Daniela Dahn

Primat der Politik zurückerobern – »Aufstehen« soll Möglichkeiten zur Selbstermächtigung eröffnen

Daniela Dahn

Die Bewegung »Aufstehen« will sammeln, ohne zu spalten. Sie könnte den pflichtvergessenen Parteien Dampf machen und so neue Mehrheiten schaffen.

erschienen in neues deutschland 18./19. August 2018

Angesichts der postdemokratischen Auflösungserscheinungen im Lande, in Europa und in der Welt wollen sich viele Menschen mit den mangelnden Möglichkeiten zu Einmischung und Selbstermächtigung nicht mehr abfinden. Gerade im weitesten Sinne Linksorientierte wollen nicht in Ratlosigkeit und Resignation verharren. Das zeigt der große Widerhall, den die Idee einer Sammlungsbewegung schon in den ersten Tagen des Registrieren-Könnens erfährt. Bislang war für Hunderttausende die einzige Möglichkeit, ihre Veränderungswünsche durch Resolutionen und Appelle an die Politiker zu erbitten. Das war mitunter nicht ohne Wirkung, befriedigt aber das Bedürfnis aktiv mitzugestalten nicht.
Dazu sind die noch aus dem vorigen Jahrhundert mitgeschleppten und aufgestauten Probleme zu grundsätzlich. Ob eine vernünftige Politik die Bürger vor dem globalen Finanzkapitalismus schützen kann, ist bisher nicht bewiesen. Denn die Macht der Wirtschaft ist größer als die der Politik. Die zersplitterte nationale und internationale Linke stellt derzeit keine konzept- und handlungsfähige Opposition dagegen dar. Opposition aber ist die Seele der Demokratie.
Der Auftrag der Sammlungsbewegung wäre, das Primat der Politik zurückzuerobern. Kann man dafür sammeln, ohne zu spalten? Den drei quasi-linken Parteien im Bundestag war bisher die Kultivierung ihrer Unverträglichkeiten wichtiger als das Ergreifen einer gemeinsamen Veränderungsoption. Dabei sind die programmatischen Schnittstellen nicht gering. Es bleiben dennoch markante Unterschiede, innerhalb und zwischen den Parteien. Insbesondere in der Friedens- oder Interventionspolitik, in der angeblichen Notwendigkeit von Rüstung und deren Export. Hier ist auch die Kluft zwischen dem Willen der Wähler und deren Repräsentanten besonders groß.
In solches Vakuum könnten Bewegungen vordringen und damit Abgeordnete ermutigen, ihr vermeintlich freies Mandat mehr am Wählerauftrag zu orientieren, als an den Partei-Hierarchien. Außerparlamentarischer und außerpropagandistischer Druck muss klarstellen: Parteien, Parlament und Regierung sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Und zwar nur diesem – im Gegensatz zur Wirtschaft, die pflichtschuldig nur der Rendite ist. Diese dient nur dann dem Gemeinwohl, wenn sie gerecht verteilt wird. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein sicheres Maß dafür, wie ungezügelt die vermögende Elite schaltet und waltet.
Das Kapital hat seine internationale Sammlungsbewegung schon vor etwa zweihundert Jahren begonnen. Und die Internationale der Rechtspopulisten ist dabei, diesem Vorsprung nachzueifern. Sie vereinnahmt Gramscis Theorie vom Kampf um die kulturelle Hegemonie und beansprucht die Interpretationshoheit. Wenn ein Jegliches seine Zeit hat, dann ist sie gekommen für einen linken öffentlichen Thinktank. Es geht um Emanzipation, um Gegenhalten, um Aufstehen. Dem sich ein aufrechter Gang anschließt. Über dessen Richtung eine allen Sympathisanten offen stehende Denkwerkstatt ohne hierarchische Strukturen und Tabus beraten sollte.
Dabei muss nicht am Nullpunkt angefangen werden, es gibt kompetente Bürgerbewegungen, Forschungs- und Gesprächskreise, die seit Jahren alternative Entwürfe vorlegen, auch zur Öffnung der Demokratie für mehr Bürgerbeteiligung. So diskutierten wir im Willy-Brandt-Kreis die Anregung des damaligen Direktors des Hamburger Friedensforschungsinstitutes, Dieter S. Lutz, nach der Parteien nicht der einzige Repräsentant des Gemeinwesens sein sollten. Zusätzlich zum Generallistenparlament schlug er ein dem Druck der Interessen entzogenes Expertenparlament vor, einen Zukunftsrat. Über dessen Wahlmodus und Zuständigkeit wäre gemeinsam nachzudenken. Auch darüber, ob es seine Unabhängigkeit durch Verzicht auf Diäten bewahren könnte. Aufwandsentschädigung sollte genügen. Diese Kammer könnte sowohl das Initiativrecht für Gesetze haben als auch ein Veto-Recht, um Politik und Kapital in den Arm zu fallen. Ein solches Gremium wäre der Ort, etwa Klima- und Friedensforschern regelmäßig das Wort zu erteilen.
Ergänzend sollte auch Gregor Gysis Jahre zurückliegender Vorschlag von der, nicht zufällig von LINKEN initiierten, Sammlungsbewegung diskutiert werden: neben dem Bundestag eine Kammer der sozialen Bewegungen zu wählen. Solche Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie bedürfte einer Grundgesetzänderung. Aber wenn der Druck dafür groß genug ist, wird es sich jede Partei überlegen müssen, ob sie sich dem Anspruch auf mehr Bürgerbeteiligung entgegenstellt. Und damit den Eindruck vertieft, die Vertretung des Volkes gegenüber den Eliten habe vermeintlich die AfD übernommen.
Eine solche Kammer wäre mit der Hoffnung verbunden, dass dort die Debatten geführt werden, die man im Parlament vermisst. Hier würde etwa die Friedensbewegung nach dem Sinn von all den Regime Changes fragen, die oft ins Chaos, aber nie in eine Demokratie geführt haben. Stärker hinterfragt würde wohl die US-dominierte NATO, die ohne konkrete Bedrohungs- und Bedarfsanalysen Rüstungsforderungen stellt, die auch als Bestandteil des Wirtschaftskrieges gegen Europa gedeutet werden können. Für diese Bürgerkammer könnten sich all die bewerben, die das Gefühl haben, nicht gehört zu werden: Arbeitslose und Gewerkschafter, Mieter und Bürgerrechtsanwälte, Klein- und Mittelstandsunternehmer, Künstler, Seenotretter und Migranten.
Denn schließlich dürfte die Sammlungsbewegung, in welcher Kammer auch immer, keinen Zweifel daran lassen, dass die Folgen westlicher Lebensweise und postkolonialer Politik Hauptursache für viele Flüchtende sind, ihre Heimat zu verlassen. Schon deswegen haben wir die moralische Verpflichtung, gegenüber denjenigen, die sich unter Lebensgefahr bis zu uns durchgeschlagen haben, mitfühlend und entgegenkommend zu sein. Die praktischen Schwierigkeiten der Aufnahme verlangen genauso viel Beachtung. Ohne Solidarität keine Heimat. Die Geflüchteten erteilen uns eine Lektion, die zu ignorieren sich niemand, und schon gar nicht versammelte Erneuerer, leisten können.
Um mitzumachen, muss und kann man gar nicht einer Meinung sein. Der gemeinsame Wille zur Veränderung mag vorerst genügen. Da werden sich auch einige ungebetene Gäste einfinden, was zu verkraften ist, wenn die Stichhaltigkeit des Argumentes ausschlaggebend ist. Es soll an vereinter linker Kraft nicht interessierten Kreisen kein weiteres Mal gelingen, ein Zusammengehen zu verhindern, wie unlängst bei der alten und jungen Friedensbewegung. Einem Neuaufguss der unseligen Querfrontdebatte durch das Hochspielen einiger weniger Trittbrettfahrer sollte von Anfang an eine Absage erteilt werden.
Keine Experimente mehr, schallte es 1989 von konservativer Seite, um das neoliberale Experiment ungestört durchziehen zu können. Verändert wird in Umbruchsphasen allemal, fragt sich nur, wer in wessen Interesse agiert. In einem solchen historischen Moment plötzlich ohne Konzept dazustehen, ist eine traumatische Erfahrung der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Sie bedarf keiner Wiederholung.
»Aufstehen« wäre auch die Suche nach der zu gewinnenden Zeit. Bleibt zu hoffen, dass sie gelingt. Ein Experiment. Kein Spiel. Denn Vorsicht, allzu viele Versuchsanordnungen hält die diesseitige Geschichte womöglich nicht mehr bereit. Wird die Chance verspielt, rette sich, wer kann: Der Wald steht schwarz und schweiget.

 

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Willkommen und Abschiebung – Sind Geflüchtete ein Schreckgespenst oder das neue revolutionäre Subjekt?

Daniela Dahn

erschienen in: der Freitag | Nr. 25 | 21. Juni 2018

Willkommen und Abschiebung

Über menschliche Kälte, den Kampf der Kulturen von Haben oder Sein und das Gebot grundstürzender Umverteilung: Sind Geflüchtete ein Schreckgespenst oder das neue revolutionäre Subjekt?

Der sogenannte Befreiungskampf gegen illegale Einwanderung hat das Potenzial, Regierungen zu stürzen und Faschismus zu mobilisieren. Nicht nur in Ungarn, wo sich fast drei Viertel der Wähler zu Kämpfern erhoben haben. Wer sich in Deutschland an der Basis umhört, gerade unter Gewerkschaftern, der könnte wie der Soziologe Klaus Dörre zu dem fassungslos machenden Schluss kommen: Der Faschismus ist nicht mehr aufhaltbar. Und morgen gehört ihnen Europa?

Man muss miteinander reden, heißt es allenthalben. Also reden wir. Die Vertreter von Willkommen und Abschiebung. Die Unterscheidung ist unscharf. Allein die Wortwahl – wegschieben, Schnee schieben, Menschen schieben. Der eher dem Abschottungslager zuzurechnende Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz schrieb 2016 im Cicero: „Dass Menschen aufgezwungene Veränderungen nicht wollen, dass sie Parallelgesellschaften ablehnen, dass sie kulturelle und religiöse Konflikte nicht wünschen, ist weder fremdenfeindlich oder rechtsradikal, noch rückschrittlich, sondern ihr gutes Recht.“ Natürlich sind mit dem Aufeinandertreffen fremder Kulturen Konflikte verbunden; wer sie nicht selbst erlebt, wird über die Medien reichlich damit versorgt.

Wofür Medien (und Psychologen) weniger sensibilisieren, ist, sich in die zu versetzen, denen seit vielen Generationen von Wohlstandsmenschen wie uns brutale Veränderungen ihrer gewohnten Lebensweise aufgezwungen werden. Die Parallelgesellschaften der übelsten Art ertragen mussten und müssen: als Sklaven, Kolonialisierte, Missionierte, Opfer imperialer Putsche und des Terrors kapitaler Ökonomie und auch noch des Krieges gegen den Terror. Der Trugschluss, ein kleiner Teil könne unbeschwert in Luxus leben, während der Großteil dafür in Armut und Konflikten versinkt, könnte gerade darauf beruhen, dass wir nicht wünschen, diesen Missstand als „kulturellen Konflikt“ wahrzunehmen.

Auch religiöse Konflikte mögen wir gar nicht. Wir finden es bedauerlich, wenn westliche Länder islamische in Kriegen mit Erniedrigung, Leid, Raub, Chaos und so genährtem Fundamentalismus geflutet haben. Aber es gab keine Alternative zum Schutz unserer und ihrer Sicherheit. Was ist der Dank? Jetzt wird der Hindukusch auch in Deutschland verteidigt.

„Wir wollen unsere abendländische und christliche Kultur“ bewahren – hält die AfD dagegen. Der Mythos vom Abendland war auch den Nazis willkommen, als Abgrenzung gegen „jüdischen Bolschewismus“ und alles Fremde. Nun richtet sich das Geschütz gegen die „islamische Überflutung“. Da schaltet so mancher Erzbischof, beinahe wie einst Don Camillo, bei unliebsamen Kundgebungen schon mal die Kirchenbeleuchtung aus. Muslime brächten auch Werte mit, die zu beleben uns guttäte – wie familiärer Zusammenhalt, meint der Ratsvorsitzende und wirft der AfD „menschliche Kälte“ vor. Innerchristliche Konflikte, wie befremdlich sie auch sein mögen, werden als nicht so störend empfunden wie die mit fremden Religionen.

Grünbeins Weltrevolution

Dabei prägt unsere Lebensweise Migranten viel mehr als umgekehrt. Die allermeisten Muslime passen sich nach einiger Zeit der hier üblichen Familienplanung an und sind toleranter als gedacht. Selbst von den hochreligiösen Sunniten in Deutschland wollen laut einer Bertelsmann-Studie 40 Prozent homosexuelle Paare heiraten lassen – in der Türkei wollen das nur 12 Prozent. Gar 90 Prozent „unserer“ Sunniten halten die Demokratie für eine gute Regierungsform, also nicht die Scharia.

