durch Abschreckung.

Russland ist kein Gegensatz zu Europa, sondern sein Bestandteil. Bis zum Ural auch geografisch. Seine Kunst hat die europäische tief beeinflusst: Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow, Eisenstein, Tschaikowski, Schostakowitsch, Chagall, El Lissitzky und ungezählte andere, bis heute. Europa verstümmelt sich mit der Absonderung von Russland – kulturell, ökonomisch, touristisch, menschlich. Europa ist auf Russland angewiesen, um in Frieden zu leben.

Doch auf dieser Konferenz ging es nicht um Annäherung oder Entspannung, viele Redner setzten stattdessen auf Abschreckung und Aufrüstung. Zu den Sponsoren der Tagung gehören traditionell die Rüstungskonzerne Krauss-Maffei Wegmann, MBDA und Lockheed Martin. Auch aus dem Etat für „sicherheitspolitische Öffentlichkeitsarbeit“ des Verteidigungsministeriums kam eine halbe Million Euro.
Doch, es gab abweichende Meinungen, auch aufschlussreiche site-events, etwa zur Klima-Bedrohung. Oder erstmalig ein nobles literarisches Rahmenprogramm mit drei Nobelpreis-Trägern. Die eigentlichen Gespräche fanden in den Hinterzimmern statt, ohne Öffentlichkeit. Sie können hilfreich sein, für wen aber – das erfährt man nicht. Was auf offener Bühne stattfand war inszenierte Glasnost, ohne Perestroika. Die Logik der Militärs hat die Oberhand, das ist mehr als beunruhigend, es ist hoch gefährlich.

Es ist höchste Zeit über andere Ansätze nachzudenken. Gerade angesichts einer sogenannten Sicherheitskonferenz. Der von den Nazis umgebrachte Theologe Dietrich Bonhoeffer dachte wahrlich christlich-abendländisch: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine, große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung.“

Frieden ist der feste Wille, miteinander auszukommen. Weil die übergroße Mehrheit der Menschen im Krieg nichts zu gewinnen hat, aber alles zu verlieren. Das Wagnis liegt in der Bereitschaft, sich gegenseitig zu vertrauen. Indem man die Interessen des anderen respektiert, also gleichberechtigt zusammenarbeitet, sich beim Ringen um Einfluss nicht übervorteilt. Dazu gehört die Fähigkeit, sich selbst als belastet anzusehen und Kritik an der Gegenseite ohne einseitige Schuldzuweisungen vorzubringen. Unsere Freiheit wird am Humanen verteidigt, nicht am Hingekuschten – diesem Machtkampf um Energie und Einfluss.
Krieg ist die exzessivste Form von Terrorismus. Er ist seit 1929 für alle Zeiten völkerrechtlich geächtet. Die wichtigsten Unterzeichnerstatten haben sich nicht daran gehalten.

Demokratie heißt auch selber schuld sein. Wenn wir uns angesichts all der Kriege, all der vermeintlichen Schutzverantwortung, die nur die Interessen der Macht schützt, nicht schuldig fühlen, fühlen wir uns auch nicht als Teilhaber einer Demokratie. Obwohl wir Aktivbürger die Verfehlungen, die mit unserem Geld in unserem Bündnis gemacht werden, so gut wie nicht verhindern können, sind wir doch zuständig dafür. Eine gesellschaftliche Debatte über all das gibt es kaum. Die Kampagne Stopp Ramstein mobilisiert derzeit immerhin viele Menschen. Die Friedensbewegung scheint sich von interessierter Seite nicht mehr spalten zu lassen. Es geht nicht darum, Krieg zu gewinnen. Der Friede muss gewonnen werden.

