Daniela Dahn

Geistige Armut als Modell

Daniela Dahn

erschienen in Ossietzky 16/17 vom 14.8.21

Deutschland pflegt sein Image als Land der Dichter und Denker, als reiche Kulturnation. Da kann man es nur als Absicht werten, wenn bei all dem tradierten Reichtum ein öffentlich-rechtliches Fernsehen gedeiht, das die von Kant beklagte, selbstverschuldete Unmündigkeit fortschreibt. Offenbar hat die politische Klasse kein Interesse an wissenden, selbstbestimmten Bürgern. Staatliche Maßnahmen sollen nicht in Zweifel gezogen werden. In diesem Sinne ist die deutsche Sender- und Presselandschaft von geistiger Armut geprägt. Der welterfahrene Journalist und Buchautor Peter Scholl- Latour sprach von „medialer Massenverblödung“. Die Deutungshoheit über die Meinung von Mehrheiten ist, erst recht im digitalen Zeitalter, ausschlaggebend für den Machterhalt. „Indoktrination“, so Noam Chomsky, „ist keineswegs inkompatibel mit Demokratie.“ Sie sei vielmehr ein Wesenszug von ihr. „Ohne Knüppel, ohne Kontrolle durch Gewalt, muss man das Denken kontrollieren.“

Bevor die Struktur hinter dieser geistigen Armut näher betrachtet wird, soll die Existenz positiver Ausnahmen ausdrücklich gewürdigt werden. Meist auf der Mitternachtsschiene finden sich, sei es auf 3sat, ARTE oder Phönix, gelegentlich hervorragende Filme und Reportagen. Und verglichen mit Sendern etwa in Italien, Frankreich oder erst recht den USA, ist das deutsche Fernsehen doch noch informativer und analytischer.

Aber ist das ein Trost? Glaubt man etwa, den grundgesetzlichen Bildungsauftrag mit der Dominanz von Gewalt in Krimis, Thrillern oder Horrorfilmen und mit affirmativen Nachrichten abzudecken? Wie der wissenschaftliche Dienst des Bundestages schon 2006 feststellte, ist das, was Rundfunk und Fernsehen unter Bildung verstehen „weitgehend ungeklärt“ und der Kulturbegriff der Sender „unscharf“. Dabei hat ein verfassungsrechtliches Gutachten des Medienrechtlers Hubertus Gersdorf bestätigt, dass die Politik berechtigt wäre, striktere Vorgaben im Sinne des Bildungsauftrages zu machen. Sie darf zwar nicht konkret inhaltlich eingreifen, aber könnte durchaus konkretisieren, dass der Schwerpunkt der Sendetätigkeit bei Information, Bildung und Beratung zu liegen hat. Und eben nicht bei einfältiger Unterhaltung.

Das Gutachten hat ergeben, dass in einer zufällig ausgewählten Programmwoche Anfang 2018 im ZDF in der besten Sendezeit zwischen 19 und 23 Uhr insgesamt 555 Minuten Krimis und nur 75 Minuten Dokumentationen gelaufen sind. Über ein ganzes Jahr gemessen wird die

Unkultur, also die geistige Armut, noch offensichtlicher: 2015 gab es im ZDF 437 Krimi-Erstausstrahlungen, aber nur zehn neue Dokumentationen. „ZDFinfo“, ein Dokumentations-Wiederholungskanal, kann dabei keine Ausrede sein, denn es geht ums Hauptprogramm, das immer noch die meisten Zuschauer hat.

Aber wer sind diese Zuschauer noch? Das Durchschnittsalter des ARD- Publikums lag 2016 bei 60 Jahren. Die 14- bis 19jährigen machten gerade mal acht Prozent der Zuschauer des Senders aus. Der Versuch von ARD und ZDF, mit dem „Online-Content-Netzwerk“ funk.net ein Angebot für Jugendliche zu schaffen, mag ein richtiger Versuch sein, ein Durchbruch ist es nicht. Die auch für kommerzielle Social-Media-Plattformen wie Youtube, Facebook, Twitter oder Instagram produzierten Beiträge sind ebenfalls von Unterhaltungsformaten dominiert. Bildung im engeren Sinne decken die öffentlich-rechtlichen Sender nicht ab. Während des digitalen Unterrichts im Shutdown zeigte sich, dass weder didaktisch professionelle Wissensvermittlung des Schulstoffes in Reserve liegt, noch evaluiertes Material für die Lehrerbildung. Ein Mangel, der sozial Benachteiligte besonders traf.

