Daniela Dahn

Geschichte zu Ende bringen

erschienen in: der Freitag | Nr. 2 | 10. Januar 2019 Kernfrage Was haben die Ideen von Rosa Luxemburg mit den international aufkeimenden Sozialismus-Vorstellungen heute noch zu tun? Kann Sozialismus die Demokratie retten? So die Grundfrage einer Debatte, die seit den letzten Wahlen in den USA an Fahrt gewinnt. Im New Yorker las man im vorigen…

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Lebhafter Streit im schmalen Korridor

Daniela Dahn

Radikale Aufklärung über Herrschaft – zu Rainer Mausfelds Demokratiekritik

Erschienen in Neues Deutschland 29.12.2018

Angesichts der Wahlerfolge von fremdenfeindlichen Erzkonservativen und Nationalisten häufen sich apokalyptische Prognosen über drohende Barbarei. Wenn dem Mittelstand die angstfreie Existenz entzogen wird, rückt der Extremismus in die Mitte. Das ist der Nährboden für Faschismus. Schlafwandler war mal, nicht wenige Intellektuelle, Historiker, Psychologen und Künstler wollen sich diesen Vorwurf zu Recht nicht noch einmal gefallen lassen. Haltet den Dieb, rufen sie, den Dieb der Demokratie. Und der Freiheit und der Würde. Denn es handelt sich um einen beabsichtigten, wohlgeplanten Raub, nicht einfach nur um einen bedauerlichen Fehltritt der Geschichte.

Wie konnte es dazu kommen, dass große Mehrheiten dem Räuber ihre hart erarbeiteten Habseligkeiten noch kniefällig darbieten oder zumindest stumm, wenn nicht beifällig zuschauen, wie diese in des Räubers goldener Kutsche verschwinden? Dies erklärt nun mit seltenem Scharfsinn der Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld in seinem Buch: »Warum schweigen die Lämmer?«. Jahrzehntelang hat er an Universitäten die psychologischen Methoden der Bewusstseinsmanipulation ergründet. Es geht um die Frage, was mit uns Lämmern, Lemmingen und Lemuren geschehen sein muss, dass wir ohnmächtig mit ansehen, wie Elitenherrschaft und Neoliberalismus die Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören.
Das Metier des Professors sind Vorlesungen. Mausfelds Vortrag über die Lämmer wurde mit simpler Kamera eher beiläufig aufgezeichnet, geriet auf YouTube und wurde dort über eine halbe Million Mal angehört. Ein Indiz dafür, dass das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und politischer Aufklärung viel größer ist, als die Gegner von Basisdemokratie glauben machen wollen. Kompetenz zeichnet sich auch dadurch aus, den Kern komplizierter Zusammenhänge so nachvollziehbar herauszuschälen, dass eine einfache Logik erkennbar wird. Denn Logik ist letztlich immer einfach, in ihrer formalen Struktur. Dem Westend Verlag ist zu danken, dass aus derartiger Kompetenz nun ein erhellendes, gut lesbares Demokratie-Kompendium entstanden ist, überarbeitete Vorträge und Gespräche, ergänzt durch ausführliche Fußnoten, Quellen und Register.

Warum Mehrheiten sich so vieles gefallen lassen, was gegen ihre Interessen verstößt, beschäftigt die Denker seit der griechischen Antike. Karl Marx verwies in »Die deutsche Ideologie« darauf, dass die Gedanken der Herrschenden aufgrund deren materieller Macht immer die herrschenden Gedanken sind. Man hatte also Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass Propaganda jeder Ordnung systemimmanent ist – so auch der Demokratie. Ohne Indoktrination würde sie nicht funktionieren. Sie ist angewiesen auf die Illusion der politischen Selbstbestimmung der Bürger.
Rainer Mausfeld würdigt die Wissenschaftler, die sein Denken geprägt haben, zentral Noam Chomsky: »Der intelligente Weg, Menschen passiv und fügsam zu halten, besteht darin, das Spektrum akzeptabler Meinungen strikt zu begrenzen, aber eine sehr lebhafte Debatte innerhalb dieses Spektrums zu ermöglichen – und sogar kritischere und abweichende Ansichten zu fördern. Das gibt den Menschen das Gefühl, dass freies Denken stattfindet.« Solche nicht zu überschreitenden Grenzen sind etwa die kapitalistische Marktwirtschaft und die repräsentative Demokratie. Dissens ist erlaubt, so lange er nichts Wesentliches verändert. So das Fazit eines anderen im Buch genannten Vordenkers, des politischen Philosophen Sheldon Wollin, dessen demokratiekritischen Bücher in den USA mehrfach ausgezeichnet und sieben Millionen Mal verkauft wurden, der aber hierzulande fast völlig unbekannt ist.