Die herrschenden Eliten nennen uns gern Steuerzahler. Wir sollen ihre Pläne finanzieren und ansonsten nicht weiter stören. Als aktive Bürger sind wir nicht gefragt. Unseren Drang nach Freiheit sollen wir als Konsumenten austoben. Für hinreichend Waren und Zerstreuung ist gesorgt. Das funktioniert leider recht planmäßig. Der schon zitierte Brecht hat die Obrigkeit beim Wort genommen: „Man hat gesagt, die Freiheit entsteht dadurch, dass man sie sich nimmt. Nehmen wir uns also die Freiheit, für den Frieden zu arbeiten!“

 

Johano Strasser (Hg.)
Das freie Wort
Vom öffentlich Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter
208 S., Hardcover mit Schutzumschlag, € 19,90
ISBN 978-3-86906-983-8
Wie eine Dampfwalze – Nachruf auf Helmut Kohl

Daniela Dahn

Helmut Kohl Eine Mehrheit in Ost und West wollte die Einheit mit mehr Zeit – und im europäischen Rahmen. Doch so hatte der große Europäer nicht gewettet

der Freitag | Nr. 25 | 22. Juni 2017

Nachrufe auf Politiker sind meist überzogene Erfolgsgeschichten. Sie gehen aber in jene Geschichtsschreibung ein, über deren Deutungshoheit die Mächtigen verfügen. Unter all den lobenden Erinnerungen an Helmut Kohl überraschte in den letzten Tagen eine, die auch gleich wieder unterging. Im Deutschlandfunk wurde an ein vertrauliches Gespräch Kohls mit dem Historiker Fritz Stern erinnert, in dem dieser den damaligen Kanzler fragte, ob er im Prozess der Vereinigung Fehler gemacht habe. Kohl habe länger überlegen müssen (was nicht überraschend ist) und dann gesagt, doch, er habe versäumt, ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, dass nicht alles in der DDR falsch war und nicht alles im Westen richtig. Das mag zunächst wie ein lässliches Versäumnis klingen. Aber Fritz Stern fügte hinzu, dass eine solche Wertung des Kanzlers am dringendsten nötig gewesen wäre und genau das war, was am meisten von allem fehlte.

Kohl war nicht der Kanzler der Einheit, sondern der Kanzler dieser Einheit. Der Legende von den mangelnden Alternativen sollte daher auch im Respekt vor seinen tatsächlichen Leistungen ein kritisches Erinnern entgegengesetzt werden. Dem geschickten Taktiker der Macht war das Ende der DDR nicht in den Schoß gefallen. In einem Fernsehinterview brüstete er sich damit, dass die ungarische Führung, der bei einem Geheimtreffen in Bad Godesberg „enorme wirtschaftliche Hilfen“ zugesagt wurden, den Zeitpunkt der Öffnung ihrer Grenze für DDR-Bürger auf die Minute nach Kohls Wunsch getimt hatte. Pünktlich zur Eröffnung des CDU-Parteitages, auf dem er, wie er wusste, wegen seines angeschlagenen Images gestürzt werden sollte, verkündete er die Erfolgsmeldung, und alle Umsturzpläne versanken im Jubel. Sein Geschick zur Überrumpelung setzte er dann durch seine Strickjacken-Diplomatie mit dem gutgläubigen Gorbatschow fort.