Der präzisierende Rundfunkstaatsvertrag erteilt den öffentlich-rechtlichen Sendern den Auftrag, einen „Prozess freier, individueller und öffentlicher Meinungsbildung“ zu bewirken. „Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten.“ Außerdem soll ein „umfassenden Überblick“ über das internationale, nationale und regionale Geschehen gegeben werden, um der internationalen Verständigung und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu dienen. Doch beides befindet sich auf einem Tiefpunkt. Information allein ist kein Wert, wenn sie einseitig oder ohne Neuigkeitswert ist, wenn sie nicht Kernthemen aufgreift, die zum Verständnis der Zeit beitragen. Simpelste journalistische Grundsätze werden hierzulande immer wieder missachtet. Etwa den, dass im Konfliktfall beide Seiten gehört werden müssen. Die Regeln unseres Feindbildjournalismus besagen viel mehr, dass die Gegenseite unter keinen Umständen Gehör verdient, da sie a priori nur Propaganda verbreitet.

Allseits wird die Erosion der Kommunikationskultur beklagt, der Autoritätsverfall der Medien. Die öffentlichen Sender haben das sogenannte „Content Management“ eingeführt, zu dem gehört, dass die Redakteure und Autoren ihr „Material“ in einen Pool eingeben müssen, wodurch sie die Kontrolle darüber weitgehend verlieren. Der „eigene“ Beitrag wird verändert, gekürzt, ergänzt, neu zusammengesetzt. Substanzielle,

analytische Sendeformate wurden zugunsten seichter, leicht verdaulicher und kurzer Formate ausgetauscht.

Mit den privaten Rundfunkanstalten setzte sich auch im Öffentlich- Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) die marktgerechte Quote als wichtigste Bemessungsgrundlage für „Qualität“ durch. Sie dient nebenbei der Zensur kritischer, unbequemer Beiträge, denn differenzierte Gedanken und gründliche Erläuterungen brauchen Zeit. Auch in den Redaktionsstuben für die Belieferung der „sozialen“ Medien werden allein die „Likes“ gezählt. Folgerichtig werden qualitativ hochwertige Dokumentationen (wenn überhaupt) nur noch im Nachtprogramm gezeigt.

Und längst werden Nachrichten mit Hilfe von Algorithmen erstellt. Softwareprogramme werten die Reaktionen von Zuschauern, Radiohörern oder Lesern aus. Was die höchste Quote oder die meisten Klicks erfährt, wird automatisch und in Varianten wiederholt. Geistige Verarmung als Geschäftsmodell.

Einerseits erleben wir eine Faktenarmut, eine Postfaktizität, in der Vorurteile stärker und beständiger sind als politisches Wissen. Wir nähern uns Hannah Arendts Warnung: „Die idealen Untertanen totalitärer Herrschaft sind Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion und zwischen wahr und falsch nicht mehr existieren.“ Die Sensation oder das Schüren von Empörung durch Populismus haben ihren Marktwert bekommen.

Angesichts der Zustände im Lande und weltweit ist Empörung andererseits ein notwendiger Schritt zu Emanzipation und Veränderung – man denke nur an die aufrüttelnde Schrift „Empört Euch!“ des damals 93jährigen französischen Widerstandskämpfers und UN-Diplomaten Stéphane Hessel. Sein Aufruf zu politischem Widerstand war durch die Integrität seiner Biografie und die Überzeugungskraft seiner Argumente auch in Deutschland ein beachtlicher Erfolg. Doch es gibt einen Unterschied zwischen informierter Entrüstung über Ausbeutung, Kriegseinsätze, Machtgier oder die Manipulation durch die Medien – und der populistisch geschürten Empörung ohne moralische Wertmaßstäbe.