Sind noch alle an Bord? Hört noch jemand zu? Ist es tatsächlich unser Recht, uns frei zu halten von Übeln, die wir aktiv oder durch schweigende Duldung anderen antun? Die Übereinstimmung mit der eigenen kleinen Welt verlieren – nicht mit uns, rufen die aus dem Westen, nicht schon wieder, die aus dem Osten. Und beide wissen: Es wird nie wieder, wie es war.

Denn es darf nicht so bleiben, wie es war. Mit unserer Kultur des Habens und der Ignoranz gegenüber der immer offensichtlicher werdenden Erkenntnis der „Habenichtse“: Wäre ich nicht arm, wärst du nicht reich. Allein in den letzten vier Jahren, so die Internationale Organisation für Migration, sind auf der Flucht 25.000 Menschen umgekommen – hinzu kämen die namenlosen, die in der Sahara verdursteten und im Mittelmeer ertranken. Es ist die Nagelprobe für Wutbürger, ob sie den Glutkern des Humanismus verinnerlicht haben: Alle Menschen sind gleich an Würde und an Rechten. Alle, nicht nur Bio-Deutsche, die es so wenig gibt wie Bio-Autos. Deutschland hat seinen ökologischen Fußabdruck für 2018 bereits Ende April hinterlassen. Der weitere Verbrauch geht auf Kosten anderer, Ärmerer. Deren Existenz nicht selten internationale Konzerne mit deutscher Beteiligung durch Knebelverträge und verseuchte Natur zerstört haben. Wer gegen diesen permanent betriebenen Verstoß gegen Recht und Würde nie aufbegehrt hat, nicht durch praktisches Engagement noch durch theoretisches Rebellieren in Bild, Schrift und Ton, der möge vom Obersten Gericht mit christlicher Nächstenliebe und Mitgefühl bestraft werden. Und dann aufwachen.

Sicher, die Einreise über die blaue oder grüne Grenze ohne gültiges Visum ist illegal. Aber wessen Antrag nach Prüfung anerkannt wurde, der hatte offensichtlich keine Chance, seine legalen Ansprüche anders als über illegale, lebensbedrohende Wege durchzusetzen. Seine Einreise war legitim. Das Grundgesetz bestimmt: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Da wir politische Verfolgung nicht begrenzen können, dürfen wir auch die Aufnahme der Betroffenen nicht begrenzen. Armut, Bürgerkriege oder Naturkatastrophen gelten, selbst wenn durch westliche Politik mit ausgelöst, als unpolitische Verfolgung. Das ist unlogisch, aber konsequent für eine Welt, die so viele ins Elend gestürzt hat, dass die ursprüngliche Idee von Asyl ad absurdum geführt wurde. Allein mit Aus- und Einwanderung sind die Probleme nicht zu lösen, darüber dürfte sogar Einigkeit herrschen.

Durs Grünbein hat, rückblickend auf die Kontroversen unter Literaten und Verlegern in der Süddeutschen, das eigentliche Problem in einem Nebensatz abgehandelt: Die Lage sei so komplex, dass sie „nur noch durch eine Weltrevolution zu lösen“ sei. Das wurde unhinterfragt hingenommen. Könnten wir uns bitte darauf einigen, an diesem Punkt mit den Überlegungen nicht aufzuhören, sondern anzufangen?

Ende des Jahres will die UNO zwei Pakte verabschieden, einen für Flüchtlinge und einen für geordnete Migration. Die Entwürfe liegen vor. Die Kapazitäten von Gemeinden sollen gestärkt werden, um Flüchtlinge besser integrieren zu können, gezielter auszubilden und leichter arbeiten zu lassen. Individuelle Unterbringung soll größere Camps ersetzen. Denkbar sei eine verpflichtende Aufnahmequote. Friedenspolitik soll weltweit gestärkt werden. Völlig offen bleibt bisher, wer all das Wünschenswerte bezahlen soll.

Ran an die Steuerflüchtlinge

Regierungen haben da meistens eine Idee: Nach einem Bericht der Bundesbank vom Juni 2015 hat die Bankenrettung den Steuerzahler 236 Milliarden Euro gekostet. Das hat heftig auf die Sozialsysteme gedrückt, aber kaum jemand außer der Linken hat das beklagt. Das Finanzministerium hat für 2018 „Flüchtlingskosten“ von 15,2 Milliarden Euro bereitgestellt. Das ist, hochgerechnet über Jahre, im Vergleich mit dem Rettungsschirm für Banken, nur eine Rettungsmütze. Aber alle beschwören den Untergang der Sozialsysteme. Wenn deutsche Rentner heute Flaschen sammeln, dann nicht wegen der Rettung von Geflüchteten, sondern wegen der Rettung von Banken. Wer ist bei 440.000 fehlenden Arbeitskräften wirklich eine Last? Wenn sich die bisherige Entwicklung fortsetzt, so wurde Ende Mai beiläufig gemeldet, werden schon fünf Jahre nach ihrer Ankunft die Hälfte der Asylbewerber in Lohn und Brot stehen und so der Gesellschaft mehrfach zurückgeben, was sie empfangen haben. Würde all das transparenter vorgerechnet, könnten Verlustängste gemildert werden.

Viel schwerer ist die Bekämpfung von Fluchtursachen, denn die sind systemimmanent. Der diesjährige Haushalt weist 6,6 Milliarden Euro dafür aus. Dagegen 38,5 Milliarden für Rüstung. Da weiß man, wo der Schwerpunkt liegt. Das vorrangige Mandat ist nicht mehr Rettung aus Seenot, sondern Schutz, auch militanter, der europäischen Grenzen. Wie von Frontex praktiziert. Wurde in Kauf genommen oder gar beabsichtigt, dass die wieder steigende Zahl von Ertrunkenen der kostengünstigste und wirksamste Schutzschild gegen Fluchtwillige ist? Die Konsuminseln im Norden werden immer brutaler verteidigt. Wer das befürwortet, stärkt wohl kaum den Rechtsstaat, sondern wachsende, faschistoide Strukturen. Und beschädigt so Deutschland. Hoppla, gab es da eben Tumulte? „Andersdenkende sind niemals die Feinde der Demokratie, sondern die zu verstehenden Symptomträger von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen“, behauptet Maaz kühn. Niemals? Auch nicht, wenn sie Nazis sind? Selbst wenn diese den durch Rosa Luxemburg geadelten Status der Andersdenkenden in Anspruch nehmen, bleiben sie Feinde der Demokratie. Die ihnen dennoch Freiheitsrechte zugesteht. Wenn sie funktioniert, sucht sie auch politische Defizite hinter den rassistisch Verirrten. Aber diese als Symptomträger zu verharmlosen oder gar als gesellschaftliche Entwicklungshelfer zu verstehen – das empfiehlt sich nicht. Wenn nicht eine grundstürzende Lastenumverteilung gelingt, dann wird das Konfliktpotenzial womöglich jeder Kontrolle entgleiten. Wenn die Flucht vor Steuern nur halb so entschlossen bekämpft würde wie die Flucht vor Elend, dann wäre schon viel gewonnen. Die Opfer globaler Missstände sollten nicht auch noch deren Bekämpfung bezahlen müssen. Das käme den Profiteuren zu. Im nationalen Maßstab hieße das, gesicherte Sozialleistungen, aber eine wohlbedachte Zwangsanleihe bei den 5,7 Billionen Euro deutschem Privatvermögen. Vergleichbar dem Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wer das als Kampfansage an Unternehmer und Privateigentümer sieht, irrt. Es ist vielmehr Programm auch ihrer Rettung: Um die subversive Ungleichheit der Bewohner dieser Welt zu mildern, müssten sie einen Bruchteil des wie auch immer entstandenen Vermögens hergeben, um so den Großteil bewahren zu können. Vor Unruhen bis Rebellionen, vor Handelskrieg bis Krieg. Ob der Widerspruch zwischen Nötigem und Machbarem demokratisch zu überwinden sein wird, ist existenziell. Fremdenfeindlichkeit ist letztlich eine Folge der Kapitallogik. Die unversöhnliche Ursache verleugnet ihre Wirkung. Kapitalismus mit menschlichem Antlitz first. Wer lacht sich da tot?

Fernziel muss eine Welt sein, in der jeder leben kann, wo er will. Ein Privileg, das die Reichen längst haben. Damit die Mehrheit am liebsten zu Hause lebt, muss sich vieles, wenn nicht alles, ändern. Sind die Flüchtenden das ersehnte revolutionäre Subjekt, das Egalisierung und Ökologisierung zwangsläufig vorantreibt? Prekarier aller Länder, vereinigt euch. Hallo? Ist da noch jemand? Wer hat das Licht ausgemacht?

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Prager Frühling – ein Täuschungsmanöver?

erschienen in: Ossietzky, Themenheft 1968, 16.6.18 Prager Frühling – ein Täuschungsmanöver? Der Prager Frühling stand schon während seines Ausbruchs, erst recht aber in der westlichen Geschichtsschreibung, zu Unrecht im Schatten der West-68er. In deren globaler Hörsaalrevolte ging es um Details, sicher wichtige, aber nicht wie in Prag um einen ganz neuen Gesellschaftsentwurf, der für alle…

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Gespalten statt versöhnt – Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck

Er will bewahren, was ist: Warum man weder Anti-Aufklärer noch DDR-Nostalgiker sein muss, um den Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck abzulehnen. Das Image eines Versöhners kam überraschend. Hat doch den Mann, nach dem nicht nur eine Behörde benannt, sondern auch das Verb „gaucken“ kreiert wurde, bisher niemand schonungsloser kritisiert als Sozialdemokraten. Nun aber gilt eine andere, eigendynamische…

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Israelkritik und Meinungsfreiheit: Annäherung an ein schwieriges Thema

Daniela Dahn

22.01.2018 Kontext TV

Debatte über Israelkritik und Meinungsfreiheit – Versuch, einer vergifteten Diskurskultur kollegialen Widerspruch entgegen zu setzen

Von: Daniela Dahn und David Goeßmann

Die Debatte von Daniela Dahn und David Goeßmann bezieht sich auf den Blog Angst essen Israelkritik auf.

Erwiderung von Daniela Dahn:

Lieber David Goeßmann,

es freut mich, dass mein Artikel dich zu weiterführenden Überlegungen angeregt hat. Wie schwierig das Thema ist zeigt, dass ich diesmal nicht ganz froh mit deinem vielleicht in der schnellen Empörung geschriebenen Blog bin. Deshalb will ich gleich deiner am Ende geäußerten Bitte nachkommen, es möge unter Linken in der Diskussion mehr Offenheit und „Durcheinander“ geben. Stark finde ich deinen Text im zweiten Teil, wo ganz sachlich daran erinnert wird, wie viele Friedensinitiativen Israel schon ausgeschlagen hat. Auch deine Feststellung, dass Israel durch seine Expansions- und Besatzungspolitik den palästinensischen Terrorismus genährt hat und so z.T. für das Leid der israelischen Juden mitverantwortlich ist, ist kaum zu bestreiten.

Doch am Anfang missfällt mir deine überspitzte Haltung, dass Kritik an Israel einseitig sein muss, da Israel den Konflikt auch politisch allein zu verantworten hat. Das ist falsch. (Aus der Konfliktforschung wissen wir, dass es gerade das Wesen von Konflikten ist, dass sie von mindestens zwei Seiten ausgehen, wenn auch durchaus zu sehr unterschiedlichen Anteilen.) Die Gründung des Staates Israel wäre ohne die deutsche NS-Schuld wohl nie zustande gekommen, d.h. politische Verantwortung trägt Deutschland allemal. Und es kann nichts schaden, wenn wir unter diesem schwarzen Schatten unsere Worte besonders abwägen.

Auch die UN trägt Verantwortung, weil die Teilung Palästinas unsensibel gegen den Willen der arabischen Staaten beschlossen wurde. Da lag von Anfang an Sprengstoff. Der sich sofort entlud, als Israel seine Unabhängigkeit erklärte und eine arabische Allianz im ersten Palästina-Krieg 1948 Israel überfiel, noch vor jeder Expansionspolitik Israels. Die arabischen Staaten haben mit ihrer generellen Nichtanerkennung des Existenzrechts Israels am Anfang keine konstruktive Rolle gespielt. Sie haben diese Position (teilweise) erst aufgegeben, als es machtpolitisch und militärisch für sie keine Chance mehr gab. Daher sind das Existenzrecht Israels und das Selbstverteidigungsrecht für mich nicht, wie du schreibst, PR-Slogans, sondern wirkliche Rechte.

Wir müssen uns hier nicht all der bekannten Verfehlungen bei der Durchsetzung dieses Rechts vergewissern, die bis heute nicht erfolgte Aufarbeitung der Nakba usw. Ich werfe allerdings auch der palästinensischen Seite vor, dass in ihren Schulen der Holocaust nicht gelehrt wird. Wie soll man sich gegenseitig verstehen, wenn jede Seite die Leidensgeschichte der anderen tabuisiert? Die Einerseits-Andererseits Betrachtungsweise ist unverzichtbar, will man nicht zu verkürzten Schlüssen kommen.