Erst als die Dynamik die gewünschte Richtung annahm, ging er zu seinem erbarmungslos konfrontativen Auftreten über. Obwohl er doch wusste, dass beide Seiten in unterschiedlichem Maße Positives und Negatives aufwiesen, war eine Begegnung auf Augenhöhe nicht mehr möglich. Nicht mal auf Bauchnabelhöhe. Nun war Kniefall angesagt. Die zahllosen Aktivbürger der DDR, die mit politischer Reife und Besonnenheit in den aus dem Boden geschossenen räteähnlichen Bewegungen den mehrheitlichen Willen zum Wandel und zu würdevoller Einheit betrieben, wurden arrogant vom Runden Tisch gewischt. Da der führende Historiker wider besseres Wissen ins Horn flächendeckender Delegitimierung blies, wurde die zum Mainstream. Und der zum tauglichen Erfüllungsgehilfen neoliberalen Plattmachens. Die im Osten plötzlich zugängliche Westpresse erfreute sich großer Glaubwürdigkeit, verständlich, war doch die mangelnde Öffentlichkeit in der DDR schwerer zu ertragen, als der Mangel an Konsumgütern. (Eine Feststellung, die auf mich als Autorin zutraf, die zu verallgemeinern aber zu meinen Irrtümern gehörte.) Kaum jemand hatte es damals für möglich gehalten, in welchem Maße diese Presse durch Verbreitung von Fake News die Stimmung anheizte und zum Kippen brachte. Etwa durch die schon aus medizinischer Sicht hahnebüchende Behauptung, DDR-Funktionäre hätten ihren Untertanen bei lebendigem Leibe Organe entnommen, um für die greisenhafte Führung eine Art Ersatzteilbank anzulegen. Zeiten der Revolution sind nicht Zeiten des Dementis. So auch nicht nach der sensationslüsternen Behauptung des damaligen Kanzlerberaters Horst Teltschik, die Zahlungsunfähigkeit der DDR stünde unmittelbar bevor. Viel später hat die Deutsche Bank die Auslandsverschuldung der DDR als nicht besorgniserregend beschrieben. Beide Seiten hatten an der Nahtstelle konkurrierender Ideologien über ihre Verhältnisse gelebt. Gemessen an der Inlandsverschuldung von 20.000 DM pro Kopf, sind die offensichtlich in Saus und Braus lebenden Westdeutschen sogar verschuldeter in die Einheit gegangen. Teltschik sagte dieser Tage, Kohl wäre „wie eine Dampfwalze marschiert“, ohne ihn hätte es die schnelle Einheit nicht gegeben. Das wäre auch besser gewesen. Im Frühjahr 1990, so die Forschungsgruppe Wahlen, waren zwar fast alle Deutschen für die Einheit. Aber selbst da noch verlangten die absolute Mehrheit der Ostdeutschen und gar eine Zweidrittelmehrheit der Westdeutschen, man möge sich damit Zeit lassen. Viele wünschten sich eine Einigung im Rahmen Europas. Doch so hatte der Europäer Kohl nicht gewettet.

Denn der Demokratisierungsdruck aus dem Osten begann auf die Bundesrepublik überzugreifen. Schon schlägt die SPD einen Runden Tisch auch für Bonn vor. An der theologischen Fakultät der Universität Tübingen wird eine Resolution verabschiedet: „Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.“ Und Bündnis 90 vergreift sich am Heiligsten, will einen Volksentscheid über den Erhalt des Volkseigentums. Nun aber schnell durch Rechtsangleichung blockieren. In Kohls Auftrag verhandelt Innenminister Schäuble mit sich selbst den Einigungsvertrag, dessen Kern die im Anhang versteckte Regelung der offenen Vermögensfragen ist.

Die wenigen in Ost und West, die Kohls der heimischen Lobby verpflichteten Politik widersprachen, wurden überhört, beschimpft und der Ostalgie bezichtigt. Das habe ich mit meinen Nachwende-Büchern deutlich zu spüren bekommen. In Westwärts und nicht vergessen zitierte ich den Sozialphilosophen Oskar Negt mit seiner Warnung, man könne nicht die Biografien eines ganzen Volkes mit einem Schlag für null und nichtig erklären. Wer andauernd in einem demütigenden Entwertungszustand gehalten werde, der beginne mit der Wiederherstellung seiner Würde auf einer rebellierenden Ebene. Die Unruhe zeigte sich zunächst in einem enormen Aderlass an jungen, kreativen, gebildeten und lebendslustigen Menschen, die im gewendeten Osten keine Zukunft mehr sahen.