Zu den von Mausfeld benannten und von PR-Agenturen bevorzugten Techniken gehört das aus dem Zusammenhang reißen von Fakten, so dass ihr Sinnzusammenhang nicht erkennbar wird. Umgekehrt werden isolierte Tatsachen in neue Kontexte gestellt, so dass Empörung in die gewünschte Richtung auf- oder abgebaut werden kann. Das Schüren von Angst dient der Legitimation von Kriegen. Auch Doppelstandards bei der Bewertung von Freund und Feind. Je häufiger eine Behauptung wiederholt wird, je mehr Glaubwürdigkeit gewinnt sie. Ideologisch getränkte Begriffe wie »Humanitäre Intervention« oder »Kampf gegen Terrorismus« helfen, unerwünschte Tatsachen aus dem Bewusstsein zu löschen. Etwa die, dass die »westliche Wertegemeinschaft« in den letzten 15 Jahren vier Millionen Muslime getötet hat und das in irgendeinem auch nur entfernten Zusammenhang mit dem Terror des IS stehen könnte.

Selbst das Wissen um Manipulationstechniken, so warnt Rainer Mausfeld, ist kein Schutz vor ihnen. Denn Erkennen und Wahrnehmen unterliegt einem hohen Anteil von Unbewusstem, der willentlichen Kontrolle entzogen. All das mache es immer schwerer, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, habe zu einer Zeit der radikalen Gegenaufklärung geführt. Jenseits des Aufmerksamkeitsschirms der Bürger konnte ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der unsichtbar ökonomische Macht legal in politische Macht verwandelt. Wer Geld hat, darf damit Parteien finanzieren, Think-Tanks, Lobbyisten, Kanzleien, Gutachter, Forschung, Bildung, Kunst und natürlich Medien. Er kauft sich eine ideelle und materielle Umverteilung zu seinen Gunsten. Dies führe bisweilen dazu, dass die organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse durch derartige Verrechtlichung gegen demokratische Eingriffe abgedichtet werde. Zitiert wird das »Wall Street Journal«, demnach der Neoliberalismus nicht mehr demokratisch abwählbar sei.

Zwar gebe es noch formale demokratische Elemente, doch seien sie strukturell auf ein Minimum reduziert, so Mausfeld. »Wirkliche Demokratie ist ersetzt worden durch die Illusion von Demokratie«, sie würde nunmehr eher Oligarchien ähneln. Der Autor nötigt Position zu beziehen, zum Denken also, was bekanntlich zu den größten Vergnügungen des Menschen gehört. Denken heißt Verstehen und Widersprechen. Am vergnüglichsten also: Zweifeln, ins Gespräch kommen wollen. Etwa darüber, ob es je wirkliche Demokratie gegeben hat. Hier wäre sogar ein strengerer Maßstab, an anderer Stelle etwas mehr Nachsicht denkbar.

Etwa wenn der Schluss gezogen wird, die kapitalistische Demokratie sei inzwischen »vollständig einer demokratischen Kontrolle entzogen« und würde somit »eine neuartige Form totalitärer Herrschaft darstellen«. Totalitär ist ein Begriff, der nicht gesteigert werden kann. Staatliche Praxis aber hält noch vielfältige Steigerungsmöglichkeiten bereit. Gerade diese Sorge ist Motiv genug, sich entgegen zu stemmen. Allein die Existenz dieses Buches ist untotalitär. Nach aller erfahrenen Geschichte bleibt es eine Gratwanderung, die Gefährdung gesellschaftlicher Balance in gebotener Schärfe bewusst zu machen, ohne die vielleicht letzten Mittel der Befriedung zu verschütten.