Ich gehöre nun wirklich zu den Chomsky-Verehrerinnen, habe ihn oft zitiert. Seine Verteidigung der Faurisson-Rechte hat natürlich mit Antisemitismus nichts zu tun, sondern mit seiner Auffassung von Meinungsfreiheit. In diesem Fall hätte ich seine Intervention aber  für verzichtbar gehalten. Die Holocaust-Leugnung ist ja keine Meinung, sondern die Verbreitung eines volksverhetzenden Fakes. Sehr zu Recht ist die Klage von Faurisson 1992 vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zurück gewiesen worden. Über die Grenzen von Meinungsfreiheit in den sozialen Medien und die Frage, wer diese setzt, wird zurzeit viel diskutiert. Im UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte ist dazu eigentlich alles gesagt: Die Meinungsfreiheit muss da ihre Grenze finden, wo es für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer erforderlich ist.

Es ist sicher von der Meinungsfreiheit gedeckt, wenn der von dir zitierte israelische Sicherheitsmann die Brutalität der israelischen Okkupation ähnlich findet wie die der Deutschen im 2. Weltkrieg. Ich finde das dennoch maßlos. Massenerschießungen wie im ukrainischen Babi Jar, wo an 2 Tagen 30.000  Juden umgebracht wurden, Massaker wie im französischen Oradour, wo alle Bewohner niedergemetzelt wurden oder die Methode der Verbrannten Erde in Russland und Weißrussland, wo immer wieder Menschen in Holzkirchen und Scheunen bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, wie die 257 Frauen und Kinder in der Dorfkirche von Dory, nahe Minsk – solche Gräuel  bleiben SS und Wehrmacht vorbehalten.

Das schier unerträgliche Ausmaß der Verbrechen bringt es mit sich, dass das Thema nicht ohne Emotionen behandelt werden kann. Ein Schlüsselsatz von Albert Camus hat mich zu Vorsicht  gemahnt, wenn Opfer zu Tätern werden:“Wer lange verfolgt wird, wird schuldig.“Es geht nicht darum, moralische Vorwürfe an die ganze israelische Gesellschaft zu richten, sondern deren tiefe Zerrissenheit zu beklagen und jene zu bestärken, die so differenziert und sachlich wie möglich, die Interessen hinter der israelischen Politik aufdecken. Interessen, die denen der Mehrheit der Gesellschaft widersprechen.

Daniela Dahn


Antwort von David Goeßmann:

Liebe Daniela Dahn,

vielen Dank für Deine Kritik und die Ergänzungen. Die Rückmeldung hat mich sehr gefreut, umso mehr, als Du auf eine Reihe von Dingen hinweist, auf die ich nicht eingehe, die aber wichtig sind. Auch gibt es Stellen, die missverstanden werden können und stärkerer Erläuterung bedürfen. Vielleicht kann ich zur Aufklärung der Sachverhalte und der unterschiedlichen Positionen mit einigen Anmerkungen beitragen.

Ich habe nicht den Eindruck erwecken wollen, dass Israel für alle Missstände in der Region verantwortlich ist. Auch nicht, dass die arabische und palästinensische Seite keine Fehler begangen hat und weiter begeht. So sind die Selbstmordanschläge oder das Abfeuern von „Raketen“(meist selbstgebastelte Geschosse mit wenig Explosionskraft) kriminell und destruktiv. Sie unterminieren die Chancen, Israel und die USA dazu zu bringen, das Völkerrecht und die Forderungen der internationalen Gemeinschaft sowie des Internationalen Strafgerichtshofs anzuerkennen.

Wie Du richtig feststellst gibt es in jedem Konflikt Gewalt, Fehler, Missstände auf beiden Seiten. Daraus folgt eine Reihe von „Einerseits-Andererseits“. Du hast einige genannt. Wenn wir vor 1948 zurückgehen würden, wären noch andere Faktoren zu nennen, die den Konflikt beeinflusst oder hervorgerufen haben. Aber bei der Frage, wer die politische Verantwortung für die gegenwärtige Konfliktlage zu tragen hat, ist das nicht entscheidend. Vor allem ist heute die Frage gar nicht mehr wie noch am Anfang „Staat Israel“ –  ja oder nein. Der politische Konflikt ist seit Jahrzehnten: Staat Israel, aber keiner für die Palästinenser. Das ist der Grund für die Gewalt, die Missstände, die Unsicherheit, die Bedrohungen in Palästina. Denn nach dem Sechstagekrieg hat sich die Konfliktlage entscheidend verändert.

Für die Beantwortung der Frage nach der Verantwortung für die gegenwärtige Konfliktlage lassen sich meines Erachtens zwei zentrale Beobachtungen machen bzw. müssen gemacht werden.

1. (Darauf habe ich schon im Blog hingewiesen): Israel ist Besatzungsmacht und blockiert seit vier Jahrzehnten das Recht auf nationale Selbstbestimmung der Palästinenser, die vom Völkerrecht, der internationalen Gemeinschaft und dem internationalen Strafgerichtshof eingefordert wird. Israel zusammen mit den USA verweigert aber seit den 1970er Jahren die von allen drei Instanzen geforderte Staatslösung. Das ist ein Verstoß gegen eines der höchsten internationalen Rechte; die Besatzung, die Annexion von Land ist illegal, wie der internationale Strafgerichtshof in einer Entscheidung 2004 feststellte. Letztlich ist die Besatzung von fremdem Territorium ein Kriegsakt. Außerdem sehen wir, dass Israel weiter „facts on the ground“ schafft mit illegalen Aneignungen (so der Strafgerichtshof). Die einseitige Besatzung unter Zwang und Gewalt, der einseitige Rechtsbruch, der Isolationismus bei der Blockade der Friedenslösung („rejectionism“ von Israel und den USA) haben den gegenwärtigen Konflikt erzeugt. Die Partei, die den Konflikt hervorbringt und ihn künstlich am Leben erhält, obwohl eine Lösung seit langem offen auf dem Tisch liegt, aber von ihr zurückgewiesen wird, um weiter „facts on the ground“ zu schaffen, also Expansion über Sicherheit zu stellen (reichlich dokumentiert, auch als intentionaler Akt), ist verantwortlich für das, was aus diesem Verhalten resultiert.

2. Alle Kriege und Militärinterventionen Israels stellen nicht Selbstverteidigungsakte, sondern gewollte Kriege dar, mit der „möglichen Ausnahme“ des sogenannten Unabhängigkeitskriegs 1948. Das ist jedenfalls das Ergebnis des Standardwerks von Zeev Maoz. Er ist Professor für Politikwissenschaften der „University of California“ und ehemaliger akademischer Direktor an der Nationalen Militärakademie der israelischen Streitkräfte. Die akribische Untersuchung des konservativen israelischen Militärhistorikers und Politologen: „Defending the Holy Land. A Critical Analysis of Israel’s Security and Foreign Policy“ kommt auf über 700 eng bedruckten Seiten zu dem Schluss, Israel sei nicht aufgrund einer feindlichen Umgebung von außen, quasi als Opfer, zu einem „Sparta of modern times“ aufgestiegen. Die Analyse der Logik, der Muster und der Implikationen von Israels Gewaltausübungen zeige über die Zeit, so Maoz, eindeutig: „The major theme is that most of the wars in which Israel was involved were the result of deliberate Israeli aggressive design, flawed decision making, or flawed conflict management strategies or were avoidable. Israel’s war experience is a story of folly, recklessness, and self-made traps. None of the wars – with a possible exception of the 1948 War of Independence – was what Israel refers to as Milhemet Ein Brerah (‘war of necessity’). They were all wars of choice or wars of folly“. Für den israelischen „low intensity warfare“, also die diversen Formen des Staatsterrorismus (vor allem die „gezielten Tötungen“ mit jeder Menge „casualties“ und „bystanders“), gelte dasselbe. Auch diese Form der „Kriegführung“ (also Staatsterrorismus) habe „escalation, dominance and excessive force“ vorangetrieben. Maoz stellt zudem fest, dass diese Politik „largely ineffective“ gewesen sei. Sie habe „major escalation“ hervorgerufen. Die diversen Gazakriege und Militärinterventionen in jüngerer Zeit sind zudem in ihrer Form keine Kriege mehr, sondern Massaker an einer eingeschlossenen, wehrlosen Zivilbevölkerung, sicherlich mit Vorwänden gerechtfertigt als Selbstverteidigungsakte. Aber die Rechtfertigungen fallen bei einer Prüfung wie Kartenhäuser in sich zusammen. Damit vergleichbar denen beim Afghanistankrieg oder dem Irakkrieg. Ich kann hier nur auf meine Kurzanalyse des letzten Gaza-Massakers Gaza, Israel und die Rolle der Medien hinweisen.

Das sind die beiden Kriterien, aufgrund derer ich sage, dass alle Regierungen, die den Kurs Israels bestimmt haben, für den gegenwärtigen politischen Konflikt in Nahost verantwortlich sind. Wenn ich allerdings schreibe, dass Israel verantwortlich ist für den Konflikt, ist das tatsächlich nicht ganz korrekt und ungenau.

Denn eine zweite Präzisierung ist notwendig: Es ist nicht Israel allein verantwortlich für die Konfliktlage der letzten Jahrzehnte. Ohne die USA gäbe es die Friedensblockade de facto nicht. Das gilt nicht nur für die diplomatische Ebene, sondern auch in Hinsicht auf die finanzielle und militärische Unterstützung. Europa schaut mehr oder weniger passiv zu und ist vielfältiger Komplize bei diversen Menschenrechtsverletzungen, z.B. bei der indirekten Unterstützung bei der illegalen Annexion von Land oder bei der Lieferung von Waffen an Israel (auf nationaler Ebene oder EU-Ebene). Ich verweise hier auf die Ergebnisse des internationalen Russel Tribunal on Palestine und einem Interview von mir mit Frank Barat, einem Organisator des Tribunals.

Aber die Hauptlast fällt trotz allem auf die Konfliktpartei Israel. Wenn sie ihre Besatzungspolitik aufgäbe und einen Palästinenserstaat ermöglichte, würde niemand sich ihr in den Weg stellen. Im Gegenteil. Den USA ist ein Palästinenserstaat ziemlich egal. Ich hatte also mit „Israel“ „Israel und seine Unterstützer“ gemeint. Aber die Formulierung kann missverstanden werden, auch wenn ich auf die ermöglichende Rolle der USA hingewiesen habe. Israelkritik muss nämlich immer auch eine Analyse und Kritik der US-Außenpolitik beinhalten, sonst fehlt ein entscheidender Teil.

Zur Shoa und der Verantwortung Deutschlands für den Konflikt: Die Ermordung der Juden in Deutschland und Europa ist ein Katalysator gewesen für die israelische Staatsgründung. In dieser Weise sind Deutschland und Europa auch indirekt mitverantwortlich für den daraus erwachsenen Konflikt in Nahost, wie Du zu Recht feststellst. Aber deswegen kann man meines Erachtens nicht sagen, dass Deutschland Verantwortung trägt für die Konfliktentwicklung, insbesondere nach dem Sechstagekrieg. Ich finde ebenso nicht, dass Deutschland eine Verantwortung hat für das, was die Sinti und Roma im Einzelnen machen bzw. die Herero und Nama in Namibia. Auch ihre heutige Situation ist historisch geprägt von dem Völkermord an ihnen durch den deutschen Staat.

Verantwortung kann man nur tragen, worauf man Einfluss hat bzw. schwächer hatte. Zudem haben die auf Nazideutschland folgenden Regierungen der BRD die aus der Vergangenheit sich ergebende Verantwortung für den Konflikt durchgängig als „uneingeschränkte Solidarität“ mit dem Staat Israel missverstanden. Diese „Missverständnis“ deutet der israelische Professor Frank Stern vor dem Hintergrund des widersprüchlichen deutschen Philosemitismus. Denn der Philosemitismus sei, so Stern, zu einer Methode geworden, sich im Nachkriegsdeutschland von der Schuld reinzuwaschen und die BRD in das westliche System mit seiner imperialen, aggressiven Ausrichtung zu integrieren. Das zeige sich auch an zwiespältiger Judenfreundlichkeit des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Eine der führenden Antisemitismus-Forscherinnen Eleonore Sterling, deren Familie Opfer des Holocausts wurde, kommt zudem zu dem Ergebnis, dass Philosemitismus umgekehrter Antisemitismus sei. Beide seien unfähig, Juden als normale Menschen zu betrachten.

Die deutschen Regierungen haben in den letzten Jahrzehnten wenig bis gar nichts unternommen, mit den in ihrer Reichweite liegenden Mitteln, zusammen mit anderen europäischen Staaten, den zerstörerischen Selbstzerstörungskurs Israels zu verhindern oder abzuschwächen. Wenn Israel deutsche „Staatsräson“ ist, wie behauptet, dann sollte alles Mögliche getan werden, den Völkern in der Region Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit zu geben. Das ist aber erst möglich, wenn die Blockade beendet wird. Zudem ist auch Deutschlands Israel-Politik nicht unbeteiligt an dem Konfliktverlauf, wenn auch weit weniger als die USA, z.B. durch Lieferung von Waffen in das Konfliktgebiet an eine Konfliktpartei, die damit Menschenrechte verletzt. Durch die Lieferung von den bestellten sechs Dolphin-U-Booten aus der Kieler Werft, die fähig sind, Atomwaffen abzufeuern, wird die nukleare Bedrohung in dem Konfliktgebiet zudem beträchtlich verschärft.