Zurück blieben weniger Bewegliche und ein im Vergleich zu Westdeutschland überdurchschnittlich hoher Anteil an Rentnern, die oft vorzeitig in den Ruhestand geschickt worden waren. Die von Negt vorhergesagte Rebellion hat sich schließlich in Fremdenfeindlichkeit, Pegida und AfD entladen. Ein „neuer Nationalismus der Deklassierten“ – genau das hatten namhafte Wirtschaftswissenschaftler aus beiden Staaten in ihrem „Warnruf der ökonomischen Vernunft“ im Februar 1990 vorausgesagt.

Angeblich bestimmte der Niedergang der DDR das Tempo der Einheit. Wer aber bestimmte das Tempo des Niedergangs? Der Guardian hat die Währungsunion – zu den Bedingungen von Kohl – als „ökonomische Atombombe“ bezeichnet. Die 300-prozentige Aufwertung in der DDR war der kürzeste Weg zur Macht über Gesamtdeutschland. Selbst der Generalbevollmächtigte der Treuhand, Norman van Scherpenberg, beklagte, dass in der Nacht zum 1. Juli 1990 der gesamte Kapitalstock der DDR total vernichtet worden sei. Dann zu behaupten, die Ingenieure, Meister und Arbeiter der DDR hätten sowieso nichts als Schrott produziert, war eine weitere Demütigung. Schnell verscherbelte die Treuhand das Volkseigentum, zu 95 Prozent an Unternehmer aus dem Westen. Das Tempo der Privatisierung sollte dem Tempo der Desillusionierung nicht hinterherhinken. 1990 war das beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte. Die Zahl der Millionäre stieg proportional zu der der Arbeitslosen. Der Versuch, diese mit Hartz IV durch Kürzung ihrer Bezüge zu disziplinieren, bewirkte den Niedergang der SPD, die einst mit ihrer Ostpolitik die eigentliche Vorarbeit geleistet hatte. All das sind Folgen der Kohl’schen Einheit.

Der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl sagte mir 1994 in einem mehrstündigen Gespräch, dessen Niederschrift er später autorisierte: „Ich hielt damals wie heute zwei demokratische deutsche Staaten, die eine allmähliche Konvertierbarkeit ihrer Währungen anstreben, für das bessere Konzept. Mit der Hälfte der heutigen Transferleistungen hätte die DDR gut leben können.“ Aber nichts war für Kohl und seine Mannen unerwünschter als das. Lieber finanzierte er die Kosten der Einheit, die auf bis zu zwei Billionen Euro geschätzt werden, durch Belastung der Sozialsysteme und vor allem künftiger Generationen, die die enorme Staatsverschuldung noch lange abzuzahlen haben.

„Der kalte Krieg gegen den Sozialstaat hinterlässt eine andere Republik“, in der Grundrechte und Demokratie verfallen, lautete die Anklage von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Theologen und Gewerkschaftern aus West und Ost im Januar 1997. Wir forderten erstmals einen Politikwechsel mit Rot-Rot-Grün, der dem Grundgesetz wieder gerecht würde. Diese Erfurter Erklärung brachte den Choleriker Kohl in Rage, er beschimpfte uns als „intellektuelle Anstifter“ (was sonst ist die Aufgabe von Intellektuellen?), wir würden uns zusammenrotten und unser „Haupt erheben“ (gegen den Koloss aus Oggersheim war das nicht vorgesehen), wir wandelten auf der „Straße des Verrats“. Verrat – es gibt in der Moralgeschichte kaum einen schwerwiegenderen und in der Kunst öfter reflektierten Vorwurf. Nach diesem persönlichen Angriff nehme ich mir das Recht, zurückzufragen: Ist Helmut Kohl des Verrats an der inneren Einheit zu bezichtigen? Hat er seinen Machterhalt über alles gestellt? Die Währungsunion ohne Wirtschafts- und Sozialunion wurde später auch zum Modell für Europa. Deutschland ist der größte Nutznießer des Euro. Die armen Südeuropäer zahlen drauf und damit indirekt auch für unsere formidable Einheit. Die von Helmut Kohl beförderte Überwindung der Teilung und der Beitritt zu Wohlstand und Freizügigkeit haben zweifellos viel Normalität und Annehmlichkeit gebracht, die niemand mehr missen möchte. Aus zerfallenen Städten sind Schmuckstücke geworden, denen man nicht ansieht, wer Hausherr und wer Hausmeister ist. Die neuen Länder können ihren Verbrauch bis heute nicht selbst erwirtschaften. Aber besonders die junge Generation erfreut sich des gewachsenen Spielraums, auch wenn im Schnitt das Vermögen ostdeutscher Eltern immer noch weniger als halb so groß ist wie das der Westeltern. Doch durch die subventionierte Kaufkraft der Ostdeutschen scheinen sie sich weitgehend mit der Deklassierung abgefunden zu haben.