Schließlich sieht Mausfeld selbst eine gewisse Hoffnung auf Emanzipation vom jetzigen Zustand, wenn es gelänge, die Entpolitisierung der Bevölkerung zu überwinden. Wozu auch die verbreitete Apathie im politischen Engagement gehört, die durch die praktischen Heraus- und Überforderungen seinen Alltag zu bewältigen, erzwungen werde. Die Selbstoptimierung und die der Kinder kostet Kraft. Und wozu das alles? Um sich endlich dem einzig erwünschten Lebenszweck widmen zu können: dem hemmungslosen Konsum. Manipulationskontexte zu durchschauen, erfordere dagegen Sachkenntnis und den Willen zum Selberdenken. Ein bestechend radikaldemokratisches Buch in der Tradition der Aufklärung.

Wenn allerdings Mausfelds Thesen in der etablierten Medienwelt überhaupt wahrgenommen werden, dann meist polemisch oder belehrend. Gerade das bestätigt sie. Denn in diesem Spiel ist auf Dauer nur satisfaktionsfähig, wer sich in dem beschriebenen Korridor zwischen Affirmation und erwünschtem, weil stabilisierendem Dissens bewegt. Dafür bedarf es keiner Kontrollinstanz, auf diese Anpassungsleistung werden diejenigen, die in die Sphäre mit dem Selbstverständnis Qualitätsmedien aufrücken dürfen, von Anbeginn teils sanft, teils knallhart geeicht. Um diese Disziplinierung ertragen zu können, wird sie als selbstbestimmt verinnerlicht, so dass man sich ganz ehrlich für einen kritischen Geist hält.

Das erklärt die Empörung über das Spiegelbild, das Mausfeld diesem System vorhält. Sie entlädt sich in einer Rhetorik der Ausgrenzung, deren beliebteste Diagnose derzeit »verschwörungstheoretische Züge« lautet. Dass trotz aller Zerfallserscheinungen so erwartbar reagiert wird und eine Zuschreibung wie »umstritten« genügt, um ein bemerkenswertes Gesprächsangebot auszuschlagen, zeugt dann doch davon, dass die vermeintliche Vielstimmigkeit sich nur in ihrer Toleranzbreite von der Einstimmigkeit diktatorischer Zwänge unterscheidet.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1108904.demokratie-lebhafter-streit-im-schmalen-korridor.html