Wie werden im ÖRR jene Journalisten behandelt, die aufdecken, was Regierenden gefährlich werden könnte? Abschreckende Beispiele sprechen sich unter Kollegen herum – wie dieses: 2003 drehte der Dokumentarfilmer Frieder Wagner für die WDR-Reihe „Die Story“ die Dokumentation „Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra“ über die Folgen des Einsatzes radioaktiver und zusätzlich hoch giftiger Uran-Munition im Irak-Krieg. Eine

Waffe, die sowohl Panzer sprengt, wie auch Soldaten und Zivilbevölkerung qualvoll erkranken und sterben lässt. Im Film schildert ein Arzt auf bedrückende Weise das Leiden der Kinder in der Hafenstadt Basra. Wissenschaftler befürchten, dass die Uranmunition in den am meisten betroffenen Regionen im Irak, in Afghanistan oder im Kosovo 5 bis 7 Millionen Menschenleben kosten wird. Wer für diesen Genozid zur Verantwortung gezogen wird, ist nicht nur eine berechtigte, sondern – wie man meinen sollte – auch eine verpflichtende, journalistische Frage.

Unter den Bedingungen geistiger Verarmung sieht es jedoch anders aus: Frieder Wagner hat für diese Dokumentation 2004 den Europäischen Filmpreis bekommen. Später bekannte er in einem Interview auf heise.de: „Allerdings war das auch mein letzter Film für einen deutschen Sender. Alle von mir eingereichten Themen wurden abgelehnt.“ Ihm wurde hinter vorgehaltener Hand zu verstehen gegeben, dass seine Vorschläge „besonders schwierig“ seien. In einem der 360 meist empörten Kommentare zu der im Interview beschriebenen Praxis hieß es: „Die Unabhängigkeit der Öffentlich-Rechtlichen ist ein Treppenwitz.“

Die Glaubwürdigkeit der Nato- und regierungsnahen Berichterstattung hält sich für viele Zuschauer und Hörer in Grenzen. Aber fast alle Programmbeschwerden des Bürgerportals der Medienanstalten oder der Publikumskonferenz über Falschdarstellungen werden von den öffentlichen Sendeanstalten selbstgerecht zurückgewiesen oder nicht beantwortet. Die Medien sind meist arm an Einsicht, dafür aber reich an Diffamierung ihrer Kritiker. Kritische Stimmen, auch die auf den alternativen Webseiten, werden neuerdings gern rechts verortet, ohne dies im Detail zu belegen. Medienanstalten sind außerdem dazu übergegangen, konkurrierende Plattformen wegen angeblicher Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht zu verklagen, während sie selbst vor solchen Verfahren sicher sind.

Die Angst und Vorsicht von Journalisten ist gewachsen. Redakteure haben ein feines Echolot in den Apparat, von dem ihre Karriere abhängt. „Schwierige“ oder unbequeme Themen werden erst gar nicht vorgeschlagen. Wissenschaftler aus Münster und Hamburg haben 1536 Journalisten befragt und bestätigt bekommen, dass viele die innere Pressefreiheit als gefährdet ansehen und sich immer weniger von ihrer Arbeit ernähren können. Oder nur dann, wenn sie einen Bauchladen mit oberflächlichen Beitrags-Häppchen anbieten. In der Interview-Reihe „Leute“ auf SWR 1 sagte die erfahrene Journalistin Franziska Augstein: „Das Gewerbe ist diktiert von den monetären Interessen großer Konzerne.“

Journalisten seien dermaßen schlecht bezahlt und hätten so wenig Chance zu recherchieren, dass die Qualität ihrer Arbeit bedroht sei. Sie seien oft angewiesen auf Crowdfunding, Stiftungen und Stipendien. „Ich kann niemandem raten, Journalist zu werden.“

„Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“, hatte Karl Marx in der Rheinischen Zeitung geschrieben und ergänzt: „Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu.“ Die Freiheit des Gewerbes hat längst gesiegt – Journalismus ist ein Geschäftsmodell. Auf dem rechtspolitischen Kongress der SPD vor über vierzig Jahren sagte der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, es gäbe keine akzeptablen Vorschläge, wie die Pressefreiheit unter der Dominanz von Privateigentum zu sichern sei. Und dabei ist es geblieben. Die privatrechtliche Logik hat auch die Öffentlich-Rechtlichen ergriffen. Erinnert sei auch an das Urteil des BVG vom März 2014, in dem der ZDF-Staatsvertrag wegen des überproportionalen staatlichen Einflusses in den Aufsichtsorganen als verfassungswidrig erklärt wurde. Doch Tagesschau-Chefredakteur Gniffke bekennt danach, Kern seines Auftrages sei, die offizielle Politik abzubilden. Nein, Kern des Auftrages ist es, durch unabhängige und unparteiische Berichterstattung die Voraussetzungen für eigene Urteilsbildung zu liefern. Denn eine solche Fähigkeit zu erlangen, ist der eigentliche Kern von Freiheit.

Auch wenn in diesem Text davon ausgegangen wird, dass die öffentlich- rechtlichen Sender ihren Programmauftrag nicht erfüllen, ist er kein Plädoyer zu ihrer Abschaffung, sondern eine nachdrückliche Abmahnung im Namen von Hörern und Zuschauern. Zur Pressefreiheit gehört auch die Freiheit zur Kritik an der Presse. Doch Mängel am eigenen Produkt zu offenbaren, gehört offenbar nicht zum Geschäftsmodell. Ein Modell, das geistige Armut weder überwinden kann, noch will.

Barbarossa im Wunderland

22. Juni 1941 Was haben wir 80 Jahre nach dem Beginn des deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion aus der Geschichte gelernt? erschienen in der Freitag 24/2021 „Erklärte da heute die NATO China und Russland den Kalten Krieg? Zum 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion. Keine gute Idee.“ So twitterte der Grüne Hans-Christian Ströbele nach…

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Friedliche Lösung bevorzugt

Eine Grün-Rot-Rosa-Koalition könnte sich in der Sicherheitspolitik auf Völkerrechtspatriotismus einigen und so den Kernthemen ihrer Wählerschaft näherkommen – BerlinerZeitung 15.6.2021 [pdf-embedder url=“https://www.danieladahn.de/wp-content/uploads/2021/06/BerlinerZeitung_15.pdf“]

Ein Leben auf Reisen

Daniela Dahn

Bis zuletzt hat der 97Jährige Walter Kaufmann geschrieben, noch Tage vor seinem Tod eine Buchbesprechung für Ossietzky. Mit dieser Energie hat er es auf über 40 welthaltige Bücher gebracht, in einem Leben, von dem mitunter gesagt wird, es habe selbst einem Roman geglichen. Doch es war in seinem Ausgangspunkt traumatische Realität, auf die er als Romanvorlage gern verzichtet hätte. Als unehelicher Sohn einer jüdischen Mutter im Berliner Scheunenviertel geboren, wurde er mit zwei Jahren von einem wohlhabenden jüdischen Ehepaar aus Duisburg adoptiert, was er erst Jahre nach deren Tod in Auschwitz erfährt. Indizien ließen es ihn später für denkbar halten, dass der Adoptivvater auch sein leiblicher war. Was er nur im vertrauten Kreis erwähnte – wir kannten uns lange.

Zu Hause zunächst wohlbehütet aufgewachsen, bleiben ihm die Demütigungen auf dem Schulhof nicht erspart. Dafür, dass sein Bester Freund zu ihm hält, wird der von den anderen verpönt, es rutscht ihm heraus: »Schade, dass du Jude bist.« (Daraus wurde viel später der Titel eines Buches, das für »meisterliche Kurzprosa« mit dem Literaturpreis des Ruhrgebietes ausgezeichnet wurde.) Als 14Jähriger erlebte er das Grauen beim Anblick der brennenden Synagoge, deren Flammen auf seine Schule übergriffen, und wie sein Vater am selben Tag brutal verhaftet und seine Anwaltskanzlei demoliert wurde. Mit einem der letzten Transporte für jüdische Kinder schickten die Eltern ihn nach London.