Als größtes Versäumnis der Einheit sehen viele in Ost und West dennoch an, dass die Vorschläge für neue Lösungen nicht gemeinsam erörtert, die Chance zu gesellschaftlichem Wandel vertan wurde, stattdessen der Osten zur schlechten Kopie des Westens gemacht und so überholte Machtstrukturen restauriert wurden. Etwas anderes war im Weltbild der Regierenden nicht vorgesehen. Kohl ein Glücksfall der Geschichte? Da muss Angela Merkel etwas verwechselt haben – er war ein Glücksfall ihrer Geschichte. Doch das ist schon ein anderes Kapitel.

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Der Traum vom ewigen Frieden

Daniela Dahn

erschienen in: OXI – WIRTSCHAFT FÜR GESELLSCHAFT – 6. Juni 2017

Wünsche gehen gelegentlich in Erfüllung, Träume nie. Nie ganz. Wenn ich also statt drei Wünschen im Märchen einen Traum im Leben offen hätte, hielte ich mich immer an den Rat: To dream big. Damit Kleinmütige angesteckt werden und sich vielleicht doch ein wenig bewegen. In einer Zeit aber, in der Buchtitel wie „Krieg. Wozu er gut ist“ an renommierten Universitäten erscheinen und die rhetorische und praktische Mobilmachung wieder nach Europa zurückgekehrt ist, erscheint ein Gespräch über Frieden fast wie ein Luxus. „Zum ewigen Frieden“ – gleich im ersten Satz seiner Schrift räumt Immanuel Kant ein, dass es sich bei diesem Titel um die satirische Überschrift auf dem Schilde eines holländischen Gastwirtes handelte, unter die ein Friedhof gemalt war. Er ließ es dahingestellt, ob „jenen süßen Traum“ nur die Philosophen träumen, am wenigsten aber bestimmt die Staatsoberhäupter, „die des Krieges nie satt werden können“. Da aber die Bürger alle Kosten eines Krieges tragen müssen, als da wären: kämpfen und sterben, Kriegstribute zahlen, Verwüstungen beseitigen, eine nie zu tilgende Schuldenlast abtragen – ist er sich sicher: Wenn die „Beistimmung der Staatsbürger“ darüber zu entscheiden hätte, ob Krieg sein solle oder nicht, „sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“.

Auch Albert Einstein, der sich als „militanten Pazifisten“ bezeichnete, war überzeugt: „Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden.“ Daraus folgt die erste Traumforderung: In der für alle existenziellen Frage von Krieg und Frieden, von Sein oder Nichtsein, müssen die Bürger das letzte Wort haben. In einer funktionierenden Demokratie mit Medien, die sich nicht dazu herablassen, Sündenböcke zu schaffen, sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein. Doch der Versuch, reale Macht durch die von Ideen und Überzeugungen zu ersetzen, hat es schwer. Zumal es immer auch Bedenken gibt, die nicht einfach zu übergehen sind. Friedensfreund Freud fürchtete in seinem Briefwechsel mit Einstein, dass der menschliche Aggressionstrieb nicht abzuschaffen sei und es eine utopische Hoffnung bliebe, dass Menschen sich freiwillig der Diktatur der Vernunft unterwerfen.