Alle reden über den Pakt zur Migration. Reden wir über den zu Flüchtlingen

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag 6. Dezember 2018

Zwei Pakte, die die UN-Vollversammlung auf den Weg gebracht hat, stehen jetzt vor der Annahme.
Alle reden über den Pakt für Migranten – reden wir über den für Geflüchtete.
Migratio heißt Umzug; Auswanderer hoffen ohne Rechtsanspruch auf Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, ziehen nicht selten nach Jahren wieder zurück. Zur Flucht Gezwungene, politisch Verfolgte dagegen genießen Asylrecht, wenn auch in Deutschland beschnitten bis zur Unkenntlichkeit, nach der Grundgesetzänderung von 1993, bei der die SPD aus der Opposition heraus für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit sorgte.
Als „Menschen mit Migrationshintergrund“ werden heute der Einfachheit halber alle bezeichnet. Eine scharfe Trennung gibt es letztlich nur auf dem Papier. Auch wenn die unter Mitwirkung von 146 Staaten erarbeiteten Abkommen nicht rechtsverbindlich sind, ist die UN mit ihrem Geist der internationalen Solidarität damit endlich wieder in die Offensive gekommen. So wie einst die Menschenrechte eine normative Moral etabliert haben, ohne selbst einklagbar zu sein, hofft man nun auf wachsende Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit.
Waren doch nie mehr Menschen auf der Flucht als heute – 24 Millionen, die Hälfte von ihnen Kinder. Im Windschatten um die Aufregung über die erstmalig geordneten Belange für eine reguläre Migration ist bislang öffentlich kaum zur Kenntnis genommen worden, dass auch für den Umgang mit Geflüchteten in Europa und darüber hinaus eine Abkehr von bisheriger Praxis angestrebt wird. „Robuste und gut funktionierende Regelungen“ sollen die Exil-Länder mit geringem und mittlerem Einkommen entlasten und die Verantwortung gerechter auf alle Staaten verteilen.
Was darauf hinausläuft, die perfiden Dublin-Verträge außer Kraft zu setzen. Deren weitgehend von Deutschland durchgesetzte Logik besteht darin, den ärmeren Ländern zu dekretieren: Wen ihr hereinlasst, für den seid ihr verantwortlich. Derart überforderte Länder wie Griechenland, Bulgarien und Italien wehren die Flüchtlinge ab oder behandeln sie so schlecht, dass sie weiterziehen. Verzweifelt irren die Unwillkommenen durch Europa, werden wie Frachtgut hin und her geschoben.
Freiwillig bekundet die Mehrheit der Staaten nun dazu beitragen zu wollen, dass Flüchtlingen auf humane Weise geholfen wird. Die Würde des Menschen ist kein Konjunktiv, wie es auf der #unteilbar-Demo hieß. Durchgesetzt werden soll das Kardinalprinzip des Flüchtlingsschutzes: Berechtigte Ansprüche dürfen nicht zurückgewiesen werden.
Sosehr also zu wünschen ist, dass die beiden Pakte eine humane Dynamik entfalten, so wenig lässt sich manche Irritation verschweigen. Es wird beteuert, dass der Pakt „völlig unpolitisch“ sei. Bitte was? Ist „unparteiisch“ gemeint, liegt ein Übersetzungsfehler vor? Doch auch im englischen Original ist der Global Compact on Refugees „entirely non-political in nature“. Ist Politik schon so in Verruf geraten, dass man sich in ihrer Nähe nicht mehr sehen lassen will?
Wohl wahr, es gibt derzeit kein Land auf der Welt, dessen politisches Credo wäre: Fluchtursachen first. Ihre Bekämpfung wird einige Zeit in Anspruch nehmen, räumt der Pakt ein und vertraut auf die „Maximierung von Beiträgen des Privatsektors“. Dessen Investitionskraft, Finanzinstrumente und kommerziellen Geschäftsmodelle, ergänzt durch Arbeitskräftemobilität, sollen es richten. Also letztlich die Instrumente, die das ganze soziale Desaster erst angerichtet haben. Das ist hochpolitisch. Und sollte eine entsprechende Antwort erhalten.

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Von Egon Bahr lernen, heißt verstehen lernen

Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen erschienen in der Anthologie: Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen Ein Aufruf an alle von Matthias Platzeck, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Oskar Lafontaine, Gabriele Krone-Schmalz, Peter Brandt, Daniela Dahn und vielen anderen – Herausgegeben von Adelheid Bahr Für die deutsche Politik gegenüber Russland besteht ein klarer demokratischer Auftrag.…

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Ich glaub’, ich spuke – Über die Schrift hinaus, Ulla Berkéwicz

Daniela Dahn

Neopathetik Ulla Berkéwicz’ Essay ist, vorsichtig gesagt, eine kühne Übertretung all dessen, was Prosa bisher wagte

der Freitag | Ausgabe 40/2018

Die Autorin wäre nicht Ulla Berkéwicz, würde sie nicht eine ganz eigene Prosa kreieren: Mit ihrem Hexenbesen der Dekonstruktion fährt sie in überlieferte Weisheiten und mystische Texte. Sie hat keine Scheu, verborgene Zusammenhänge zwischen der vedischen Religion aus vorhinduistischer Zeit, der Mathematik und der jüdischen Weltsicht ans Kunstlicht zu holen.
Auch hat sie wenig Respekt vor formaler Logik, insbesondere vor dem Axiom des ausgeschlossenen Dritten. Sie gibt Paradoxien ihren verdienten Stellenwert zurück und rehabilitiert spukende Gespenster, indem sie ihnen Zutritt zur Rationalität verschafft. Diese darf dann allerdings nicht in dreidimensionaler Vorstellung verharren, sondern muss sich öffnen für sieben und mehr Dimensionen. Mathematisches Denken wird als pathetisches Denken beschrieben, was erklären könnte, weshalb sich Musik letztlich auf Mathematik reduzieren lässt.

Wovon träumt ein Gójlem?

