Daniela Dahn

Politikum 17. Juni

Daniela Dahn

Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR war von Anfang an auch ein Kampfplatz der Geschichtsschreibung in Ost und West. Das dürfte zum 70. Jahrestag des Ereignisses nicht viel anders sein. Was auf beiden Seiten gern unterschlagen wurde, war der Kontext der Nachkriegsgeschichte, in der es durchaus noch offen war, zu welcher Ordnung sich ein geteiltes oder gar vereintes Deutschland entwickeln würde. In der DDR wurde die offensichtlich gewordene Unzufriedenheit, ja, Wut ganzer Belegschaften, neben zögerlichem Eingeständnis von Fehlern, auf vom Westen eingedrungene antisozialistische, wenn nicht faschistische Kräfte reduziert. Eine differenzierte Bewertung in der Öffentlichkeit war nicht möglich.

Wolfgang Leonhard hat im Mai 1945 auf einer internen Sitzung sehr glaubhaft Walter Ulbricht sagen hören: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« Die Nachkriegspolitik der westlichen Besatzungsmächte hat allerdings gezeigt, dass in deren internen Sitzungen derselbe Satz gefallen sein muss.

Beispiel Hessen. Hier hatte die US-Militärbehörde sehr schnell darauf gedrängt, dass die Ordnung durch eine neue Verfassung wiederhergestellt wird. Sie sollte mit einem Volksentscheid angenommen werden. So weit, so gut. Die damals handelnden Politiker waren zumeist aus Widerstand und Verfolgung gekommen, sie hielten sich an den amerikanischen Fahrplan, wichen aber in einem zentralen Punkt ab – bei der Wirtschaftsordnung. In Artikel 41 wurde gefordert, dass sofort nach Inkrafttreten der Verfassung die Großindustrie in Gemeineigentum überführt wird: Bergbau, Kohle, Kali und Erze, dazu die Stahlwerke, die Energiebetriebe und das Verkehrswesen. Großbanken und die Versicherungen sollten unter staatliche Verwaltung genommen werden. Die US- Besatzungsmacht war entsetzt. Aber der angekündigte Volksentscheid konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. So ordneten sie als Ausweg an, neben der Abstimmung über die Verfassung, über Artikel 41 gesondert abzustimmen. In der irrigen Annahme, so viel Sozialismus werde schon keine Mehrheit finden.

Am 1. Dezember 1946 stimmten 72 Prozent der Hessen für die Enteignung der Großindustrie. Die hessischen Bürger hatten sich für eine wahrhafte Volksverfassung entschieden. Damit entsprachen sie dem übergroßen Willen aller Deutschen. Wo immer es im gleichen Jahr Volksentscheide zur selben Frage gab, ob in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen, stimmten zwischen 70 und fast 80 Prozent für Gemeineigentum der Großindustrie. Oft war noch die Enteignung von Kriegsverbrechern und Großgrundbesitzern vorgesehen. Die an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide hatten ihr Eigentum im Ganzen erhalten, und manche hatten es gemehrt, alle anderen waren zu Millionen um ihr Eigentum gebracht. Die Leute waren sicher nicht übers Jahr zu Antifaschisten oder gar Sozialisten geworden, aber sie fühlten sich wohl betrogen und wollten die Schuldigen und deren Eigentumsbasis nicht davonkommen lassen.

Das Entsetzen der Westalliierten steigerte sich. Es soll zu hektischen Beratungen in Washington gekommen sein. Im Ergebnis wurde der Volkswille

unterlaufen und die Sozialisierung mit allen Mitteln verhindert. Wenn nicht durch direktes Verbot, so durch den Erlass von Ausführungsgesetzen, die alles blockierten. Gelang die Enteignung in Einzelfällen doch, soll es Abfindungen in Millionenhöhe gegeben haben, mit denen man sich schnell wieder auf dem Markt einkaufen konnte. Was offenbar völlig aus der Erinnerung getilgt wurde, ist die historische Tatsache, dass die Westdeutschen diesen Demokratiebetrug keineswegs widerstandslos hinnahmen.