Der Weltfriede verlangt also eine kolossale moralische Anstrengung, wie sie bisher nicht abverlangt wurde. Zwar wurden nach den Grauen des Zweiten Weltkrieges mit der UN-Charta überzeugende Spielregeln erlassen, aber diese sind von allen Seiten immer wieder unterlaufen worden. Und darüber hinausgehende Entwürfe, Voraussetzungen für eine dauerhaft friedliche Weltordnung zu schaffen, sind geradezu spärlich.Die einen sehen eine Weltinnenpolitik als Voraussetzung, die anderen eher pragmatische Schritte, wie die Ächtung aller Massenvernichtungswaffen und das Verbot von Rüstungsexport. Heutzutage, da stattdessen wieder atomar aufgerüstet und der Einsatz von Atombomben wahnwitzigerweise wieder für denkbar gehalten wird, wäre dies ein Riesenschritt.

Die Folgen von Rüstung und Waffentests vernichten schon im Frieden, was im Krieg zu schützen vorgegeben wird. Die zweite Traumforderung wäre also: Das politische, zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche, wissenschaftliche, künstlerische und mediale Ringen um Konzepte für dauerhaften Frieden muss deutlich verstärkt werden. Da sich die Heimgesuchten in Träumen bekanntlich oft auch konstruktiv in die Handlung einbringen, erlaube ich mir als Drittes einen Traumvorschlag. Er berücksichtigt, dass noch erfolgversprechender, als Menschen bei ihren Idealen und Werten zu packen, ist, sie bei ihren Interessen abzuholen. Frieden muss ein besseres Geschäft sein als Krieg. Für das Geld, das derJugoslawienkrieg gekostet hat, so haben Fachleute damals berechnet, hätte jeder Familie im Kosovo ein neues Haus mit Swimmingpool gebaut werden können. Ich bin sicher, dass mensch unter diesen Umständen bereit gewesen wäre, sich zu verstehen.

Die unerträgliche Verteilung von Macht und Reichtum ist organisierte Verantwortungslosigkeit. Sie setzt Wut und Destruktion frei, Terrorismus und Flucht. Am Anfang des jüngsten Flüchtlingsdramas war viel von Beseitigung der Ursachen die Rede. Inzwischen geht es fast nur noch um Unterbindung unerwünschter Migration. Es werden Mauern und Zäune gebaut, wie in Melilla, an der spanisch-marokkanischen Grenze. Als militarisierte Polizei greifen die europäischen Frontex- Truppen Flüchtlinge auf und auch an. Mit militärischem Gerät wie Schnellbooten und Drohnen, Hubschraubern und Schusswaffen, Wärmebildkameras und Navi-Software. Dafür wird ein Budget von vielen Millionen bereitgestellt.

Kapital, das in Konfliktverhütung investiert wird, ist sinnvoll investiertes Kapital. Denn Konfliktverhütung ist preiswerter als friedenserhaltende Maßnahmen, und diese sind wiederum preiswerter als Krieg. Am Frieden und am Krieg verdienen nicht dieselben. Letztlich entscheiden aber Regierungen, wer woran verdient. Ob der Staat subventioniert oder besteuert, öffentliche Aufträge vergibt oder privatisiert – die Werkzeuge stehen zur Verfügung. Die Preise von Waffen bilden sich nicht transparent auf dem Markt, es sind politische Preise, von Lobbyisten mit Regierenden ausgekungelt. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Mit realer oder vermeintlicher kapitalistischer Profitmaximierung schon.