Vor diesem Hintergrund sollten wir bedenken: Wenn gesagt wird, dass nicht nur Israel (inklusive USA) die politische Verantwortung trägt für die gegenwärtige Konfliktsituation in Nahost, sondern differenziert werden muss bei der Verantwortung (Einerseits-Andererseits), dann müssen wir diesen Standard auf andere Konflikte übertragen, wenn die Konfliktlage dort ähnlich ist. Sonst ist es ein Standard, der nur für Israel gilt. Hieraus ergeben sich problematische Schlussfolgerungen für die politische Kritik und die Friedensbewegung. Es folgt zum Beispiel fast logisch, dass unter Anwendung des Standards die USA nur zum Teil politisch verantwortlich gewesen sind für den Vietnamkrieg, den Afghanistan-Krieg oder den Irakkrieg, weil vieles in den Konflikt hineinspielt, was sicherlich richtig ist. Das gleiche folgt für eine ganze Reihe von Konflikten und Kriegszuständen, wo ein Staat ein anderes Volk seiner Souveränitätsrechte beraubt und sie unter Zwang davon abhält, sie zu realisieren, inklusive der daraus erwachsenen „Gewaltspiralen“. Denn in allen vergleichbaren Konflikten mit einem Aggressor und Besatzer hat die Gegenseite zum Teil sehr brutale Verbrechen begangen, von den Guerilleros in Spanien gegen die Napoleonische Okkupation, über die französische Résistance bis zu dem sunnitischen Selbstmordattentätern oder der „insurgency“ in Afghanistan (Taliban), eindringlich dargelegt in dem Buch „Violent Politics“ des renommierten Professors für US-Außenpolitik und ehemaligen Beraters des Weiße Hauses William S. Polk. Zudem: In all diesen Konflikten sind andere Faktoren für den Konflikt mitbestimmend gewesen, so bei dem Vietnamkrieg die französische Kolonialmacht, die Eskalation durch die Tet-Offensive oder der „Terrorismus“ der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (abfällig: „Vietcong“). Aber trotzdem sind die USA der Aggressor sowie Friedensblockierer bei diesen Kriegen, Konflikten und Besatzungen. Sie sind verantwortlich für den Konflikt sowie alles, was aus dieser Aggression und Blockade sich ergibt, trotz aller Einerseits-Anderseits-Aspekte. Hätten die Taliban das gemacht, was die USA mit Afghanistan angestellt haben bzw. würden die Palästinenser so mit den Israelis umspringen, wie Israel zusammen mit den USA mit den Palästinensern, wäre die Argumentation und die Kritik die gleiche. Die Verantwortung liegt bei dem Konfliktverursacher und Blockierer der Konfliktlösung.

Noch einige Anmerkungen zum Selbstverteidigungsrecht und zum Existenzrecht. Jeder hat das Recht, ob Person oder Staat, sich selbst zu verteidigen. Aber kein Staat hat das Recht auf gewaltsame Selbstverteidigung, wenn er nicht alle friedlichen Mittel glaubhaft ausgeschöpft hat. Die völkerrechtliche Diskussion ist hier eindeutig. Auch ist die gewaltsame Selbstverteidigung eng begrenzt auf die unmittelbare Abwehr eines imminenten bzw. stattfindenden Angriffs von außen. Sie bringt immer eine hohe Beweislast mit sich. Der Gewaltanwender ist in der Pflicht, die Alternativlosigkeit nicht nur zu behaupten, sondern zu belegen. Vor diesem Hintergrund muss man sagen, dass das „Selbstverteidigungsrecht“ Israels ein PR-Slogan ist, da die Formel pauschal „gewaltsames Selbstverteidigungsrecht“ meint, es sich bei den Akten Israels nicht um Selbstverteidigung handelt (s.o. Maoz, Gazakriege) und außerdem dieses Recht ausschließlich dem israelischen Staat und seiner von den USA bereitgestellten Militärmaschinerie zugestanden wird. Ein „Selbstverteidigungsrecht“ wie es Israel zugestanden wird haben Palästinenser in dem Konflikt per definitionem nicht. Ich kenne jedenfalls keinen, der in der veröffentlichten Meinung die Raketen aus dem Gazastreifen im Zuge der israelischen Massaker als (legitime) „Selbstverteidigung“  bezeichnet hätte gegen israelische Aggression und den Palästinensern ein „Selbstverteidigungsrecht“ zugesteht, und dann noch in Form von Gewaltanwendungen gegen die andere Konflikt- und Kriegspartei. Zudem hat der israelische Staat immer ein Mittel zur Hand, um Sicherheit herzustellen und Gewalt zu minimieren, nämlich die Beendigung der Blockadepolitik. Solange aber Staaten die Möglichkeit haben, Konflikte zivil und ohne Gewalt zu lösen, dennoch immer wieder Gewalt wählen, kann schwerlich von Schutz der Bevölkerung oder Selbstverteidigung gesprochen werden.

Was nun das Existenzrecht angeht ist diese Formel aufgetaucht im Zuge der „unverschämten Angebote“ in den 1970er Jahren von palästinensischer und arabischer Seite. Hier gilt zuerst einmal wieder das gleiche wie schon bei der „Selbstverteidigung“: Es gibt nur ein Existenzrecht für Israel, aber keines für die Palästinenser. Sie haben nicht einmal einen Staat, für den sie ein Recht auf Existenz einklagen könnten. Was das „Existenzrecht“ an sich angeht, verweise ich auf eine Antwort auf einen Post auf Facebook zu meinem Blogbeitrag auf Rubikon. In dem Post wird gefragt: „Kann der Islam, respektive Palästina, Israel und Christentum respektieren. Existenzrecht garantieren? Es ist für mich nicht ersichtlich, leider. Die Expansion der vergangenen Jahrhunderte zeigt es uns. Historiker zeigen uns da unterschiedliche Bilder.“

Ich hatte darauf u.a. geantwortet: „In dem Artikel geht es nicht um Islam, Christentum und Judentum. Darum bitte beim Thema bleiben und nicht wieder abschweifen. Isa Winter, was Ihre Skepsis zum ‚Existenzrecht‘ angeht: 1. Es gibt kein ‚Existenzrecht‘ in internationalen Beziehungen. Aus gutem Grund. Haben die USA etwa das Recht auf Teilen von Mexiko zu hocken, die sie sich in brutaler Weise angeeignet haben? Von den Ureinwohnern ganz zu schweigen. Alle Staatsterritorien sind mehr oder weniger durch Kriege, brutale Grenzziehungen, radikale Eingliederungen und Unterdrückung entstanden. Legitim ist das alles nicht. Was es daher in internationalen Beziehungen gibt, ist die wechselseitige Anerkennung von völkerrechtlich festgelegten Staatsgrenzen. 2. Alle relevanten politischen Akteure erkennen den Staat Israel in den völkerrechtlich festgelegten Grenzen an. Alles andere wäre auch suizidal. Kein Staat der Welt fordert auf politischer Ebene, auch nicht die PLO oder die Hamas, den Ausschluss Israels aus der UN oder die Auflösung des Staates Israel. Rhetorik, dass die andere Seite kein Recht habe da zu sein (s.o.), gibt es auf beiden Seiten. Es gibt Gruppen im israelischen Parlament, die offiziell alle Palästinenser aus Palästina vertreiben wollen und ein Israel in ganz Palästina fordern. In der zionistischen Bewegung ist diese Vision seit ihren Anfängen bis heute sehr prominent enthalten. Aber das alles ist irrelevant. Es geht um die Positionen, die die offiziellen Vertreter im politischen Prozess real einnehmen, nicht um die herumschwirrende Rhetorik, die sich eher nach innen richtet. 3. Während alle relevanten Vertreter Israel als Staat auf der internationalen Bühne anerkennen (obwohl Israel bis heute seine Grenzen offen lässt bzw. diverse israelische Ministerpräsidenten und Außenminister festgestellt haben, dass alle Territorien innerhalb der Separationsanlagen und Mauern im illegal besetzten Westjordanland Teil des Staates Israel ist), kann ein völkerrechtlich, vom Internationalen Strafgerichtshof und der internationalen Gemeinschaft geforderter Palästinenserstaat seit über 40 Jahren nicht einmal anerkannt werden, geschweige denn ein Existenzrecht eingefordert werden. Die Gründe dafür, siehe meinen Artikel. 4. Der Islam kann und muss gar nichts garantieren. Muss die jüdische Religion und ihre Vertreter etwa das Existenzrecht eines Palästinenserstaats garantieren. Und wenn die orthodoxen Rabbiner nicht wollen? Vollkommen irrelevant. (…)“

Mit dem Slogan vom „Existenzrecht“ nur für Israel (wie gesagt ein exklusives Recht) wird genau das überdeckt, dass nämlich kein einziger Staat, auch nicht die politische Vertretung der Palästinenser, den Staat Israel und seine völkerrechtlich bestimmten Grenzen nicht anerkennt. Gleichzeitig wird die politische Rhetorik von diversen Vertretern auf der palästinensischen/arabischen Seite benutzt, um zu suggerieren, die arabischen Staaten oder die palästinensische Seite würden den Staat Israel ablehnen oder gar vernichten wollen. Das geschieht zudem einseitig. Die gleiche Rhetorik auf israelischer Seite wird ausgeblendet und schon gar nicht als Indiz dafür genommen, dass Israel die Palästinenser aus ganz Palästina vertreiben will.

Fazit: Politische Kritik und Friedensbewegung sollten sich wie üblich unerschrocken verhalten: Aufklärungsarbeit betreiben, den Aggressor und Blockierer unter Druck setzen und Strategien entwickeln, um den Konflikt zu deeskalieren und die Friedenslösung voranzubringen. Darum geht es mir. Denn die Palästinenser oder arabischen Staaten können schlicht und ergreifend den Konflikt nicht lösen, auch wenn sie sich noch so brav verhalten. Einzig Israel und die USA können den Kurs von zerstörerischer Selbstzerstörung abschwächen und stoppen. Geschieht das nicht, versinkt die Region wahrscheinlich weiter in Gewalt, Tod, Unsicherheit, Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeit.

Zu Faurisson: Da bin ich anderer Meinung wie Du, die UN, viele Staaten der Welt und die meisten, die sich zu dem Thema äußern. Zuerst einmal, obwohl es für die Frage nach Meinungsfreiheit irrelevant ist: Was ich den Einlassungen von Faurisson entnehme (dem Pamphlet, einigen Textfragmenten und Interviews), ist, dass er sich als historischer Revisionist sieht. Er stellt in Frage, dass es möglich gewesen sein soll, Juden in Gaskammern massenweise zu töten, mit ellenlagen Erklärungen. Er bestreitet die Existenz von Tötungslagern, nicht aber die von Konzentrationslagern. Er geht auch von Massenexekutionen aus an den Lagerinsassen, aber sieht vor allem die Bedingungen in den Lagern als Grund für die Toten. Er setzt die Todeszahl wenn ich das richtig sehe unter eine Million an und stellt die Ergebnisse der Standarduntersuchung von Raoul Hilberg zur Ermordung der Juden in Europa in Frage. Er leugnet nicht die Wannsee-Konferenz und die Endlösung, behauptet aber, dass es den Nazis lediglich darum ging, die Juden irgendwie loszuwerden, durch Vertreibung nach Israel und in andere Länder (geografische Lösung). Er sieht auch keine Belege dafür, dass Hitler die Anordnung zur Massenermordung gegeben habe.

Insgesamt habe ich bei den Texten und Videos von/mit ihm den Eindruck, dass er bei der Leugnung der Gaskammern und des Holocausts nicht von Judenhass getrieben ist. Der Einwand, dass die Leugnung der Existenz von Gaskammern an sich „antisemitisch“ sei, ist meines Erachtens nicht richtig. Man kann zum Beispiel den Völkermord an den Armeniern leugnen und relativieren, ohne einen Hass auf die Armenier zu haben. Bei Faurisson scheinen mir andere Triebkräfte im Vordergrund zu stehen. Aber meine Kenntnis ist limitiert. Andere wollen antisemitische Aussagen und Einstellungen gefunden haben.

Nun zu der Aussage, dass die Holocaust-Leugnung keine Meinung sei, sondern die Verbreitung eines volksverhetzenden Fakes. Ich sehe nicht, warum die Leugnung des Holocausts oder die Relativierung bzw. Billigung der Verbrechen der Nazis keine Meinung sein soll. Wenn zum Beispiel die Verbrechen der Kolonialstaaten geleugnet und relativiert werden, dann ist das ja auch eine Meinung, natürlich eine krude, die Opfer entwürdigende, die Realität verkehrende und nicht akzeptable Meinung. Aber für solche Ansichten muss die Meinungsfreiheit gelten wie für die Relativierung, Billigung und Leugnung der Verbrechen der USA mit deutscher Unterstützung, wie sie in der veröffentlichten Meinung rituell und massenhaft zu beobachten ist. Zudem ist die stärkste Leugnung von Verbrechen die der sogenannten „intentionalen Ignoranz“, also das schlichte Verschweigen der Verbrechen des eigenen Lands, während den Verbrechen von gegnerischen Staaten mit massiver Empörung begegnet wird. Ein Standard in der intellektuellen Kultur westlicher Staaten. Solche Meinungen (auch das gezielte Ignorieren ist eine Meinung zu Verbrechen) wird jedoch nicht der Schutz der Meinungsfreiheit streitig gemacht oder gar von Staatswegen per Gerichtsurteil entzogen, obwohl sie Zeugnis einer verrohten Öffentlichkeit sind, mit schwerwiegenden Konsequenzen.