Berkéwicz bricht die Sätze auf, bis schroffe Kanten und Abgründe entstehen, schiebt die Zahlen- und Wortschollen ineinander und macht die Leser zu Zeugen, wie sie Geist, Chuzpe und Wissen zu Fugenfüller verarbeitet und so das Ganze zusammenhält. Ihre neu geschaffene literarische Realität gelangt derart Über die Schrift hinaus, ist aber weder ein Abheben ins akademische Fachsimpeln noch ins abgedreht Versponnene. Vielmehr bleiben alle Gedankenspiele dem irdischen und überirdischen Leben verpflichtet.
Dieser essayistische Prosatext ist fast nebenbei auch ein eminent politisches Buch. So wird der vedische Dualismus von Gut und Böse zum Ausgangspunkt für die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno diskutierte Frage, weshalb die technologisch erzogenen Massen eine so rätselhafte Bereitschaft haben, „in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten“.

Angesichts des apokalyptischen Schreckens eines Atomkrieges wird an den Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, erinnert, der „die Anwendung großer Macht um niedriger Zwecke willen“ als Mangel an moralischer Urteilskraft geißelte. Die auch Voraussetzung für die Simonie ist, den Irrglauben, alles mit Geld und Bestechung erlangen zu können, selbst die Gaben Gottes.

Und es geht um die Sorge, die Digitalisierung würde autonome Maschinen und Waffen hervorbringen, die sich von ihren Schöpfern emanzipieren und selbst das Kommando zur Verwüstung übernehmen. So wie es nach der Legende um Rabbi Löw einst der léjmene Gójlem, die Urgestalt eines Roboters, versuchte. Er konnte nur gebändigt werden, als es dem Rabbi gelang, dem wild Gewordenen das Hirschpergament mit den geheimen vier Buchstaben, (also den Chip mit dem Code) aus der Stirn (der Schnittstelle) zu ziehen. Eine Mahnung, die Programmierung nie zu vergessen oder gar aus der Hand zu geben.

Auch nicht die des Kapitalismus, dessen Charakterisierung als gnadenlos sich durch das Buch zieht. Das Übel ist eben nicht erst der Neoliberalismus, den zu verwerfen längst Mainstream ist, sondern die Funktionslogik dieses Wirtschaftssystems von Anfang an, der „Kapitalismus als Religion“, der mit Bezug auf Walter Benjamin als auf die Zerstörung der Welt zielend beschrieben wird. Erlösung von der „Diktatur der Freiheit“ ist nicht in Sicht. Auch nicht von dem Wahn, den falschen Göttern zu folgen. Deshalb kreisen die Reflexionen immer wieder um die Kategorie des Erbarmens. Wo ist angesichts dieser Welt göttliches Erbarmen zu spüren – ist es richtig, aufgrund seines Ausbleibens auf den Tod Gottes zu schließen? Dafür spricht, dass die vermisste Barmherzigkeit nicht nur die Erlösung derer wäre, mit denen sich erbarmt würde, sondern auch die Erlösung des Erbarmers selbst.

Im zweiten Teil des Bandes plötzlich nicht nur totaler Kulissenwechsel, sondern auch der der Erzählperspektive. Die Hoffnung auf Erlösung verlagert sich von der desillusionierenden Reflexion auf ein Mysterienzauberspiel, einen Faschingsfeuersturm in einem Wiener Café oder auch sechs Ecken weiter, in Russland vielleicht.

Die Protagonisten treten heraus aus ihren Rahmen auf der Porträtantenwand, Friederike Mayröcker, der zuvor eingeführte geniale Mathematiker Grigori Perelmann, schließlich die russische Zarenfamilie, die Callas und viele Illustre mehr. „Lebensglück fetzt vorbei, die Schwanenfedern stieben“, wird Ingeborg Bachmann zitiert. Man erwartet, dass es 13 schlägt, und fortwährend blinkt der Judenstern an.

Für manche Leser wohl eine Szenerie, die in ihrer Aberwitzigkeit das Vorherige noch toppt, aber da gerät man an die Geschmacksache. So fantastisch und surreal diese Posse auch ist, so findet sie doch ihre Grenzen, wenn authentischen Personen existentialistische Dialoge aus dem absurden Theater in den Mund gelegt werden. Diese wollen, können und dürfen die intellektuelle Dichte des ersten Teils nicht erreichen.