Wirtschaftswissenschaftler und Friedensforscher sollten Modelle durchrechnen, die dazu führen, dass weltweit Mähdrescher und Brunnen, Schulen und Krankenhäuser, Kunst und Mode ein besseres Geschäft sind, als Waffen und Kasernen, Uniformen und Truppenübungsplätze, Vernichtungsforschung und PC-Killerspiele.
Wer das für naiv hält, ist zynisch. Träume sind verschlüsselte Wünsche und Ängste. Es ist wünschenswert, die Angst vor dem gewaltsamen Wahnsinn nicht zu verdrängen, sondern zuzulassen und bewusst zu machen. Damit sie produktiv wird in dem Wunsch nach einer dauerhaft befriedeten Welt, in der träumen nicht sinnlos ist.

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Grenzen des Sagbaren – Obama und Merkel auf dem Kirchentag

Daniela Dahn

erschienen in: Leitartikel im Freitag vom 1. Juni 2017

Merkel und Obama auf dem Kirchentag – viele Medien schwärmten vom „Dream-Team“, das Tausende in Berlin begeisterte

Was kommt heraus, wenn sich der immer noch einflussreiche und bis vor kurzem mächtigste Mann und die mächtigste Frau der Welt vor 70.000 Zuhörern über den Zustand ebendieser Welt unterhalten? Die Fragen des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, und vor allem der Jugendlichen waren erfreulich herausfordernd und substanziell. Angela Merkel wirkte angespannt, ihre wohl als Lockerungsscherz gemeinte Bemerkung, noch vor Luther sei Kolumbus gewesen und schon „damals begannen unsere guten Beziehungen zu Amerika“, war ein Fauxpas. Was damals begann, waren Unterwerfung und Massakrierung der indigenen Bevölkerung. Barack Obama überging es, gewohnt charmant. Er sei sehr stolz auf seine Präsidentschaft. Er wies hoffnungsvoll darauf hin, dass die Menschen dieser Welt nie besser gebildet waren als heute. Warum aber Bildung und Irrationalität sich so gut vertragen, blieb offen. Auf die Frage, ob denn die maßlosen Rüstungsausgaben angesichts des schrecklichen Hungers und Elends auf der Welt vertretbar seien, antwortete Obama kirchentagsgerecht: Es gäbe genug für alle, wenn man den richtigen sozialen Vertrag zustande brächte. Auch wünschte er, dass Atomwaffen völlig aus der Welt verschwinden würden, die Notwendigkeit von Militärbündnissen müsse zurückgedrängt werden (bis sie „obsolet“ sind?), Teile des Budgets sollten für Diplomatie genutzt werden. Das brachte Beifall.

Ohne Nachfrage blieb, weshalb auch in Obamas Amtszeit die Militärausgaben massiv aufgestockt wurden – und die riesige Kluft zwischen Arm und Reich weiter wuchs. Was an die Wurzel gegangen wäre: Wie viel Einfluss hat der angeblich mächtigste Mann der Welt, wenn er ein Konzept vertritt, das den Wirtschaftsbossen nicht passt? Wie ist das mit dem Primat der Politik in der Demokratie?

Merkel versuchte sich an einem Beispiel für einen gelungenen Militäreinsatz: Den durch den IS in ihrer Existenz bedrohten Jesiden im Nordirak konnte durch westliche Unterstützung der kurdischen Peschmerga geholfen werden. „Ich war dankbar, dass militärische Fähigkeiten da waren, die verhindert haben, dass ein Volk vernichtet wird.“ Die alte Mär, Militär, dein Freund und Helfer, besonders als Verhinderer von Völkermord. Dass die Jesiden nie bedroht worden wären, wenn die USA durch Krieg und Besatzung im Irak den Homunkulus IS nicht erst gezeugt hätten, blieb ebenso unerwähnt wie der Umstand, dass man mit den Peschmerga die Falschen aufgerüstet hat. Nicht sie haben den IS am entschiedensten bekämpft , sondern die lokale kurdische PKK, darunter viele Jesiden. Die aber werden inzwischen fatalerweise mit deutschen Waffen von den Peschmerga und dem NATO- Partner Türkei angegriffen. Was Merkel hier verbreitete, würde man heute alternative Fakten nennen, wenn das gute Wort Alternative nicht zu schade dafür wäre.