Im Oktober 1948 rief die Stuttgarter Gewerkschaftsleitung zu einer Protestkundgebung gegen die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates unter Ludwig Erhard auf, an der Zehntausende aus den Großbetrieben von Bosch und Daimler teilnahmen. Die Absetzung des »Wirtschaftsdiktators« Erhard wurde gefordert, der für unsoziale Bestimmungen in der Währungsreform und Verringerung des Realeinkommens verantwortlich gemacht wurde. In der Innenstadt kam es zu einem Aufruhr, der von der US-Besatzungsmacht mit Tränengas, berittener Polizei und einer Panzerformation niedergeschlagen wurde. Am Abend hatte das Zentrum ein »kriegsähnliches Aussehen«, wie die Zeitungen schrieben, Rädelsführer wurden verhaftet und im Raum Stuttgart der Ausnahmezustand verhängt. Der Militärgouverneur Charles LaFolette machte eingedrungene »sächsische Kommunisten« für den Aufruhr verantwortlich. Warum weiß davon heute selbst in Stuttgart niemand mehr?

Der bizonale Gewerkschaftsrat nutzte die allgemeine Empörung und rief für den 12. November zum 24-stündigen Generalstreik gegen die Politik des Wirtschaftsrates und der Besatzungsmächte auf. Er hatte dafür nach internen Absprachen sogar die inoffizielle Genehmigung der Militärbehörden, die sich eine Ventilwirkung versprachen. Doch die Wut war so groß, dass es der größte Massenstreik seit der Weltwirtschaftskrise wurde – mehr als neun Millionen Arbeiter beteiligten sich. (Anteilmäßig sehr viel mehr als beim angeblichen Volksaufstand des 17. Juni in der DDR.) Zu den Forderungen des ersten und letzten Generalstreiks im Nachkriegsdeutschland gehörten nicht die Erhöhung der Löhne, wohl aber die Überführung der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum sowie die Demokratisierung und Planung der Wirtschaft. Die Wirtschaftsordnung war damals ernsthaft umstritten. Doch genau dieser Streit wurde unterbunden, er durfte nicht mit demokratischen Mitteln ausgetragen werden. Das politische Streikrecht wurde nicht ins Grundgesetz aufgenommen.

Im »Arbeiter- und Bauernstaat« gab es gar kein Streikrecht, weil die Werktätigen in den volkseigenen Betrieben angeblich nicht gegen sich selber streiken können. Umso kopfloser war das völlig verfehlte Krisenmanagement, als es doch geschah. Dabei hatte sich die krisenhafte Situation angekündigt. Nach dem Beschluss zum »Aufbau des Sozialismus« vom Sommer 1952 versuchten die Westmächte verstärkt, die DDR durch politische und wirtschaftliche Blockaden zu destabilisieren. Stattdessen wurden in der DDR die Genossenschaften und die volkseigenen Betriebe gefördert, während gegen die Privatindustrie und die Großbauern eine Art Steuerkrieg geführt wurde. Besatzungskosten und Reparationen lasteten auf der Wirtschaft, es gab spürbare Engpässe in der Versorgung und Preiserhöhungen. Was aus der Erinnerung auch

völlig gelöscht ist: Von April bis Anfang Juni streikten die Bauarbeiter Westberlins immer wieder für höhere Löhne. Haben die wiederholten Berichte der Berliner Zeitung darüber womöglich die Kollegen in Ostberlin ermutigt?

Als die DDR-Regierung einen Ausweg durch administrative Normerhöhung um mindestens 10 Prozent ankündigte, kamen scharfe Proteste aus den Betrieben. Eine verordnete Normerhöhung widersprach allen Grundsätzen der Lohnpolitik, wie sie seit Jahrzehnten in Industriestaaten galten. Danach konnte die Norm nur erhöht werden, wenn der Normierer mit der Stoppuhr auf Grund neuer Technik feststellte, dass die Arbeiter eine höhere Produktion brachten. Was aber auch niemand weiß oder erwähnt: Schon 1951 wurde beschlossen, für technisch begründete Normen in der ganzen Industrie zu sorgen. Parteisekretäre und Gewerkschaften hatten das schleifen lassen, so dass auch 1953 nur ein Drittel der geltenden Normen technisch begründet waren. Die Mehrzahl war aus längst vergangenen Zeiten übernommen oder über den Daumen gepeilt. Das volkswirtschaftlich unerwünschte Ergebnis war, dass die Normen vielerorts übererfüllt wurden und dadurch die Löhne stärker stiegen als im Plan vorgesehen war.