Dieses Buch ist alles in allem eine fantastische Übertretung dessen, was Prosa bisher wagte, eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Wer auf eine Vertonung dieses poetischen Textes neugierig ist, dem sei das von der Schauspielerin Ulla Berkéwicz gelesene Hörbuch empfohlen, in dem sie der Autorin Ulla Berkéwicz mit warmdunkler Stimme noch ganz eigene Akzente hinzufügt.

Leb wohl, Schalom, Uri Avnery!

Daniela Dahn

Ossietzy 17/2018 vom 1. September 2018

Als Neunjähriger floh Uri Avnery 1933 mit seiner Familie rechtzeitig von Hannover nach Palästina. Es waren jüdische Intellektuelle, die „an Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit glaubten“, beschrieb er sie. 1945, also drei Jahre vor Gründung des Staates Israel, leitete er als 23-Jähriger eine Gruppe, um die Idee einer neuen hebräischen Nation zu propagieren. Sie sollte mit den arabischen Nationen Teil der semitischen Region sein, in der alle friedlich miteinander leben.
Zwei Wochen vor seinem Tod widmete sich der 94-Jährige in seinem letzten Artikel genau diesem Gedanken und schloss damit einen großen Lebensbogen. Der Artikel begann: „Vor Jahren hatte ich ein freundschaftliches Gespräch mit Ariel Scharon. Ich sagte zu ihm: Ich bin in erster Linie Israeli. Erst dann bin ich Jude. Er antwortete hitzig: Ich bin in erster Linie Jude und erst danach bin ich Israeli! Das mag sich nach einer überflüssigen Debatte anhören. Aber in Wirklichkeit ist eben das die Frage, die im Zentrum all unserer Gespräche steht. Sie liegt der Krise zugrunde, die jetzt Israel in Stücke reißt.“
In der Unabhängigkeitserklärung von Ben-Gurion von 1948 sei Israel noch als ein jüdischer und demokratischer Staat charakterisiert worden, der allen seinen Bürgern, unabhängig von Religion und Volkszugehörigkeit, vollkommene Gleichberechtigung zusagte. Heute sei beides verschwunden. „Keine Demokratie. Keine Gleichberechtigung. Ein Staat der Juden für die Juden von den Juden.“ Die Araber, die Beduinen, die Christen (und übrigens auch die russischen Atheisten – D. D.) würden vollkommen ignoriert. Netanjahu habe öffentlich erklärt, dass alle jüdischen Kritiker des neuen Nationalitätengesetzes „Linke und Verräter (das sind ohnehin Synonyme) seien“.
Der unerschrockene Kämpfer für die Versöhnung mit den Palästinensern war es gewohnt, selbst angefeindet und angegriffen zu werden. Nach dem Krieg von 1967 hatte er in einem Offenen Brief an den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Eschkol gefordert, die eroberten Gebiete nicht dauerhaft zu besetzen, sondern dort einen unabhängigen Palästinenserstaat zu schaffen. Über seine beargwöhnten, frühen Kontakte zu Jassir Arafat schrieb er ein Buch: „Mein Freund der Feind“. All das machte ihn zum verhassten Dissidenten, zum „Outcast“. 1975 wurde er durch ein Attentat mit einem Messer schwer verletzt. Da er den israelischen Interessen schade wie auswärtige Feinde, rief der Fernsehkanal 10 gar zu seiner „gezielten Tötung“ auf. Nach einer Friedenskundgebung in Tel Aviv wurde er noch als 87-Jähriger tätlich angegriffen.
All das hinderte ihn nicht daran, mit anderen Verfemten solidarisch zu sein. Als Günter Grass 2012 für sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ im Kreuzfeuer stand, schrieb er, es sei ein völlig unnötiger Krawall, dass Deutsche und Israelis darin wetteifern: „Wer kann Grass mehr beschimpfen, und wer findet extremere Ausdrücke für ihn“. Antisemitisch sei es vielmehr darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden dürfe.
Was in den Nachrufen wenig gewürdigt wurde, ist die Gewissheit, dass das Mitglied des internationalen PEN-Clubs Uri Avnery auch ein herausragender Autor war. Seine Fähigkeit, durch klare Thesen und Antithesen, durch rhetorische Fragen und pointierte Antworten seine wohlformulierten Gedanken zu logischen Schlüssen zu führen, die mit Witz und Schärfe gewürzt waren und in denen es auch an psychologischen Erwägungen nicht mangelte, garantierte immer Lesevergnügen. „Gibt es nun also eine israelische Nation? Natürlich gibt es die. Gibt es eine jüdische Nation? Natürlich gibt es die nicht“, schrieb er in seinem letzten Artikel. „Gehört unser Land zu einer Region, die von Arabern bewohnt wird? … Deshalb müssen wir zu friedlichen Nachbarn in der Region werden, die ich schon vor 75 Jahren die ´semitische Region´ genannt habe.“
Seine mutigen Texte werden fehlen. Uns Lesern und den bedrängten Mitstreitern im anderen Israel. Schalom chaverim.