Ich bin wie Chomsky prinzipiell gegen eine Einschränkung der Meinungsfreiheit für nicht akzeptable Meinungen. Ich halte die in vielen Staaten herrschenden Verbote der „Volksverhetzung“ bzw. der „seditious libel laws“ („aufrührerische Verleumdung“) für falsch. Sie werden auch nie universell formuliert oder gar angewendet, sondern nur selektiv. Und sie können auch das Meinungsspektrum in Hinsicht auf weniger krude Ansichten beeinflussen. Als Noam Chomsky zum Beispiel in einem Interview mit der linken Zeitung New Statesman in England auf die Frage, was er von der Vergabe des Nobelpreises an US-Präsident Barack Obama halte, antwortete, es wäre nicht die schlechteste Wahl; der Preis sei auch schon offenen Kriegsverbrechern gegeben worden, wie Henry Kissinger, teilten ihm die Herausgeber mit, dass sie diese Aussage nicht drucken könnten, selbst wenn Evidenz für die Aussage angefügt würde, da sie eine Verleumdungsklage nach sich ziehen könnte. Das Verleumdungsverbot hat in England auch dazu geführt, dass eine kleine Zeitung, die es gewagt hatte, die Behauptungen der großen Medien in Frage zu stellen, eingestellt werden musste, da sie sich einem Rechtsstreit nicht gewachsen sah.

In einem Land mit 80 Millionen Menschen gibt es 80 Millionen Köpfe mit 80 Millionen eigenen Vorstellungen, Ansichten, Meinungen. Einen strafrechtlichen Stopfen auf jede Menge Krudes, Verletzendes zu setzen, um es aus der öffentlichen demokratischen Arena zu eliminieren, macht für mich keinen Sinn, mit wenigen Ausnahmen, zu denen ich die Holocaust-Leugnung, die Leugnung von Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsbrüche nicht zähle. In Deutschland ist das Medienrecht außerdem ein mächtiges Instrument, Meinung einzuschränken. Vor allem die Unternehmen nutzen diese Mittel, um Unliebsames zu unterdrücken, Medien zu attackieren und Journalisten mundtot zu machen. Auch deswegen gehören diese Einschränkungen abgebaut.

In den 1960er Jahren entschied ein US-amerikanisches Gericht im Zuge der Bürgerrechtsbewegung und der Forderung nach mehr Meinungsfreiheit, dass lediglich Aussagen, die unmittelbar kriminelle Aktion hervorrufen, eingeschränkt werden dürfen. Wenn jemand bei einem Raub zum Beispiel sagt: „Schieß“, dann ist das nicht geschützt durch die Meinungsfreiheit. Diese Ansicht ist umstritten. Aber ich finde, das wäre ein guter Startpunkt für eine freie Gesellschaft im Sinne der Aufklärung. Man muss keine Angst haben. Wir haben in unseren Gesellschaften genügend Mittel, demokratische Mittel jenseits von staatlich verordneten und gerichtlich durchgesetzten Verboten und Strafen, um den öffentlichen Diskurs, Vernunft und Menschlichkeit zu befördern.

Was die „Achtung der Rechte und des Rufs anderer“ als Grenze der Meinungsfreiheit angeht: Natürlich sind diffamierende Behauptungen, Lügen oder rassistischen Äußerungen nicht hinnehmbar. Viele Schwache, Dissidenten, politische „Störenfriede“ sind davon betroffen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass Schmähungen und Herabwürdigungen durch Gesetze, Gerichtsurteile und Strafen verboten werden sollten. Sicherlich, die Folgen der diffamierenden Aussagen können schlimm, manchmal schwer erträglich sein. Das gilt auch für die Antisemitismuskeule. Norman Finkelsteins akademische Laufbahn wurde kaltgestellt durch eine gezielte und schändliche Schmutzkampagne in den USA. Der Friedensaktivist Neve Gordon wurde aufgrund seiner Artikel von einem Professor der Universität in Haifa als „Verräter“, „Unterstützer von Terroristen“, „Judenrat wannebe“ und Antisemit beschimpft. Die Vorwürfe zirkulierten auf rechten Webseiten. Er erhielt Todesdrohungen und eine Flut an Hassmails. Die Leitung der Universität, an der Gordon unterrichtet, erhielt Briefe von großen Spendern, in denen verlangt wurde, dass der „Antisemit“ Gordon gefeuert werden sollte. Trotzdem verteidige ich das Recht derjenigen, die Finkelstein und Gordon als Antisemiten bezeichnen. Die beiden Geschmähten wahrscheinlich ebenso. Nicht die Aussagen sollten gerichtlich verboten werden, sondern die Kampagnen gesellschaftlich bekämpft werden. Es kam bei Finkelstein wie bei Gordon zu Solidarisierungen.

In westliche Demokratien konnte Meinungsfreiheit erkämpft werden, auch wenn es Rückwärtsbewegungen gibt, weil der Druck von Bürgerrechtsbewegungen, die in den USA, aber nicht nur dort, mehr Meinungsfreiheit durchsetzen konnten, heute fehlt. Aber man sollte sich auch klar machen: Die Erzielung von wirklicher Meinungsfreiheit hängt bei uns zu einem großen Teil nicht (mehr) von der Überwindung von strafrechtlichen Barrieren ab (auch wenn die Barrieren gerade erhöht werden), sondern von einer veränderten Informations- und Meinungskultur. Darauf können wir uns glaube ich relativ schnell einigen.

Abschließend zu dem Vergleich des ehemaligen Leiters des Shin-Bet Carmi Gillon. Deinen Einwand kann ich nachvollziehen, glaube aber nicht, dass Gillon den Vergleich so meinte. Der Vergleich ist moralisch gemeint und nicht als eine 1-zu-1-Übertragung. Ich glaube, man würde ihm Unrecht tun, den Verweis zu sehr zu pressen. Er versucht aufrütteln und auf die Verbrechen, die zerstörerische Selbstzerstörung Israels hinzuweisen, die in der veröffentlichten Meinung wenn überhaupt nur sehr bedingt zum Thema gemacht wird. Das gilt für die Menschenrechtsverletzungen, das Besatzungsregime, aber auch die israelischen Kriege und die darin enthaltenen Massaker. So wurden allein beim Einmarsch und der Besatzung des Libanon 1982 mindestens 20.000 Palästinenser und Libanesen getötet, 80 bis 90 Prozent Zivilisten darunter; 30.000 wurden verletzt, viele Amputierte aufgrund der verwendeten Cluster- und Phosphorbomben, bereitgestellt von den USA. Die palästinensischen Flüchtlingslager im Süden wurden durch die mörderischen Bombenangriffen der israelischen Luftwaffe dem Erdboden gleich gemacht, Teppiche von toten Flüchtlingen zurücklassend. Nach der Kontrollübernahme des israelischen Militärs konzentrierten Soldaten allein hunderttausend Palästinenser und Libanesen auf den Stränden nahe Sidon, überließen sie dort über Tage der gnadenloser Hitze und den erniedrigenden Bedingungen. Die Gefangenen in den „Konzentrationslagern“ (so die offizieller Formulierung der Militärs vor Ort) wurden währenddessen gefoltert (zum Beispiel mit Luftgewehrsalven auf die Opfer der Inquisition), ermordet, sexuell missbraucht, geschlagen, während die Familien der Gefangenen hungern mussten und von Terrorbanden, bewaffnet von der Besatzungsmacht, schikaniert oder getötet wurden. Die israelische Armee umstellte schließlich die Lager von Sabra und Shatila. Die verbündeten christlichen Phalangisten durften unter Aufsicht der israelischen Streitkräfte rund 2000 Gefangene in wenigen Tagen abschlachten; die Schreie der Ausgelieferten drangen bis zu den israelischen Posten, während die Soldaten dort Musik von Simon und Garfunkel hörten.

Das Sabra und Shatila Massaker erhielt ausnahmsweise öffentliche Aufmerksamkeit und entfachte sogar einige Kritik. Der Grund: Zu viele Journalisten waren diesmal in der Nähe gewesen, die übliche Einhegung der Berichterstattung funktionierte nicht. Israel sprach daraufhin von westlicher Heuchelei und hatte nicht Unrecht. Andere Massaker von Israel hatten zuvor keine Empörung hervorgerufen. Auch das Niedermetzeln von schutzlosen Bauern, Priestern, indigenen Bergbewohnern, darunter Kinder, ältere Menschen und Frauen, von Kassinga in Namibia über Rio Sumpul in El Salvador bis nach Guatemala, wo 300 Indios 1982 getötet wurden, alles mit militärischer Unterstützung der USA und Frankreichs, wurde im Westen praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Die Reaktionen der Sowjetunion, Syriens, Iraks oder des Irans hatten eine ähnliche moralische Verlogenheit, während die Regierungen dort selbst tief im Blutsumpf steckten. Denn die Verbrechen der israelischen Kriegs- und Besatzungspolitik sind bei weitem nicht einzigartig. In anderen Ländern herrscht Gewalt und Rechtlosigkeit in oft weit größeren Dimensionen.

Um es abschließend so zu formulieren: Es geht mir nicht darum, mit einer Kritik am Einerseits-Andererseits das Differenzieren aufzugeben, Israel plump an den Pranger zu stellen und zum Paria der Welt oder Weltgeschichte zu stilisieren. Das ist alles falsch, blind für die Realitäten und bringt nichts für die Lösung des Konflikts. Aber die Verantwortung des israelischen Staats und der USA für den Konflikt und seine Folgen wiegt schwer. Sie wird auch nicht gemindert durch den Holocaust, die diversen Schichten des Konflikts und seine Entstehung. Deswegen sage ich, dass die Kritik an Israels Expansions- und Blockadekurs und die Unterstützung, die der Kurs von außen erhält, „einseitig“ und „scharf“ sein muss wie bei jedem anderen Staat, der „violent politics“ betreibt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alles andere führte zu einer Sonderbehandlung, wo ich nicht sehe, wie sie zu rechtfertigen ist.

David Goeßmann

Erwiderung von Daniela Dahn:

Lügen haben keinen Anspruch auf Meinungsfreiheit

Lieber David Goeßmann,

ich danke dir für deine Erwiderung. Ich empfinde es als sehr angenehm und beinahe ungewöhnlich, über dieses schwierige Thema so ohne persönliche Polemik und den sonst spürbaren Willen, dem Gegenüber schwere Defizite nachzuweisen, reden zu können. Gleichzeitig ist es eine gute Übung, auch unter befreundeten Kollegen Differenzen nicht nur auszuhalten, sondern auszudiskutieren. Das tun wir für uns und gleichzeitig öffentlich, in der Annahme, dass wir nicht die Einzigen sein könnten, die diese Fragen bewegen.

Durch deine ausführlichen Ergänzungen ist noch deutlicher geworden, dass wir in der Einschätzung der israelischen Regierungspolitik eigentlich einig sind. Vielleicht versuche ich stärker als du Traumata mitzufühlen und mitzudenken. Etwa das, sich einmal nicht genügend gewehrt zu haben…

Dennoch darf dies nicht als Grund akzeptiert werden, nunmehr andere wehrlos zu machen. Kaum ein Land hat so oft UN-Resolutionen hervorgerufen und missachtet wie Israel: Es verweigert den Palästinensern das Recht auf staatliche Selbstbestimmung. Die Annexionen von Land, von Ost-Jerusalem oder die Wasserabgrabungen sind völkerrechtswidrig.  Der IGH verwarf die israelische Rechtfertigung für die Errichtung einer Mauer um die besetzten palästinensischen Gebiete. Die allgegenwärtigen Schikanen an den Checkpoints und gegenüber Zivilisten in Kriegsgebieten verletzen die Menschenrechte, wie es in den UN-Resolutionen heißt. Mehrere „israelische Vergeltungsschläge“ und „militärische Aggressionen“  wurden als unverhältnismäßig verurteilt. Wie 1981 der präventive Angriff auf einen irakischen Kernreaktor.
Die Israelis möchten Frieden, aber ihre Regierung vollendet Tatsachen, die ihn ausschließen. Die größten Protestdemonstrationen gegen diese Politik hat es in Tel Aviv und anderen israelischen Städten gegeben. Und die schärfste Kritik kam von prominenten jüdischen Intellektuellen aus aller Welt. Wenn dieses angeblich nur jüdischer Selbsthass und jenes ein Deckmantel für Antisemitismus sein soll, welcher Spielraum, bitteschön,  bleibt da noch, sich den Verurteilungen von UN und IGH anzuschließen? Wer diesen Denkraum schließen will, kann es mit Israel nicht gut meinen. So wie man es mit einem Freund nicht gut meinen kann, den man sehenden Auges aber schweigender Stimme in Richtung Abgrund laufen lässt. Und deshalb werden wir nicht aufhören zu fragen, ob dieses Kritik- Verbot nicht vielmehr ein Deckmantel ist, unter dem globale Interessen ungestört verfolgt werden können. Die Existenz Israels sollte ebenso Staatsräson sein, wie seine Gleichbehandlung vor dem Völkerrecht. Alles was auf Ungleichbehandlung hinaus läuft, birgt viel eher die Gefahr des Antisemitismus in sich.