Am 21. April stand in der Berliner Zeitung, man müsse nun dringend die Kluft zwischen Lohnsumme und Arbeitsproduktivität überwinden. Weil nämlich die Regierung im März feststellen musste, dass »die für 1952 geplante Lohnsumme auf ungesetzliche Weise um 500 Millionen D-Mark überschritten worden war. Über eine halbe Milliarde! Für diesen Fehler müssen wir alle zahlen.« Was allerdings passiert wäre, wenn die Löhne noch niedriger als im Westen ausgefallen wären, wurde nicht erwogen. Aber am 3. Juni bestärkte die Zeitung den Unmut: »Es wäre unsinnig, die wenigen vorhandenen technisch begründeten Normen auf dem Verwaltungsweg zu erhöhen; man würde ihnen dadurch den Charakter der technischen Begründetheit nehmen.«

Unter der Überschrift »Aussprechen, was ist« hatte die Berliner Zeitung zuvor über die Rede von Elli Schmidt auf dem 13. Plenum der SED berichtet, in der sie kritisierte, dass »in den letzten Wochen Versorgungsmaßnahmen und Preiserhöhungen durchgeführt wurden, ohne dass die Bevölkerung über die Zusammenhänge genügend unterrichtet wurde (…). Wenn wir nicht den Mut haben, die Massen an den Sorgen und Schwierigkeiten teilnehmen zu lassen, entfernen wir uns von ihnen.«

Sie hatten nicht den Mut, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Zu erwarten ist, dass gerade in der jetzigen Russophobie der Mythos vom »durch die sowjetische Armee brutal und blutig niedergeschlagenen« Aufstand wiederbelebt wird. Sicher, allein die Präsenz der Panzer war ein einschüchterndes Symbol von Gewalt. Stark genug, um den Aufstand zu unterdrücken. Doch das suggerierte Bild, wonach die friedlichen Demonstranten nach »chinesischer Lösung« zusammengeschossen wurden, ist falsch. Fakt ist: Die sowjetischen Panzer hatten strengen Befehl, nicht zu schießen. Daran haben sie sich auch gehalten. Das ist den aufgebrachten Demonstranten auch schnell aufgefallen. Eher sind die in den Luken stehenden jungen Panzerfahrer mit Steinen und Latten angegriffen worden, als dass diese Gewalt angewendet hätten. Ihre

einschüchternde Wirkung hatte Grenzen. Während des gesamten Aufstandes ist kein einziger Mensch durch die Gewalt eines Panzers ums Leben gekommen. Es soll einen Unfall gegeben haben, bei dem ein Panzer in eine Baugrube gerutscht ist und dabei jemanden erdrückt hat.

Über die genauen Umstände der 55 Todesopfer des Aufstandes ist erstaunlich wenig bekannt. Scharfschützen wie auf dem Maidan hat es jedenfalls nicht gegeben. Immerhin sind über 250 öffentliche Gebäude erstürmt worden, darunter Dienststellen der Polizei, der Staatssicherheit und der SED. Aus 12 Gefängnissen wurden 1400 Häftlinge befreit. Diese Aktionen waren oft von Demütigungen und gewaltsamen, bewaffneten Prügeleien von beiden Seiten begleitet.