Was ist Demokratie?

Daniela Dahn

25.8.2018 WDR 3 „Gutenbergs Welt“

Es gibt wohl keinen Staat auf der Welt, der sich selbst für undemokratisch hält. Alle beanspruchen irgendeine Art von Demokratie, auch die Monarchien und die Autokratien. Die Mehrheit der Länder der Erde lebt mit anderen Werten als den westlichen und erwartet, dafür respektiert zu werden. In Zeiten, in denen es nicht mehr darauf ankommt, ob eine Aussage wahr ist, sondern nur, ob sie wirksam ist, ist Vorsicht geboten vor den großen Gewissheiten. Auch der, genau zu wissen, was eine funktionierende Demokratie ist. Sie ist nämlich nichts, das einmal errungen auch ein bleibendes Gut ist, sondern bleibt ein ständiges Wachsen und Vergehen, allzeit gefährdet.
Der Grundgedanke der Demokratie besteht darin, dass Mehrheiten bestimmen, wo es langgeht. Als wichtigstes Kennzeichen galten daher bislang freie Wahlen. Aber das Vertrauen in diesen Vorgang ist im Schwinden, schon im Vorfeld wird bezweifelt, ob alles mit rechten Dingen zugehen wird, Manipulation der Meinungen und der Computer. Gegenkandidaten in Entwicklungsdemokratien erkennen Wahlergebnisse nicht an, was nicht selten zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt. Und auch dort, wo Ergebnisse akzeptiert werden, hält sich die Zuversicht der Wähler, dass die Versprechen eingehalten und ihr Wille berücksichtigt werden wird, in Grenzen. Die Repräsentative Demokratie handelt treuhänderisch fürs Volk – aber wie treu sind diese Hände wirklich?
Bis eben noch galten die USA als Erblasser und Patron der bundesdeutschen Demokratie, ungeachtet deren eigenem virulenten Rassismus, den zahllosen Menschenrechtsverletzungen, nicht nur in der McCharthy-Ära, den CIA-gesteuerten Attentaten, Regime Changes und kriegerischen Aggressionen, die Millionen Menschenleben gekostet haben. Mit Trampel Trump ist nun die Unverbrüchlichkeit der Nibelungentreue dahin, zurückgeworfen auf das eigene „Was bleibt?“.
Da immerhin gibt es ein Grundgesetz, das sich sehen lassen kann. Und an dem die Verfassungswirklichkeit zu messen ist. Demokratie heißt Machtbeschränkung. Spieglein, Spieglein, an der Wand – wer ist der Stärkste im ganzen Land? Gesetzgeber, Regierung, Justiz, Medien oder die Finanzwirtschaft? Der öffentliche Diskurs seit der Krise lässt keinen Zweifel an der Antwort: die Finanzwirtschaft. Doch dieser Befund ist verräterisch, denn er beschreibt eben eine Oligarchie, nicht eine Demokratie.
Offenbar sind die Gewalten nicht gleichwertig, die einen machen den Plan, die anderen führen ihn aus, sind also nachgeordnet. Der Gesetzgeber macht die Spielregeln, die Regierung macht das Spiel, die Justiz setzt durch, dass dabei die Regeln eingehalten werden, die Medien diskutieren, ob es die richtigen Regeln sind und dann ziehen die Banken den Joker und kaufen das ganze Casino.
Bedingung für Demokratie ist eine funktionierende Gewaltenteilung. Im auch in der Bundesrepublik geltenden Modell der repräsentativen Demokratie ist diese zumindest unvollkommen: Da die stärkste Partei des Parlaments auch die Regierung wählt, bestimmt eine Partei oder Koalition sowohl die Politik des Parlaments, als auch die der Regierung – wodurch die Gewaltenteilung zwischen beiden zur Formsache wird.