Ob es nicht unverantwortlich sei, so die beherzte Frage, so viele Menschen im Mittelmeer sterben zu lassen? Sofort schob Merkel alle Schuld auf die Schlepper, denen das Handwerk zu legen sei. Das ist, als ob ein Kind die Hände auf die Augen legt und sagt: Such mich! Mich, den Kern des Problems. Der so unübersehbar in den vom Westen mitverantworteten Zuständen in den Fluchtländern liegt – der Not, dem Interventionsimperialismus, den Naturkatastrophen. „Die Gegner wollen unsere Art, zu leben, zerstören“, beklagte Merkel und verschwieg Gründe dafür.

Allein, was die Industriestaaten für ihren Lebensstil an Kohle und Öl verbrennen, ist die Hauptursache dafür, dass jährlich über 20 Millionen Menschen aus den ärmsten Ländern wegen extremer Temperaturen, Fluten und Stürme ihre Heimat verlassen müssen. Das belegt die jüngste Greenpeace-Studie „Klimawandel, Migration und Vertreibung“. Da ist ganz anderen „das Handwerk“ zu legen als den Schleppern, die die eigennützige, also Marktwirtschaftliche Dienstleistung für einen durch und durch verständlichen Bedarf anbieten. Obama immerhin sprach von „der Verbesserung der Situation in den Ländern“ als der wirksamsten Methode, Leben zu retten. Konnte er selbst von dieser Methode Gebrauch machen? Wohl kaum, weil er damit gegen die kapitalistische Funktionslogik verstoßen hätte: andere übervorteilen, in die Knie zwingen und ausbeuten, um selbst bessere Überlebenschancen zu haben.

Emphatischen Beifall erhielt die Frage, weshalb gut integrierte Migranten, etwa aus Afghanistan, abgeschoben würden, obwohl alle wollen, dass sie bleiben. Die Kanzlerin sprach vom „Dilemma der Kluft zwischen christlichem Mitgefühl und Realpolitik“. Aber wenn in rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt worden sei, dass es keinen hinreichenden Grund zum Bleiben gäbe, dann müssten Geflüchtete denen den Vorrang lassen, die uns wirklich bräuchten. Als ob das durch bürokratische Vorschriften so klar festzustellen wäre.

Auf der christlichen Seite verteidigt Merkel tapfer ihre Ablehnung einer Obergrenze, realpolitisch öffnet sie eine Abschiebetür, durch die alle müssen, die den Neuankömmlingen Platz schaffen sollen. Praktisch läuft das auf eine Obergrenze hinaus.
Merkel und Obama, das war zweifellos eine aufschlussreiche Begegnung. Auch was die Grenzen des Sagbaren und der Ehrlichkeit von Machthabern betrifft. Regierungsnahe Medien und Wähler lassen unkritisch Beschönigungen durchgehen.

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Deutungshoheit wichtiger als Lufthoheit – Über die Notwendigkeit alternativer Medien

Warum alternative Medien wie der Rubikon gebraucht werden   https://www.rubikon.news/artikel/warum-werden-alternative-medien-wie-der-rubikon-gebraucht  

Oberhaupt der Mächtigen – Joachim Gauck hat keine unbequemen Fragen gestellt

Bilanz Joachim Gauck hat keine unbequemen Fragen gestellt – und es den Eliten damit leicht gemacht erschienen in der Freitag 06/17 Die Politiker fast aller Parteien sind sich einig: Joachim Gauck hat dem Amt des Bundespräsidenten wieder Würde gegeben. Auch die lobhudelnden Medien blieben nicht ohne Wirkung und brachten ihm, laut Umfragen, hohe Sympathiewerte bei…

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