Ich habe diese Darstellung bei einem Faktenscheck in der Forschungsabteilung im damaligen Haus für die Stasi-Unterlagen erfahren. Leider hatte sich auch diese Behörde trotz besseren Wissens meist nur dann zu Wort gemeldet, wenn für die Geschichtsschreibung wieder eine emotional aufgeladene Dämonisierung verlangt wurde. Es brauchte schon einige Hartnäckigkeit, um auch andere Informationen zu bekommen. Bei dem vielen Geld der Steuerzahler, dass in Forschung geflossen ist, sollten sich wenigstens an diesem Jahrestag alle Behörden verpflichtet fühlen, von sich aus mit differenzierten Erkenntnissen der medialen Einseitigkeit entgegenzutreten.

erschienen in Ossietzky 12 vom 10.6.23

E-Mail-Affäre um Springer-Chef: Der Ekel vor Demokraten

Daniela Dahn

Es würde nicht lohnen, auf dieses unterirdische SMS-Geschwätz zu reagieren, wenn die Debatte nicht von großer Scheinheiligkeit wäre. Die ganze Empörung erwächst aus dem Umstand, dass es hier um einen der einflussreichsten Medien-Bosse des Landes geht, Chef und Eigentümer nicht nur des Springer-Konzerns, sondern auch langjähriger Präsident des Bundesverbandes der Digitalpublisher und Zeitungsverleger.

Der nun vom Blatt der konkurrierenden Holtzbrinck-Konzerne durch selektive Veröffentlichung mehr oder weniger privater Kommunikation an den Pranger gestellt wird. Nicht, dass man diesem Anprangerer vom Dienst die Pein nicht gönnt. Aber wirklich überraschen können die Enthüllungen über die Denkweise der Führung in diesem Tendenzmedium nicht. Letztlich bestimmen genau diese Inhalte seit Jahrzehnten ohne größeren Widerspruch nicht nur die internen Botschaften im Hause Springer, sondern oft auch die veröffentlichten. Und nicht nur dort. Scheinheilig ist die Debatte, weil sowohl die Aufregung über die Vorwürfe, als auch die Entschuldigung, unglaubwürdig sind. Um von den Verleumdungen hier nur die herauszugreifen, mit der ich mich am besten auskenne: Dass die Ostdeutschen allesamt geistig deformiert und deshalb demokratieuntauglich sind, war jahrelang prominent gesetzte Indoktrination.

Der Spiegel veröffentlichte schon im Februar 1990 eine achtseitige Schmähschrift über das DDR-Bildungssystem „Erziehung zu Drill und Duckmäusertum“. Wurde im Herbst noch die couragierte politische Reife der ihre Bürgerrechte erkämpfenden Ostdeutschen allseits gelobt, musste man jetzt den Eindruck gewinnen, dass Revolutionen mit Vorliebe dort ausbrechen, wo die Konzentration von Duckmäusern besonders hoch ist. Sie alle hätten eine „Gehirnwäsche“ durchlaufen, einen „permanenten Akt geistiger Vergewaltigung“. Zitiert wurde in dem unsignierten Artikel immer wieder der angebliche Pädagogik-Experte Johannes Niermann, der später auch in einer öffentlichen Anhörung des Bundestages seinen Auftritt hatte. In dem Gutachten beschuldigte er „die gesamte Intellegentia“ (gehören Rechtschreibschwäche und Denunziation zusammen?), das „Lügengebäude“ aufgebaut zu haben und attestiert, dass dies zu einer „ganz primitiven Konditionierung, wie bei Tierdressuren“ geführt habe. Er bedauert, dass die Peiniger nicht hinter Schloss und Riegel gesetzt wurden, stattdessen „laufen diese weiter frei herum“. Mit einer dringenden Empfehlung, entwickelte er missionarischen Eifer: Abiturabschlüsse seien in den neuen Bundesländern auf 10 bis 30 Prozent zu reduzieren, dafür an den Mittel- und Realschulen Schwerpunkte wie Hauswirtschaft als Pflichtfach für Mädchen, sowie Werken und Handarbeit einzuführen. Die Berliner Zeitung veröffentlichte eine Karikatur mit dem Kanzler in Ritterrüstung vor dem Schild „Bundesdeutsche Kohlonie!“ Der Plan, Ostdeutschland zu einem minderbemittelten Agrarland ohne eigene Kapitalisten zu machen, ist weder neu noch ganz misslungen.