Dort wurde er allerdings an seinem 15. Geburtstag als feindlicher Ausländer interniert und später mit 2000 anderen Flüchtlingen nach Australien geschifft, wo er die ersten 18 Monate in einem eingezäunten Wüstencamp verbringen muss. Weiterer Haft entkommt er durch freiwillige Meldung zur Armee, ist danach mal Obstpflücker, Hafenarbeiter, Fotograf, am liebsten Seemann. Ob dort Decksmann oder Kohlentrimmer, neben der Knochenarbeit bleibt Zeit, um an Deck erste Schreibversuche zu machen. Die Short Storys trägt er Interessierten gleich vor Ort vor, bekommt so Kontakt zur Gewerkschaft und zur KP-nahen Melbourne Realist Writers Group. 1953 erscheint auf Englisch sein erster Roman: Stimmen im Sturm. Zwei Jahre später wird er von der Australischen Seemannsgewerkschaft zu den Weltfestspielen nach Warschau delegiert.

Dort lernt er den DDR-Verleger Bruno Peterson kennen, der ihn zum bald stattfindenden Schriftstellerkongress nach Ostberlin einlädt. Die dortige Begegnung mit namhaften Re-Migranten wie Anna Seghers, Arnold Zweig, Bodo Uhse, die sich nach ihrem Exil alle für die DDR entscheiden hatten, und ihn »ungemein beeindruckten«, war der Auslöser, sich für die DDR zu interessieren. Doch der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, der Spanienkämpfer Eduard Claudius, selbst aus dem Ruhrgebiet, sagte ihm: »Du kommst aus dem Ruhrgebiet, auch dort werden gute Leute gebraucht. Überleg dir das.«

Kaufmann nimmt den Rat an und reist nach 17 Jahren erstmalig wieder nach Duisburg. Es kostet ihn Überwindung, an seinem Elternhaus zu klingeln. Seit die Villa »frei gezogen« war, so hatte er gehört, wohnte dort eine Unternehmerfamilie. Hereingelassen wird er nicht. Auf der Steintreppe erklärt

ihm die nunmehrige Besitzerin großherzig, sie habe seiner Mutter auf deren Bitten ihr festes Schuhwerk mit auf »die lange Reise« gegeben. Durch die offene Tür sieht er im Foyer noch das Bild hängen, dass seine Mutter einst gemalt hatte. Von Nachbarn, auf Behörden und Ämtern wird er kühl empfangen – niemand weiß was, niemand will was wissen. »Ich fand die Erfahrung so kläglich, so wenig ermunternd, dass für mich nur die Alternative blieb, entweder nach Ostberlin oder zurück nach Australien«, sagt er im Mai 2019 der Jüdischen Rundschau. »Aber Sie hatten nicht irgendwelche prinzipiellen Sympathien für das ́andere System ́«, fragte das konservative Blatt nach und musste sich anhören: »Ich wollte, wenn überhaupt nach Deutschland, nur in dieses, das rote, das linke Deutschland, wo versucht wurde, den Sozialismus aufzubauen.«

Als perfekt Englisch sprechender Autor mit australischem Pass ist er in der DDR willkommen, wird als Berichterstatter in die ganze Welt geschickt. Etwa zum Prozess gegen Angela Davis in die USA. Im Künstlerort Kleinmachnow, dem Westberliner Zehlendorf benachbart, bekommt er bald ein schmuckes Häuschen am Waldrand zugewiesen. Später bin ich als Oberschülerin im örtlichen Jugendclub für Literatur verantwortlich und lade als allerersten diesen Kaufmann ein, der uns mit seinem charakteristischen, schwarzen Schnauzbart an Mark Twain erinnert. Er liest aus »Stefan, Mosaik einer Kindheit«, noch aus dem Englischen übersetzt. Und wir begriffen betroffen: Um Abenteuer geht es hier nicht.