Kritik an der Art, wie die Gewaltenteilung umgesetzt wurde, gab es von Anfang an. Das ist kein Symptom, dass erst mit Globalisierung und EU-Erweiterung eintrat. Schon der Juristentag von 1953 hatte die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive angemahnt. Die Staatsanwaltschaften und die Verwaltung der Gerichte unterstehen dem Justizminister, er ist zuständig für die Einstellung der Landes-Richter. Das führt zu vielfältiger Abhängigkeit, von der Berufung über die Beförderung bis zu den Haushaltsmitteln. Richter, die sich über diese obrigkeitsstaatlichen Strukturen kritisch äußern, müssen mit Disziplinarmaßnahmen rechnen. Wer kontrolliert die Regierung, wenn diese sich ihre Kontrolleure selbst aussucht und gefügig hält?
Dass der Generalbundesanwalt als politischer Beamter den Weisungen des Justizministeriums unterstellt ist, führt nach Ansicht vieler Juristen dazu, dass bestimmte Sachverhalte gar nicht erst zur Anklage kommen. Börsenmanipulation? In der Finanzkrise hatten die Staatsanwaltschaften so gut wie keine strafrechtliche Relevanz. Veruntreuung von Milliarden Euro Steuergeldern bei Großprojekten wie dem Stuttgarter Bahnhof oder dem Berliner Flughafen, werden nicht geahndet. Ermittlungen im Rechtsextremismus, siehe NSU, lassen am Aufklärungswillen zweifeln. Wenn die Justizminister glauben, ihre politische Verantwortung nur über abhängige Staatsanwälte durchsetzen zu können, sollten sie aber auch eine Kriminalpolitik machen, die überzeugt.
Die Gewaltenteilung ist beschädigt, alle Abhängigkeiten weisen auf einen Parteienklüngel, der sich der Wirtschaft andient. Denn die ist weitgehend ein demokratiefreier Raum. Hier ist der Eigentümer Souverän. Wer über den Kapitalismus nicht reden will, sollte auch über Demokratie schweigen. Einer der es wissen muss, der erfolgreiche Börsenspekulant George Soros, schreibt in seinem Buch „Die Krise des globalen Kapitalismus“: „Der heftige Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung für die offene Gesellschaft als jede totalitäre Ideologie.“ Man bekenne sich zu keinem anderen Prinzip mehr als dem puren Eigeninteresse. Nicht der Beitrag zum Gemeinwohl zähle, sondern geschäftlicher Erfolg. Das ganze Gerede von Freiheit und Demokratie sei „offenkundig nichts anderes als Propaganda“. Der Marktfundamentalismus sei eine der Formen von radikalem Extremismus.
Als solcher müsste er eigentlich vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Aber der beschäftigt sich lieber mit denjenigen, die gegen diesen Extremismus protestieren. Dabei ist der Kampf um den Erhalt einer demokratischen Rechtsstaatlichkeit die wichtigste Aufgabe, vor der die Aktivbürger stehen. Eine Zuschauerdemokratie ist untauglich. Denn Demokratie heißt auch, selber schuld sein. Eben haben über Hunderttausend die Petition unterschrieben: Erst stirbt das Recht, dann der Mensch. Das ist wichtig, aber Petitionen genügen nicht mehr. Mündige, wissende, aufgeklärte Bürger praktizieren längst Formen der stärkeren Einmischung und Selbstbeteiligung. Die wirkmächtigste Form ist die Teilhabe an der Gesetzgebung. Darüber wird verstärkt zu reden sein. Wann, wenn nicht jetzt ist alle Kraft gegen die Gefahr von Rechts zu bündeln: Aufwachen, Aufstehen, das Primat der Politik zurückerobern. Also im besten Fall die Vernunft.