Auch der Historiker Arnulf Baring, beliebter Talkshow-Gast, hatte in seinem Buch „Deutschland, was nun?“ spürbares Vergnügen an der Herabwürdigung von DDR-Akademikern. Sie seien durch das Regime fast ein halbes Jahrhundert „verzwergt“ und „verhunzt“ worden. Ob sich einer dort Arzt, Ingenieur oder Pädagoge nenne, „das ist völlig egal. Sein Wissen ist über weite Strecken völlig unbrauchbar.“ Die Westdeutschen könnten diesen „politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben“, es würde nichts nutzen, denn die Ostdeutschen „haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten“. Der aus allen Zusammenhängen gerissene und immer wieder bemühte Adorno-Satz, es gäbe kein wahres Leben im falschen, stempelte rückwirkend handstreichartig sämtliche DDR-Leben als wertlos. Im Kontext von Eignung für Führungspositionen war die Interpretation: unwert. Das Narrativ von gut-böse und richtig-falsch blockierte einen beidseitigen Austausch. Dabei sind die Unterschiede nur gradueller Natur, letztlich gibt es wohl nichts anderes als wahres Leben im falschen. Der Molekularbiologe und DDR-Oppositionelle Jens Reich beklagte, dass in der vielbeachteten Gesellschaftsgeschichte des Historikers Hans-Ulrich Wehler Millionen Ostdeutsche „nicht als Akteure dargestellt auftreten, sondern als eine Art Schafherde“.

Alle falschen Weichenstellungen müssten laut dieser Sicht nach westlichem Modell in einem mühseligen Prozess korrigiert werden. „Das ist die Bürde der neuen Bundesrepublik nach 1990“, so Wehler. Ist die Bürde nicht vielmehr, dass das völlige Missachten östlicher Erfahrungen eine bis heute mühselige Korrektur erfahren muss? Dass die plumpen Diffamierungen jetzt nur noch in privaten Tweets gewagt werden, ist zwar ein Fortschritt, zeigt aber zugleich, wie quicklebendig sie noch sind.

Der Dichter Wolfgang Hilbig beschrieb die Demütigungen als „Unzucht mit Abhängigen“. Lange Zeit hatte man das hinzunehmen. Und auch der öffentliche Widerspruch von Westprominenz blieb übersichtlich. Gaus, Grass, Bahr – sie wurden dafür gescholten. Wer gar im Osten wagte, die Versimpler anzugreifen, wie ich in meinen Büchern, wurde des „Osttrotzes“ bezichtigt.

Gegen den Axel-Springer Konzern habe ich ein halbes Dutzend Verleumdungsklagen geführt, weil ich in Texten des moralisierenden Hauses mit abenteuerlichen Spekulationen mal in Stasi-, mal in Nazi-Nähe gerückt wurde. Das Schmerzensgeld, zu dem der Konzern verurteilt wurde, hat er gern aus der Porto-Kasse bezahlt und weiter gemacht. Die Lust am versuchten Disziplinieren blieb eine dauerhafte Erfahrung struktureller Gewalt. Es gab lange keine denunziationsfreien Räume für die Ostdeutschen. Und nie hat sich dafür jemand entschuldigen müssen oder wurde gar zum Rücktritt aufgefordert, wie jetzt Döpfner. Aber warum war und ist gerade die Demokratiefähigkeit der DDR-Sozialisierten so ein Reizthema? Solange sie 1989 ihre Regierung zum Rücktritt zwangen, wurden sie für ihre Gewaltlosigkeit und ihren Humor selbst von der Springer-Presse gelobt. Sobald aber ihre Vorstellungen von Demokratisierung Gefahr liefen, auch den Status quo der Bundesrepublik in Frage zu stellen, hörte der Spaß auf. Klaus Hartung lobte in der taz den Runden Tisch und das Kabinett Modrow für das klare Programm der Demokratisierung. „Insofern geht die Macht wirklich vom Volke aus und bleibt vor allem bei ihm – in einem Maße, wie es im ehemals freien Westen nie denkbar war und ist. In der Demokratie DDR ist jetzt schon die Straflosigkeit des gewaltlosen Widerstands garantiert, ein Prozess, der unsere Sicherheitsgesetze noch peinlicher machen wird. Die repräsentative Demokratie, die im Grunde eine Großparteienherrschaft ist, wehrt nach wie vor alle Ansätze direkter Demokratie und Kontrolle von unten ab. In der DDR hingegen wird inzwischen selbst der innerste Repressionsbereich einer demokratischen Kontrolle von unten unterworfen.“ Zu der Zeit war ich Mitglied der ersten unabhängigen Untersuchungskommission; wir hatten das Mandat, die Verantwortlichen für die Übergriffe von Polizei und Staatssicherheit auf Demonstranten zu befragen. Auch wenn diese unwillig waren und blockierten, sie hatten uns Rede und Antwort zu stehen. Wir erreichten den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten.