Das Buch erschien, wie andere autobiografische Romane und Kinderbücher auch, in mehreren Auflagen und machte Walter Kaufmann in der DDR zu einem der authentischen Zeitzeugen der NS-Judenverfolgung. Ob er nicht gespürt habe, dass die Presse nicht frei war, insistierte die Jüdische Rundschau weiter. »Ich war ein jüdischer Emigrant in der DDR und wurde als solcher wahrgenommen. Alles, was ich an Erfahrungen mitbrachte, wurde unverfälscht gedruckt.« Das betraf auch seinen 1980 erschienenen Reportage-Band »Drei Reisen ins gelobte Land«, der enorme Resonanz fand. Israel hatte ihn fasziniert, etwa Begegnungen mit der Anwältin Felicitas Langner und mit Arbeitern oder Minderheiten aller Art; seine Beobachtungen veranlassten ihn aber auch zu dem dringlichen Appell, Araber und Juden mögen friedlich und freundschaftlich zusammenleben.

Zweifellos blieb auch Walter Kaufmann kleinkarierter Dogmatismus nicht erspart, aber er wusste sich übers Reisen hinaus Freiräume zu schaffen. Von 1985 bis 1993 war er Generalsekretär des ostdeutschen PEN und nahm als solcher manch repräsentative oder auch vermittelnde Funktion war. So konnte er durchsetzen, dass die eigentlich verfemten PEN-Mitglieder Stefan Heym und Ralph Giordano in der Vorwendezeit eine öffentliche Lesung bekamen. In seinem 2010 erschienenen Buch »Im Fluss der Zeit« beschrieb er dann seine Freude über die geöffnete Grenze, gleichzeitig war ihm, als habe er »ein Stück Heimat verloren«. Auf eine roten Ziegelmauer in Berlin-Lichtenberg sah er mit weißer Farbe einen Galgen gepinselt, an dem die Buchstaben GYSI hingen. »Damals fragte ich mich, ob nicht eine Rückkehr nach Australien zu erwägen wäre.«

Schon bald wurde sein Kleinmachnow zum Hotspot für Rückgabeforderungen einstiger westlicher Hausbesitzer. Erst da erinnerte er sich wieder der elterlichen Villa – schließlich wurde jüdisches Eigentum nun zurecht bevorzugt restituiert. Er erzählte mir, wie der Anwalt Otto Schily den Fall

übernahm und ihm sagte: Das erledigen wir mit links. Doch beide mussten sich von Rechts wegen belehren lassen. Das Bundesministerium der Finanzen teilte Herrn Kaufmann im Juni 1995 mit: »Ansprüche nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen sind nicht gegeben, da dieses Gesetz nur für im Beitrittsgebiet belegenes Vermögen gilt.« Der Gesetzgeber hatte es also ermöglicht, dass in Ostdeutschland 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe von Immobilien gestellt werden konnten, in Westdeutschland aber kein einziger.

Trotz manchen Frustes gehörte Walter Kaufmann nach der Vereinigung zu den nicht so zahlreichen Ost-Autoren, die auch im Westen Verlage und Beachtung fanden. »Ein Leben auf Reisen«, so der Titel eines 2016 erschienenen Buches, blieb sein Thema. Aber er war auch in Berlin ständig auf Achse – ob auf Demos, Konferenzen, im Theater, auf Ausstellungen, bei Lesungen von Kollegen oder PEN-Club Treffen –, es war eine vertraut gewordene, schöne Gewohnheit, Walter und seine Lissy zu treffen. Man traf ihn auch auf dem Bildschirm, etwa 2018 im von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten rbb-Film »Schalom Neues Deutschland – Juden in der DDR«. Nach dessen Voraufführung im Kino schrieb er mir: »Meine Aussage, dass ich in der DDR nie mit Antisemitismus konfrontiert worden war, fehlt im Film – sie wurde weggelassen oder fiel einer Panne bei den Dreharbeiten zum Opfer. Ich habe sie mündlich bei der Premiere wiederholt – es ist eine Plage mit diesen Filmmenschen!«

Im letzten Jahr setzte er sich einer solchen Plage noch zweimal aus und machte gute Erfahrungen. Sobald das Berliner Kino Babylon öffnen kann, wird man ihm dort immerhin wiederbegegnen, in einem Dokumentarfilm zu seinem dramatischen Leben. Wie schon jetzt in dem zweistündigen, biografischen Interview, das Sabine Kebir zuletzt auf weltnetz.tv mit dem Hellwachen führte. Nun ist seine Reise zu Ende gegangen. Nicht aber die Möglichkeit, sich auf die literarische Wanderschaft zu begeben, auf der er den Bedrängten eine Stimme gab.