Kurzum, unsere im Detail abweichende Sicht bezieht sich eher auf die Widerspiegelungsebene. Da ich einst meine Diplomarbeit über formale Logik in argumentierenden Texten geschrieben habe, bin ich in diesem Punkt vielleicht auch etwas pingelig.

Das Selbstverteidigungsrecht Israels ist kein PR-Slogan, es hat dieses Recht, wie jeder andere Staat. Die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht wird dann zur Propaganda, wenn völkerrechtlich kein Verteidigungsfall vorliegt. Wie aktuell bei den Angriffen der Türkei auf die Kurden in Syrien, wie sehr umstritten bei dem nun schon 16 Jahre währenden Krieg gegen den Terror – der kein Angriff von Staaten, sondern von privaten Gruppen ist. Und schließlich kann derjenige sich nicht auf Selbstverteidigung berufen, der rechtswidrig ein Gebiet besetzt und von dort Widerstand erfährt. Die UN haben den Palästinensern das Recht bestätigt, sich für einen eigenen Staat einzusetzen, auch mit militärischen Mitteln. http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-07/gaza-israel-hamas-angriffe-zivilisten-voelkerrecht-interview

Allerdings darf auch die Hamas nicht zivile Einrichtungen und Personen in Israel angreifen. Dagegen durfte Israel sich wehren, hat allerdings versäumt, umgehend den UN-Sicherheitsrat zu informieren, damit dieser eine Verhandlungslösung herbeiführt. Denn in einem dicht besiedelten Gebiet wie Gaza, in dem es keine Fluchtmöglichkeit gibt, ist ein derart asymmetrischer Krieg ein vollkommen überzogener, unangemessener und damit rechtswidriger Gewaltakt. Auch da sind wir uns einig.

Du bestehst aber darauf, dass die Kritik von Israels Expansions- und Blockadekurs scharf und einseitig sein darf, ja muss. Ein klein wenig Rechthaberei ist unvermeidlich, aber gut, das kann ich auch: Die berechtigte Kritik einer Seite, auf deren anderer Seite tatsächlich nichts vergleichbar Kritikwürdiges  existiert, ist noch lange keine einseitige Kritik. Solange sie die objektive Realität erfasst, bleibt sie eine objektive Kritik. Vielleicht ist es auch nur eine Definitionsfrage. Du sagst, wenn sich nur eine Seite kritikwürdig verhält, muss entsprechend auch die Kritik einseitig sein. Für mich klingt einseitig in diesem Zusammenhang immer pejorativ. Da wird etwas unterschlagen. Eben das Einerseits und Andererseits. Entweder die Argumente und Handlungen der gegnerischen Seite, oder, subtiler noch, die inneren Widersprüchlichkeiten der beschriebenen Personen oder Sachverhalte.  Die einseitige Schilderung einer Medaille wird immer unbefriedigend bleiben.

Wo ist Einseitigkeit erlaubt? Ohne Einschränkung in der Liebe. Bedingt auch in der Kunst.  Anwälte dürfen sie zum Beruf machen. Journalisten nicht. Damit meine ich nicht den aus dem Zusammenhang gerissenen und dann zum Hajo-Friedrichs-Dogma erhobenen Imperativ, wonach ein Journalist sich auch mit einer guten Sache nicht gemein machen dürfe. Ein Journalist kann gar nicht arbeiten, ohne Haltung zu zeigen. Denn die beginnt schon bei der Auswahl der Themen, der Interviewpartner und der Fragen. Die Zuschauer von kontext.tv werden keinen Zweifel haben, welche Anliegen die Autoren  zu ihren machen – gerade deshalb schätze ich es.

Gern missverstanden wird meines Erachtens auch die Forderung von Hannah Arendt, Tatsachen und Meinungen seien streng voneinander zu unterscheiden. So als sei alles in Ordnung, wenn in einem Beitrag nur Fakten vermittelt würden und im anderen nur Meinungen. Geht gar nicht – jedes journalistische Produkt würde verarmen, wenn nicht beides nebeneinander stünde. Meinungsstarke Kommentare und Essays brauchen Tatsachen, auf die sie sich beziehen können und selbst reine Nachrichtenformate, die Tatsachen melden, zitieren ständig Politiker oder Experten, die diese Fakten werten.

Der Wortstamm von Meinung ist mein, es geht um die subjektive Wertung einer Tatsache. Eine klar wertende Meinung ist als solche leicht erkennbar, also hinreichend von einer reinen Tatsachenaussage getrennt. Deshalb können beide getrost nebeneinander stehen. Viel problematischer ist die Vermischung von erwiesenen Tatsachen und unbewiesenen Tatsachenbehauptungen. Also von Fakt und Fake. Zwar gibt es keine absolute Wahrheit, aber doch Aussagen, die durch Beweise aller Art so gut belegt sind, dass ihr Gültigkeitsanspruch Bestand hat. Solche unumstößlichen, elementaren Daten, sind nur durch Lügen zu erschüttern. Ohne das Recht auf nicht manipulierte Tatsacheninformationen wird die ganze Meinungsfreiheit zu einem entsetzlichen Schwindel,  so Hannah Arendt in ihrem berühmten Essay über Wahrheit und Lüge in der Politik.

Und hier kommt mein entschiedenster Widerspruch – er richtet sich gegen dein Plädoyer für Meinungsfreiheit für Denunzianten aller Art, selbst für Holocaust-Leugner. Du reflektierst ja selbst, wie sehr du damit in einer Minderheitsposition bist und versuchst wacker, die zu belegen. Und ich finde mich ganz ungewohnt bei der etablierten Mehrheitsmeinung hierzulande. Ich versuche zu erklären, warum: Man darf eine offensichtliche Lüge nicht als Meinung verharmlosen. Damit stellt man selbst den Wahrheitsanspruch einer Tatsache in Frage. „Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen, ist eine der Formen der Lüge“, so Arendt. Und die stehe nicht selten im Dienst von Gruppeninteressen. Aber die Motive und Absichten sind letztlich nicht relevant.

Entscheidend ist: Bestimmte Dinge sind keine Ansichtssache. Dazu gehört der Holocaust. Wer bestreitet, dass (vor allem) Juden in Gaskammern „vollständig verbrannt“ wurden, industriell ermordet, der erstickt die Überlebenden des Infernos der Lager und deren oft ebenfalls traumatisierte Nachkommen, in einer heute aktiven Giftwolke aus Ignoranz, Hohn und Spott. Ich versuche mir vorzustellen, wie es Opfer empfinden müssen, wenn sie hören, sie hätten sich das Martyrium für ihre liebsten Menschen nur ausgedacht. Das hat das Potential zum Irrewerden. Und deshalb muss eine derart psychische Knute unter Gewaltverbot stehen. Jedenfalls in Deutschland. Die Leugnung der Shoa ist hier ein Straftatbestand – und das ist gut so.

Aber der Schutz vor Verleumdung und Verächtlichmachung gilt auch für deutlich weniger dramatische Vorgänge. Jeder von uns hat das Recht, sich gegen falsche, ehrabschneidende Tatsachenbehauptungen über sich selbst zu verwahren. Denn die haben zerstörerische Kraft. Das Verbreiten von Faks ist von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Eben weil man beides unterscheiden muss.

Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe im Laufe der Jahre acht Unterlassungsklagen gegen die Springerpresse erhoben. Das heißt, ich habe verlangt, bestimmte frei erfundene Behauptungen über mich zu verbieten. Also nicht zu wiederholen und aus dem Netz zu löschen. Die Behauptungen bezogen sich leider nicht auf Inhalte meiner Bücher oder Texte, sondern auf die Glaubwürdigkeit meiner Person. Ohne die man als Autorin natürlich erledigt ist. Sieben Mal mussten die Beklagten nicht nur der Unterlassung zustimmen, sondern auch Schmerzensgeld an mich zahlen. Denn Verleumdung ist Schmerz, ist strukturelle Gewalt. Es ist gut, dass unser Rechtssystem dem entgegen tritt. Du würdest es lieber sehen, wenn man nicht Recht sondern gesellschaftliche Solidarität bekäme. Die hatte ich in beglückender Weise. All der öffentlich vorgetragene Zuspruch, in dem es dann doch auch um meine Themen ging, war nicht nur für mich ermutigend. Aber er trug letztlich zu Polarisierung bei, nicht zur Widerlegung von Fakes.

Bei einer Klage kam ein Vergleich heraus, da das Gericht zu dem Schluss kam, eine Behauptung sei so formuliert, dass sie gerade noch als Meinung durchgehen könne. Spätestens da habe ich gelernt zu unterscheiden: Lügen sind verboten, Meinungen erlaubt. Lügen haben keinen Anspruch auf Meinungsfreiheit. Das ist nicht nur ein juristischer Anspruch, sondern auch ein moralischer. Für Journalisten allemal. Das hat mit Verantwortung zu tun.

„Verantwortung kann man nur dafür tragen, worauf man Einfluss hat.“ Das ist eine interessante These von dir, über die es nachzudenken lohnt. Auch was ich oben sagte, spricht dafür. Du meinst, man kann Verantwortung tragen für das Auslösen eines Konfliktes, aber wie der sich dann entwickelt entzieht sich eigener Einflussnahme und liegt daher jenseits eigener Schuldigkeit. Bei aller deutschen Schuld gegenüber Juden, Sinti und Roma oder Herero und Nama, habe sich deren Verhalten nach Jahrzehnten verselbständigt und unterliege keinem kausalen Zusammenhang mehr mit früheren Verbrechen an ihnen. Da beginne ich zu zögern. Und weil ich gerade so im Widerspruchsmodus bin, will ich abschließend auch hier zu bedenken geben: Ist es nicht gerade das Wesen von Gewaltverbrechen anderen Menschen gegenüber, über lange Zeiträume eine Eigendynamik zu entwickeln, die durch eigenes Wollen nicht mehr zu erreichen ist, aber dennoch auf verschlungenen Pfaden in ursächlichem Zusammenhang mit dem frühen Auslöser steht?

Auf jeder Generation lastet die Geschichte der Vorväter. Schuld ist nicht erblich. Aber wer Verantwortlichkeit als Hinterlassenschaft ausschlägt – der überträgt sie einzig auf die einstigen Opfer. Und trägt bei zu Camus erwähnter Einsicht: Wer lange verfolgt wird, wird schuldig. Die Enkel der Verfolger – vielleicht ist es tatsächlich übertrieben, sie noch verantwortlich zu nennen. Können wir uns auf zuständig einigen?

Wir sind zuständig für die Welt im Kleinen und im Großen. Sowohl aus fesselnder Verstricktheit, wie aus freiem Willen, aus nützlichem Eigennutz, wie aus nötiger Solidarität. Mischen wir uns also weiter in unsere eigenen Angelegenheiten ein.

In diesem Sinne auch deiner Arbeit weiter Erfolg wünschend,

Daniela Dahn

Zur Pressefreiheit gehört auch die Freiheit zur Kritik an der Presse

Daniela Dahn

IALANA-Tagung Kassel 26.1.2018

Man kann gar nicht so viel Zeitung lesen, wie man sich empören möchte.
Ist der Aggressionskrieg des NATO-Partners Türkei gegen die, auf syrischem Boden bis unlängst wacker gegen den IS kämpfenden, Kurden etwa mit der gebotenen Schärfe analysiert und verurteilt worden? Die meisten etablierten Blätter und Sender machen den Eiertanz der Politiker mit. Auf FAZ online hat ein Volontär immerhin die richtigen Fragen zum Völkerrecht gestellt. Doch schon vorgestern war das Vorrücken der türkischen Panzer, die eigentlich deutsche sind, der Tagesschau nur noch 25 Sekunden wert, zwischen Vergewaltigungsvorwürfen, die 35 Jahre zurück liegen und geklonten Affen. Einzig die Sicht Erdogan wurde vermittelt.
In Davos wird die Freude der Mächtigen zum in aller Stille ausgehandelten Transpazifischen Handelsabkommen von Journalisten nicht mit lästigen Fragen nach privaten Schiedsgerichten oder Arbeits- und Umweltstandards getrübt.

So viel Misstrauen gegenüber den Medien wie jetzt, gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Noch nie haben sich so viele Zuschauer und Leser mit kritisch-analytischen Studien und Büchern über die Mängel der Mainstream-Medien beschäftigt. Selbst Kanzlerin Merkel hat sich voriges Jahr auf der CDU-„Media-Night“ besorgt über den Glaubwürdigkeitsverlust  geäußert. Es müsse uns alle unruhig stimmen, dass 60 Prozent der Bürger „wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien“ hätten.

Noch nie war das Selbstverständnis des vermeintlichen Qualitätsjournalismus so in Frage gestellt.