„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise“, hieß es in einer Erklärung von wichtigen Stimmen wie Inge Aicher-Scholl, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich oder Heinrich Albertz. Es würden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt, um die Bemühungen für eine sozialistische Demokratie zu verschütten. Dann würden auch die „sozialen Bewegungen in unserem Lande einen schweren Rückschlag erleiden“. Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu: „Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“ Hatten wir die SPD mitgerissen, die mitten in der Wendezeit, auf ihrem Berliner Parteitag im Dezember 1989 ein neues Programm beschloss? „Es ist eine historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig.“ Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Das dürfte für Mathias Döpfner und seine FDP-Freunde schon hinreichend ekliger Kommunismus-Verdacht sein. Seis drum. „Die ossis werden nie Demokraten“ – an seiner Prognose ist was dran, wenn man bedenkt, dass viele eine andere Vorstellung von Demokratie hatten – nicht nur eine Worthülse à la Bildzeitung, sonders das ganz große Versprechen, dass mit einem „Demokratischen Aufbruch“ verbunden sein sollte.

Das war die Endstation Sehnsucht: Wohlstand durch eine Demokratie, die auch die Wirtschaft erfasst, die viele Facetten haben sollte, räte- oder basisdemokratische, jedenfalls nicht eine auf Privateigentum fixierte, kapitalistische Demokratie sein würde. Und diese Sehnsucht war ansteckend. An der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde eine Resolution verabschiedet: „Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.“ Und die SPD schlägt einen Runden Tisch auch für Bonn vor. Sechs Wochen vor der Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 sagen ihr Umfragen dort immer noch eine absolute Mehrheit voraus. Ihre Genossin Anke Martini findet, dass die Ostdeutschen den nötigen Antworten schon nähergekommen sind „als wir Westler, die wir unser System so wenig in Frage zu stellen gewohnt sind“. Bündnis 90 greift das größte Tabu auf, fordert eine Volksabstimmung über den Erhalt des Volkseigentums.

Damals wurde begonnen, Systemfragen zu stellen – das Grundgesetz lässt dafür viel Spielraum. Aber Konservative sehen schnell ein Gespenst der Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung umgehen. Jetzt konnte die CDU das Ruder nur noch herumreißen, wenn sie auf die ganz große Pauke haut. DDR-Medien, die sich zum allgemeinen Erstaunen schnell von Zensur emanzipiert hatten und deren Sender im Osten eine höhere Sehbeteiligung erreichten als die westlichen, waren frei erfundenen Räuberpistolen des Boulevards noch nicht gewachsen. Sie erlebten erstmalig, wie ein von privaten Medien genährter Manipulationsapparat eine Mehrheitsmeinung in kürzester Zeit ins Gegenteil verkehrt, wie ich in dem Buch Tamtam und Tabu detailgetreu nachgewiesen habe. Die eine Strategie war, den Volkszorn zu schüren, indem DDR-Politikern von Bild, aber auch vom Spiegel und anderen angedichtet wurde, sie hätten sich auf Staatskosten Luxusgüter angehäuft, von Brillanten bis zu Jaguars – das waren reine Fakes. Der Spiegel frohlockte, dass diese Berichte in der DDR Furore machten, tausendfach fotokopiert in Betrieben ausgehängt, zur „Volkslektüre“ wurden.