Erklärung zur Beendigung unserer Mitgliedschaft im Beirat von RUBIKON

Daniela Dahn

Daniela Dahn, Rainer Mausfeld, Hans See und Jean Ziegler

Am 27. April 2021 haben wir unseren Austritt aus dem Beirat des RUBIKON erklärt. Unsere Gründe haben wir in einem offenen Brief an Jens Wernicke und an die Redaktion dargelegt und darum gebeten, diese im RUBIKON zu veröffentlichen. Da uns die angeführten Kritikpunkte von grundsätzlicher Bedeutung für ein alternatives Medium erscheinen und da unsere Kritik wohlwollend und solidarisch gehalten war, hatten wir mit unserer Bitte um Veröffentlichung die Hoffnung verbunden, dass es im RUBIKON zu einer konstruktiven Diskussion kommen könnte. Jens Wernicke ist jedoch dieser Bitte nicht nachgekommen. Im Gegenteil: Er hat unseren offenen Brief als „denunziatorisch“ bezeichnet und uns im Fall einer Veröffentlichung angedroht, juristisch dagegen vorzugehen. Um ihm einen solchen Eklat zu ersparen, wählen wir nun den Weg dieser Erklärung, die Gründe unseres Austritts darzulegen.
Zunächst möchten wir betonen, dass wir gerne die Idee und die Initiative von Jens Wernicke unterstützt haben, ein öffentliches Forum in Form eines „Magazins für die kritische Masse“ zu schaffen und dass wir auch weiterhin das Projekt eines emanzipatorischen Forums zur Sicherung einer kritischen Öffentlichkeit außerordentlich wichtig finden.
Dies zu betonen ist uns besonders wichtig angesichts der Tatsache, dass in der Corona-Krise wie auch bei allen anderen machtrelevanten Themen – der Feindbildaufbau gegen Russland ist ein weiteres aktuelles Beispiel – der Druck von Politik und Leitmedien auf alle Medien massiv verstärkt worden ist, sobald sie grundlegend andere Positionen als die Regierungsposition vertreten. Diese Entwicklungen zeigen besorgniserregende Züge von staatspolitischer Repression.
Der RUBIKON wie auch zahlreiche andere kritische emanzipatorische Medien haben die für einen pluralen demokratischen Diskurs wichtige Funktion, sich diesen Einschränkungen des öffentlichen Debattenraumes entgegenzustellen. Leider sehen wir jedoch eine solche Funktion durch einige Entwicklungen des RUBIKON sowohl inhaltlicher als auch editorialer Art gefährdet.
Inhaltlich besorgt uns, dass besonders bei dem ideologisch hoch umkämpften Corona-Thema unserer Ansicht nach RUBIKON selbst inzwischen eine Praxis der Verengung betreibt. Wir haben zunehmend den Eindruck gewonnen, dass Beiträge, die sich in den vertretenen Positionen nicht an die von der Redaktion gewünschte Linie halten, kaum noch veröffentlicht werden. Bei allen Verdiensten, die der RUBIKON und sein Buchverlag bei der Bereitstellung von relevanten Informationen zum Corona-Thema haben, hat eine solche Einseitigkeit mit dem Selbstanspruch zur „Demokratisierung der Meinungsbildung“ unseres Erachtens kaum mehr etwas zu tun. Der von uns wahrgenommene hohe Grad an Selektivität, eine nicht selten mangelnde analytische Sachlichkeit sowie schrille Töne in der Darstellung bergen nach unserer Überzeugung die Gefahr, dass aus dem RUBIKON selbst ein komplementäres Mainstream-Medium wird, das gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen die kritisierten Eigenschaften der Mainstream-Medien wiederholt.
Zugleich haben wir den Eindruck, dass wichtig gewesene Themen, bei denen es um kapitalistische Strukturen, Machtinteressen in Kriegen, kurz um eine Erhellung gesellschaftlicher Kausalitäten geht