Gleichzeitig ist der Grundkonflikt der alte. Auf dem rechtspolitischen Kongress der SPD vor über vierzig Jahren sagte der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, es gäbe keine akzeptablen Vorschläge, wie die Pressefreiheit unter der Dominanz von Privateigentum zu sichern sei.
Er beschrieb die Schwierigkeiten, Machtbegrenzung und Freiheitssicherung im Medienbereich zu verwirklichen. Die privatrechtliche Organisation der Medien führe zu einer „Kumulation von wirtschaftlicher Macht und Kommunikationsmacht“, da der Zugang zum Meinungsmarkt von „Kapitaleinsätzen ganz erheblichen Ausmaßes“ abhänge.

Selbst die unerfüllte Forderung nach innerer Pressefreiheit sei nur eine Verlagerung des Problems, denn über die Anstellung politisch anders orientierter Redakteure befindet allein der Verleger oder Konzern, in dessen Eigentum sich die Redaktion befindet. Auch die Machtpositionen der Intendanten und Programmdirektoren in den öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten unterlägen keiner wirklich demokratischen Kontrolle.

Der Spiegel zitierte 1988 aus einem Brief von Edmund Stoiber an Josef Strauß: „Unsere Politik war immer darauf gerichtet, eine Anbindung von RTL an das konservative Lager zu sichern, bzw. ein Abgleiten nach links zu verhindern.“

Eigentlich wissen sie es alle: In seiner Amtszeit besuchte der damalige CDU-Bundespräsident Horst Köhler den Presserat und zitierte zur allgemeinen Überraschung Karl Marx: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“. „Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu“, hatte Marx in der Rheinischen Zeitung ergänzt. Doch die Freiheit des Gewerbes hat gesiegt, Medien sind Kommerz.

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sollten eigentlich von Gewinn-Überlegungen frei sein, aber davon ist wenig zu merken. Der damalige ZDF-Intendant Dieter Stolte sagte in der Berliner Zeitung vom 29.9.1992 den erbarmungslosen Konkurrenzkampf aller öffentlichen und privaten Sender voraus. Es käme nun darauf an, „den anderen mit jedem Mittel aus dem Markt zu drängen. Damit steht das Medium vor einem fundamentalen Wandel. Es wird nicht mehr von Aspekten der sozialen Kommunikation der Menschen bestimmt, sondern von Gewinngesichtspunkten“, so Stolte.

Die Moderation des sogenannten Kanzler-Duells hat demonstriert, dass sich die Fragen und Themen von ARD und ZDF den Privatsendern vollkommen angepasst haben. Da gibt es zweifellos Ausnahmen, besonders auf 3sat, Arte und Phoenix. Aber die Nachrichten- und Informationssendungen – Kerngeschäft jeden Senders- müssen sich schon fragen lassen, wie öffentlich und rechtlich sie eigentlich sind. Entsprechen sie noch den Anforderungen der Kommunikationsfreiheit und der im Rundfunkstaatsvertrag festgehaltenen Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne?

Wer diese Fragen von Vornherein als rein rhetorisch oder gar polemisch abtut, sei an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. März 2014 erinnert. Darin wurde der ZDF-Staatsvertrag wegen des überproportionalen staatlichen Einflusses in den Aufsichtsorganen als verfassungswidrig erklärt. Die staatsnahen Vertreter im Fernseh- und Verwaltungsrat sollten auf ein Drittel begrenzt werden. Ob die anderen zwei Drittel in der Praxis nun tatsächlich unabhängig sind, sei dahingestellt.

Kleinlaut und viertelherzig räumen die Sender einzelne Fehler ein, im Großen und Ganzen aber sei alles in Ordnung. Zur Selbstgerechtigkeit der Groß-Medien gehört ihr Versuch, Kritik an ihnen vornehmlich rechts zu verorten, bei Pegida, AfD und anderen dubiosen Kräften. Statt Einsicht, Diffamierung der Kritiker. Es ist geboten, nach dem Missbrauch des viel älteren Begriffs Lügenpresse durch die Nazis, damit bedachtsam umzugehen. Aber Kritiker von Medien, die einseitig berichten, verzerren oder wirklich lügen, dürfen nicht automatisch nach Rechts- oder Linksaußen abgeschoben werden. Eine allzu bequeme Methode, den Mainstream unangreifbar zu machen.

Selbst der Evangelische Pressedienst (epd-Medien) hat die Gremienaufsicht der Sender längst für reformbedürftig erklärt. Er empfahl konsequente Politikerferne, mehr Transparenz in der Gremienarbeit, mehr externen Sachverstand und vor allem eine kontinuierliche Programmevaluierung durch die Zivilgesellschaft, z.B. durch Zuschauer oder Media-Watch Organisationen.

Pressefreiheit müsste längst vor allem Fernsehfreiheit sein, denn die meisten Menschen bilden sich ihr Weltbild durch das Fernsehen. Man kann es nur als Absicht werten, wenn ein Unterschichtenfernsehen dominiert, das die von Kant beklagte, selbstverschuldete Unmündigkeit fortschreibt. Die sogenannten öffentlich-rechtlichen Sender beugen sich in den Hauptsendezeiten aus Marktzwängen und politischem Opportunismus den in der Übermacht befindlichen Privatsendern. Vorwiegend seichte Unterhaltung, politisches Fastfood, blutrünstige Krimis und Thriller zerstreuen das Volk. „Wir leben im Zeitalter der medialen Massenverblödung“, befand Peter Scholl-Latour.

Erfolg verspricht man sich von angeblich Quote bringender Verflachung, nicht von investigativem Journalismus. Meistens dürfen Journalisten ihr Jagdfieber nur an Enthüllungsgeschichten abarbeiten, die die Verworfenheit von Personen, nicht die Verwerflichkeit von gesellschaftlichen Strukturen, von unbekannten Kausalitäten, bloßlegen.

Investigativen Journalismus gibt es fast nur noch im Kabarett. Was das Aufdecken von Interessen und Zusammenhängen betrifft, speziell bei der „Anstalt“. Sei es, weil die Sender das dort Kritisierte unter Ulk verbuchen können oder weil Satire noch schwerer zu zensieren ist. Oder sind Kabarettisten einfach außerhalb redaktioneller Disziplinierungsmechanismen, sind sie mutiger, denken sie konsequenter? Dass auch sie gefährlich leben zeigt, dass die „Anstalt“ schon verklagt war. Sie erhöht ihre Subversivität noch durch ausführliche Hintergrundinformationen auf ihrer Website, durch Quellenangaben, mit denen sie sich auch absichert.

Was das über eine Gesellschaft sagt, ist noch nicht zu Ende gedacht. Hat die politische Klasse überhaupt ein Interesse an wissenden, selbstbestimmten, mündigen Bürgern? Zwar überraschen einen gelegentlich auf der Mitternachtsschiene politische Magazine oder Reportagen mit aufklärenden Beiträgen von Redakteuren, die nicht aufgegeben haben. Aber sie sind zu marginal, um Oskar Negts These von der „unterschlagenen Wirklichkeit“ zu widerlegen. Die Angst der unbequemen Journalisten vor dem Elfmeter in der Redaktionssitzung kommt hinzu.
Nur wenige Autoren haben den Mut, die Vorgaben von Chefredakteuren und Ressortleitern, öffentlich zu beschreiben. Etwa, was sie recherchieren dürfen und was nicht. Harald Schumann im Medienmagazin vom November 2010 über seinen Weggang vom Spiegel: „Ich durfte seit 1999 zu allen Themen der politischen Ökonomie de facto nicht schreiben – zu kritisch, zu links, nicht angepasst genug … das wurde nicht begründet, sondern ich bekam einfach, wenn ich Themen vorschlug, die Aufträge nicht. Dann konnte ich gar nicht erst anfangen.“

Eine Mitgliederbefragung der IG Medien unter Zeitungsjournalisten hat schon vor 15 Jahren ergeben, dass sich drei Viertel der Redakteure Eingriffen von Verlegern und Chefredakteuren ausgesetzt sehen, weit über die Hälfte außerdem aggressiver Einflussnahmen durch Inserenten, Verbände und Politiker. Leider schreiben diese drei Viertel keine Artikel darüber, wie das genau funktioniert. Kein Wunder, angesichts exzessiver Sparpläne, Entlassungen und Redaktionsschließungen ist Selbstgleichschaltung angesagt. Man muss die tiefe Abhängigkeit von Intellektuellen und Künstlern von den sie beschäftigenden Industrien immer mitdenken. Profiliert haben sich die Journalisten, die problemlos auch zu Regierungssprechern werden können.

Wer kapituliert und meint, wir seien endgültig im Postfaktischen angekommen, verkennt wohl, dass genau diese Ratlosigkeit ein Herrschaftskonstrukt ist, mit dem man sich vor belastenden Tatsachen schützen will. Es soll nur noch auf die „gefühlte Wahrheit“ ankommen. Allein für das Pentagon arbeiten 27.000 PR-Spezialisten mit einem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar. Sie beeinflussen Agenturen mit gezielten Nachrichten, Fernsehspots und Rundfunkinterviews.
Man erinnere sich nur an die von Whistleblower Daniel Ellsberg 1971 der Presse übergebenen Pentagon-Papiere, die das ganze Ausmaß an Desinformation offenbarten. Während eigenes Handeln und das der Verbündeten in weichzeichnendes Licht gerückt wird, werden auf der Gegenseite Feindbilder durch Lügen geschärft.

Russland ist gefährlicher Weise zum Lieblingsfeind erkoren worden. Als Gegengewicht gegen russisches Fernsehen sendet seit einem Jahr der vom US-Kongress finanzierte, russischsprachige Kanal Nastojaschee Wremja – Current Time. Dafür wurde Radio Free Europe wiederbelebt, das von Großindustriellen mitbegründete und CIA-gesteuerte Propagandaorgan des Kalten Krieges. Mehr als hundert Reporter berichten 24 Stunden am Tag für das gesamte Gebiet der einstigen Sowjetunion. Die Deutungshoheit über die Meinung  von Mehrheiten ist im digitalen Zeitalter die wichtigste Waffe geworden. Hier findet die eigentliche Aufrüstung statt, auch wenn die herkömmliche sich wahrlich nicht lumpen lässt.

Ich beschränke mich auf ein bezeichnendes Beispiel, in dem die Medien nicht nur den russischen Gegner verzerren, sondern auch in Amnesie über die eigene Rolle verfallen sind – was meist zusammen gehört.

Der unbewiesene Vorwurf, Trump sei durch russische Einmischung in die Wahl an die Macht gekommen, bleibt fatal. Falls dieser Präsident je die Absicht hatte, das Verhältnis zu Russland zu entspannen, ist ihm das gründlich ausgetrieben worden. Jeder Versuch würde als Beweis dafür gewertet werden, wie abhängig ihn der den Russen geschuldete Dank macht. Dabei lohnt es, sich zu erinnern, worin genau die Wahlbeeinflussung bestanden haben soll.

Im August 2016 erklärte der Trump-Vertraute Roger Stone, er stehe mit Juliane Assange in Kontakt. Vier Wochen vor der Wahl hatte dieser dann brisante Wikileaks-Enthüllungen angekündigt. Sofort behauptete Hillary Clintons Wahlkampfleiter John Podesta: Wikileaks sei der Propaganda-Arm der russischen Regierung. Assange war bis dahin schon manches vorgeworfen worden, das war neu. Die Süddeutsche räumte ein, dass sich der Vorwurf bisher nicht beweisen ließe. Später behauptete die CIA Beweise zu haben, die sie aber aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich machen könne. So kann man unumschränkt alles behaupten. Übrigens ohne mit der Propaganda-Keule „Verschwörungstheorie“ traktiert zu werden.

Heute scheint keiner der sogenannten „Qualitäts-Journalisten“ mehr daran zu zweifeln, dass russische Hacker am Werk waren. Was ja nicht auszuschließen ist, aber auch weitergehende Fragen werden nicht gestellt. Es ging um Mails der Demokraten zu ihrer Taktik im Wahlkampf, speziell zur Abdrängung von Bernie Sanders. Wahlfälschung durch Veröffentlichung der Wahrheit? Weil es nur auf einer Seite geschehen ist? Vielleicht. Doch wann sind Hacker eigentlich Whistleblower, die öffentlich machen, was Wähler wissen sollten?
Hatte nicht das Oberste Gericht der USA zu Ellsbergs Pentagon-Papieren damals gesagt, dass das Geheimhaltungsinteresse des Staates hinter den Interessen der Öffentlichkeit und der Meinungsfreiheit im Zweifelsfall zurückstecken muss? Insofern wäre es doch egal, wer die Hacker waren, wenn klar ist, dass die Papiere echt sind. Interessant ist deren Botschaft, nicht der Bote.  Aber das ist nicht die Logik von Propaganda. Die schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe – vom Inhalt ablenken durch Denunziation des Boten, und zwar des gewünschten.