Noch wirksamer aber war die zweite Strategie, die Panik auslöste durch die plötzliche Behauptung von Kohls engstem Berater im Kanzleramt, Horst Teltschik, wonach der Kollaps der DDR-Wirtschaft unmittelbar bevorstünde, was völlige Zahlungsunfähigkeit in wenigen Tagen bedeute. Damit dieser Unsinn geglaubt wird, behauptete Bild, der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar Maizière habe das bestätigt. Dessen Dementi, wonach ihm dergleichen nicht bekannt sei, erwähnen die Westmedien nicht. Stattdessen legt der Spiegel auch Ministerpräsidenten Hans Modrow frei erfundene wörtliche Zitate in den Mund: „Wir sind am Ende. Unser Geld reicht noch bis Mitte des Jahres.“ Erst daraufhin habe Kohl beschlossen, die Währungsunion sofort vorzubereiten, „koste es, was es wolle“. Bild bringt es auf das populistische Fazit: Die Wirtschaft der DDR hängt am Tropf, sie braucht die Transfusion der D-Mark. Das vom Westkanzler für die Ostwahlen gegründete Bündnis Allianz für Deutschland geht an die Arbeit.

Geschockt und verängstigt nehmen die Wähler das Versprechen der D-Mark als Messias an. Dass sie einem neuen „Lügengebäude“ erlegen waren und nunmehr jede Reformidee aufgekauft werden konnte, merkten sie erst nach und nach. Und die meisten Westdeutschen glauben bis heute die verbreitete Lesart, wonach ihre einst Brüder und Schwestern Genannten nichts anderes wollten, als nur so schnell wie möglich so wie im Westen leben. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Auch wenn Volksentscheide gerade noch verhindert werden konnten, belegte die erste repräsentative Umfrage nach der Wahl etwas anderes: So gut wie alle waren für die Einheit, aber 83 Prozent lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Sie wollten als gleichberechtigte Partner auf das Wie der Einheit Einfluss nehmen. Nicht nur Ampel- und Sandmännchen sollte aus der DDR erhalten bleiben, sondern 68 Prozent sprachen sich für die Kernsubstanz aus – das Volkseigentum. Die Privatisierung im Osten wurde zum öffentlichen Milliardengrab, das bis heute den Haushalt belastet, während sich der private Reichtum oft steuerfrei verdoppelte – ein Billionengrab. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: „Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit.“ Wo kein Haben ist, da ist auch kein Sagen.

Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Doch die Parlamente haben ihre Macht weitgehend an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er schaut in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals? Christian Führer, legendärer Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, wollte die von ihm begründeten Montagsdemonstrationen wiederbeleben: Eigentlich steht der zweite Teil der Revolution noch aus. Die Marktwirtschaft ist im Grunde gewalttätig. Die Diktatur der Weltanschauung wurde durch die Diktatur des Kapitals abgelöst.

Heute haben sich die Ostdeutschen solch subversive Töne abgewöhnt, auch durch ein weitgehend erfülltes Konsum-Versprechen. Die einstige linke Oppositionspartei zerlegt nicht mehr die Machtverhältnisse, sondern lieber sich selbst. Und überlässt den Protest den Rechten.

Presseerzeugnisse wie die von Mathias Döpfner haben zu Verflachung und Entpolitisierung beigetragen. Bei einer vom Mainstream geformten Mehrheit wäre Basisdemokratie weitgehend ihres Sinnes beraubt. Da fällt es nicht schwer, sich bei den zahm gewordenen Ostlern zu entschuldigen und vorzugeben, ihre Lebensleistungen nunmehr würdigen zu wollen. Aber welche denn? Ihre Verdienste, Alternativen ausprobiert zu haben? Nach dieser Bilanz fragt heute niemand mehr. Aber sie ist nicht nur zwischen Ost und West weiterhin offen.

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Berliner Zeitung:

https://www.berliner-zeitung.de/open-source/mathias-doepfner-bashing-wir-ostdeutsche-sind-noch-viel-schlimmeres-gewohnt-li.339814

https://telepolis.de/-8973652

 

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