und viele andere drängende politische Problemfelder, die ja durch Corona eher größer geworden sind, in letzter Zeit zu wenig thematisiert wurden. Über all dies müsste ein kritischer solidarischer Austausch im RUBIKON erfolgen. Gerade in einer gesellschaftlichen Situation, in der der öffentliche Debattenraum durch Unterstellungen, Zerrbilder, Verfälschungen und Sprachakrobatik aggressiv aufgeladen ist, der öffentliche Diskurs also zunehmend verroht, ist es erforderlich, die demokratische Streitkultur auch und gerade durch innere Pressefreiheit zu verteidigen. Und es gehört dazu, dass wir fordern und selbst dafür streiten, die berechtigt strengen Maßstäbe „journalistischer Sorgfaltspflicht“ nicht nur an die unbotmäßigen Medien anzulegen, sondern ebenso an die regierungsnahen.
Was die editoriale Organisation des RUBIKON betrifft, so verstärkt sich seit längerem unser Eindruck einer Intransparenz der Entscheidungen des Herausgebers Jens Wernicke. Zudem erleben wir ihn in der Vermittlung seiner Entscheidungen als autoritär, so als billige er dem Beirat nur die Funktion eines Aushängeschildes und Werbeträgers zu. Eine sinnvollere Funktion des Beirates, die wir uns vorgestellt und gewünscht hätten, ist für uns daher nicht mehr erkennbar. Vielmehr können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass Jens Wernicke nicht nur Fragen der Organisation, Finanzierung und Redaktion, sondern auch inhaltliche Fragen am liebsten allein entscheidet.
Um nur das jüngste Beispiel zu nennen: Als Mitglieder des Beirats von RUBIKON hatten wir im April Jens Wernicke um Auskunft gebeten, wie die finanzrechtliche Struktur der von ihm geplanten und in seinem editorialen Beitrag ohne Rücksprache mit dem Beirat öffentlich gemachten, vage angedeuteten Stiftung „Libertas Publishing LLC“ aussieht. Immerhin sollen künftig die finanziellen Zuwendungen für RUBIKON in diese Stiftung fließen. Auch wollten wir wissen, worauf sich seine Hoffnung gründet, dass eine solche Konstruktion ausgerechnet in Lateinamerika vor staatlichen, er spricht von faschistischen, Ein- und Übergriffen aller Art geschützt sein würde. Transparenz in Finanz- und Satzungsfragen halten wir in einem sich als aufklärerisch verstehenden Projekt wie RUBIKON für selbstverständlich. Aber wir haben auf keine unserer Fragen eine befriedigende Antwort erhalten.
Wir hatten lange die Hoffnung, dass die von uns auch weiterhin unterstützte Projektidee eines breit angelegten emanzipatorischen Mediums mit der Projektrealisierung des Rubikons in Einklang zu bringen sei. Und wir hoffen auch weiterhin und wünschen dem RUBIKON, dass ihm dies gelingen wird. In seiner gegenwärtigen Organisationsform sehen wir jedoch für unsere Mitgliedschaft im Beirat keine Funktion mehr.

„Zu jüdisch für die Nazis, zu bürgerlich für die DDR, zu links für die BRD“

Daniela Dahn

Warum die Gründerin der DDR-Modezeitschrift Sibylle ihr Leben lang nach einer Heimat gesucht hat. Tochter Daniela Dahn und Enkelin Laura Laabs erinnern sich  Berliner Zeitung – 24. April 2021

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Falsche Heilsversprechen – Eliten sind unfähig zur Selbstkritik

1990 hätte es die Chance auf eine Erneuerung der Demokratie gegeben. Stattdessen schlug die Stunde der Skrupellosen. Gibt es Hoffnung? Nur dann, wenn die Eliten ihre Privilegien aufgeben DANIELA DAHN, DIETER KLEIN erschienen in Berliner Zeitung, Nr.37, 13.Februar 2021 – Originalartikel als pdf Im Jahr 1990 eröffnete das Ende des Staatssozialismus in Europa die historische…

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