So kommt in der deutschen Presse die ganze Geschichte von Craig Murray, dem ungewünschten Boten, der einst britischer Botschafter in Usbekistan war, gar nicht vor. Gegenüber der Daily Mail hat Murray bekannt, er selbst habe die Email-Daten von einem Mitarbeiter der Clinton-Administration bekommen, der frustriert war über die Korruption in der Clinton-Stiftung und die Wahlbeeinflussung durch die Intrigen gegen Bernie Sanders. Diese Daten des Insider-Whistleblowers habe Murray an seinen Vertrauten Assange weiter gegeben.
http://www.dailymail.co.uk/news/article-4034038/Ex-British-ambassador-WikiLeaks-operative-claims-Russia-did-NOT-provide-Clinton-emails-handed-D-C-park-intermediary-disgusted-Democratic-insiders.html
Wie gern skandalisieren die Medien sonst solche sich selbst bezichtigen Zeugen. Im englischsprachigen Raum ist dies auch am Rande geschehen, bis hin zur Washington Times: Waren es doch nicht die Russen?
Aber in bestimmten Fällen verzichten deutsche Leitmedien zugunsten des politischen Opportunismus sogar auf Quoten. Wo kämen sie hin, müssten sie Craig Murray zitieren: „Das Schlimmste an all dem ist, dass es den Konflikt mit Russland verschärft. Das bringt für alle Gefahren – nur nicht für die Rüstungsindustrie und natürlich das größere Budget für die CIA.“
https://www.craigmurray.org.uk/archives/2016/12/cias-absence-conviction/

Ebenso wird inzwischen konsequent vermieden daran zu erinnern, was Hillary Clinton später als den Hauptgrund ihrer Niederlage bezeichnet hat. Dass nämlich der republikanische FBI-Chef Comey zwei Wochen vor der Wahl verkündet hat, dass die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Hillary Clinton wegen neuer Funde auf ihrem privaten E-Mail-Server wieder aufgenommen würden. Erst nach der Wahl stellten sich die Funde als belanglos heraus. „Wie das FBI Wahlkampf macht“, titelte der Tagesspiegel damals. Nach heutiger Erinnerung hat nur einer Wahlkampf gemacht – Putin.

Das nicht zufällig kurze Gedächtnis der Medien hat überdies längst in Vergessenheit geraten lassen, dass die Russen allen Grund hätten, den Amis eine schicksalhafte Wahlbeeinflussung in Moskau heimzuzahlen.  Denn die Amerikaner hatten 1996 Boris Jelzins Wahlfeldzug organisiert. Sie hatten alles Interesse daran, dass der Mann wiedergewählt würde, der mit der Schocktherapie des Washington Consensus, also Privatisierung und Deregulierung, die Wirtschaft des Kontrahenten ruinieren und eigene Interessen berücksichtigen würde.

Als Jelzins Popularität auf fünf Prozent abgesunken war, zogen US-Experten ins Moskauer Hotel „President“. Zu diesem Team gehörten Bill Clintons Wahlhelfer Richard Dresner und der PR-Mann Steven Moore. Diese rieten zu einer Diffamierungskampagne gegen den kommunistischen Gegenkandidaten Sjuganow, u.a. durch „Wahrheitsschwadronen“, die ihn auf seinen Veranstaltungen mit (damals noch nicht so genannten) Fake News aus der Fassung bringen sollten. Jelzin willigte ein, als zentrale Botschaft die Gefahr eines Bürgerkrieges zu beschwören, falls die kommunistische Mangelwirtschaft wiederkehre.

Bis dahin hatten die Staatsmedien Jelzin wegen seines Tschetschenien-Krieges verdammt – wie von Zauberhand brachten die großen Fernsehsender in der Woche vor der Stichwahl 158 kritische Beiträge zu Sjuganow und 114 positive zu Jelzin. Für Jelzins Wahlkampf waren 100 Millionen Dollar von privaten Sponsoren eingegangen.

Diese Darstellung kann zum Glück nicht als Verschwörungstheorie abgetan werden. Nach Jelzins Sieg schilderte das US-Magazin Time am 15.7.1996 wie hier wiedergegeben detailgenau, dass man sich massiv in Russlands innere Angelegenheiten eingemischt hatte: Verdeckte Manipulation führt zum Erfolg, hieß es dort. Man konnte auch noch Meinungsfreiheit demonstrieren, Kritik an solchen Machenschaften war nicht zu erwarten. Auch der Spiegel widmete dem Vorgang einen kurzen Beitrag, der keine Empörung hervor rief.

Dank Jelzins zügelloser Privatisierungspolitik wurde eine Kaste russischer Oligarchen mächtig. In der Amtszeit dieses protegierten Präsidenten halbierte sich das Nationaleinkommen, bis Russland 1998 zahlungsunfähig war. Jelzin, der in den Mehrheitsmedien gern als der einzige russische Demokrat stilisiert wird, war für Russland ähnlich zerstörerisch, wie Trump für die USA.

„Es wäre naiv anzunehmen, Indoktrination vertrage sich nicht mit Demokratie. Sie ist vielmehr ein Wesenszug der Demokratie“, beharrt Noam Chomsky und verweist auf die Fabrikation eines Konsenses durch herrschaftsgerechte Propaganda.

Nehmen wir als weiteres Beispiel für das Ausblenden wichtiger Fakten die nicht so im Focus stehende, aber nicht weniger einseitige Berichterstattung über Venezuela. Ich erlaube mir, hier etwas ausführlicher zu sein, um das ganze Ausmaß an Desinformation bewusst zu machen.
Die Süddeutsche Zeitung meldete vor zwei Tagen, die verfassungsgebende Versammlung, die von Präsident Maduro selbst eingesetzt wurde, um das Parlament zu entmachten und die nur aus regierungstreuen Anhängern bestünde, habe Neuwahlen angekündigt.  Maduro, der wieder kandidiere, helfe ein vorgezogener Wahltermin, da die Wirtschaftskrise immer schlimmer werde.
Ob nicht in einer schweren Krise eine vorgezogene Wahl vielmehr eine legitime, wenn auch für die Regierung riskante Lösung ist, sei dahingestellt.  Das Narrativ, wie man heute bedeutungsvoll sagt, ist klar: Diktator Maduro oder Parlamentarische Demokratie, Misswirtschaft der regierenden, sozialistischen Partei oder Wohlstand bringende Opposition, Gewalt oder Rechtsstaatlichkeit. Verkürzt dürfte das auch der Informationsstand der Mehrheit im Saal sein; wer hat schon Zeit, auf alternativen Portalen wie amerika21 zu erfahren, worum es wirklich geht.

Nämlich darum, dass die wohlhabende Klasse in Venezuela die Reformen von Chávez zugunsten der Armen nie akzeptiert hat. Es geht also um Verteilungsfragen, um die sozialpolitische Verfügung über die Einnahmen aus den reichen Ölvorkommen, um den bei erneuter Privatisierung zu befürchtenden Rückfall in die jahrhundertealte Marginalisierung der Unterschichten. Doch derartige  Hintergründe sind in der Berichterstattung nicht vorgesehen.
Oder nur einmalig an versteckter Stelle, so dass die Redaktion abgesichert ist.

Dass der im Westen verhasste Chávez-Nachfolger Maduro den „Wirtschaftskrieg des Unternehmerlagers“ für die schwere Versorgungskrise verantwortlich macht, da sie u.a. Tonnen von Lebensmitteln zerstört hätten, erfahren wir nicht. Zweifellos ist diese Lesart auch nur die halbe Wahrheit, aber bei den Halbwahrheiten der Opposition ist die Berichterstattung weniger zimperlich. Boykotte, Gewalt, Korruption und Verfassungsbruch finden sich leider auf beiden Seiten.
Der einstige Vizepräsident Venezuelas, José Vicente Rangel, beschreibt es so: „Die Hauptverantwortung trägt die Führung der Opposition wegen ihrer Besessenheit, mit dem Chávismus Schluss zu machen, den Dialog zu verweigern, die Gewalt auf unverantwortliche Weise zu schüren. Aber ich gebe zu, dass es seitens des Chávismus Exzesse, Arroganz und falsche politische und ökonomische Maßnahmen gegeben hat.“

https://amerika21.de/dossier/venezuela-krise

Die Folge ist, dass die rechtspopulistische Mehrheit im Parlament die Regierung nicht nur nicht anerkennt, sondern zu deren Sturz aufruft. Weshalb die Regierung diese Opposition nicht anerkennt. Das von der westlichen Propaganda unterstützte Parlament hat drei Abgeordnete vereidigen lassen, denen Wahlbetrug nachgewiesen wurde. Woraufhin das Oberste Gericht Venezuelas entschieden hat, dass die Entscheidungen des Parlaments ungültig sind, solange diese Abgeordneten nicht abgezogen werden. Daraufhin hat wiederum die Parlamentsmehrheit  das Oberste Gericht für illegal erklärt und das Gerichtsgebäude wurde in Brandt gesteckt. Wie zuvor schon eine Geburtsklinik und Kindergärten. Hat man davon in unseren öffentlich-rechtlichen Nachrichten je gehört?

Derzeit repräsentiert offenbar weder die Regierung noch die Opposition die Mehrheit der Venezolaner. Wie fast alle westlichen Regierungen unterstützt die deutsche dennoch die Opposition –  Angela Merkel hat ihre Vertreter als Staatsgäste empfangen und sich, wie wenig späte die EU, den Trumpschen Sanktionen gegen die sozialistische Regierung angeschlossen. Regierungen dürfen parteiisch sein, sollten ihren Wählern aber Propaganda-Erklärungen ersparen.

Die Medien dürfen nicht parteiisch sein. Sie müssten über alle Seiten objektiv berichten. Wir aber bekommen gar nicht mit, dass hier wieder ein Propagandakrieg läuft, dass der Zug unserer  Geschichte nur auf einem Gleis fährt. Auch die Tagesschau hat sich wie immer auf die prowestliche Regierungsseite geschlagen. Obwohl die Sendesekunden knapp sind und ausschließlich neuen Informationen vorbehalten sein sollten, wiederholte sie Tag für Tag: Die Opposition fürchtet, Präsident Maduro werde eine Diktatur errichten. Immer wieder, bis es auch der letzte Zuschauer verinnerlicht hat.

Was Sozialisten fürchten, dass nämlich die rechte Oligarchie die Überbleibsel der Chávez-Revolution zerstören könne, hat uns nicht zu interessieren. Warum erfahren wir nicht was nur Reuters meldete, dass nämlich der Präsident, der angeblich die Verfassung zu seinen Gunsten umschreiben lassen will, ein Referendum über die neue Verfassung angekündigt hat? Das wäre dann immerhin eine Diktatur, über die das Volk das letzte Wort hat. Falls es nicht stimmt, warum fordert niemand zur Befriedung ein solches Referendum?

Stimmt es, wie ein offensichtlich sachkundiger Kommentator auf tagesschau.de schreibt, dass es für die Verfassungsgebende Versammlung immerhin 6000 Kandidaten gab, von denen jede und jeder mindestens 1200 Unterschriften vorweisen musste, um antreten zu können? Dann wären bis zu 72.000 Venezueler direkt in die Auswahl der Kandidaten einbezogen gewesen, nicht nur Maduro persönlich, wie in der Berichterstattung unterstellt wird. Vielleicht schaffen die Korrespondenten es nicht, solche Angaben zu überprüfen. Vielleicht haben sie auch nicht den Auftrag. Das Ergebnis könnte nicht recht ins Diktaturbild passen.

Auch alles, was nicht dem Bild einer einzig für Demokratie stehenden Opposition zuträglich ist, wird wegzensiert.  Held der Berichterstattung ist Oppositionsführer Leopoldo López. Natürlich musste letzten Sommer über seine erneute Verhaftung berichtet werden. Dass er kurz darauf offenbar wieder in den Hausarrest entlassen wurde, ist kaum  herauszukriegen. Und es wäre kein Nachteil, wenn man zusätzlich wüsste, dass der einstige Harvard-Student schon 2002 den Putschversuch gegen den mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Hugo Chávez unterstützte, der nur durch den Widerstand der aufgebrachten Menge verhindert wurde. Auch war unser Held, der sich gern als „Opfer eines Unrechtsstaates“ bezeichnet, schon mal an der Entführung eines gewählten Ministers beteiligt. Unlängst soll er seinem Freund Trump eine Liste mit zu sanktionierenden Chávisten gegeben haben.
Nicht uninteressant wäre doch auch, dass die von Kanzlerin Merkel geforderte Ausreisegenehmigung für seine Frau deshalb ausgesetzt ist, weil ein Gericht prüft, was es mit den 200 Millionen Bolivares (etwa 100 000 Euro) auf sich hat, die in ihrem Auto entdeckt wurden. Das Ergebnis wurde nicht vermeldet.
https://amerika21.de/2017/09/184263/oppositionspolitiker-venezuela-europa

All das würde zwar Maduros Verstöße gegen Pressefreiheit nicht verständlicher machen, wohl aber die Nervosität im Regierungslager. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen seien über 100 Menschen umgekommen, heißt es in unserer Berichterstattung immer wieder ganz neutral. Diese Opfer lastet man im Kontext der versimpelten Erzählung automatisch  dem Diktator an.  Denn von der Lynchjustiz der Opposition weiß man nichts.
Etwa, dass der Anwalt José Félix Pineda, der für die verfassunggebende Versammlung kandidierte, von oppositionellen Angreifern in seinem Haus erschossen wurde. Will man sich über die paramilitärischen Gruppen dieser Opposition informieren, über ihre Waffen und Ku Klux Klan-Methoden, mit denen sie einzelne, mutmaßliche Regierungsanhänger bei lebendigem Leibe angezündet haben, so muss man schon lateinamerikanische Quellen bemühen. Auf Videos sieht man dort die brennenden Menschenfackeln.   https://red58.org/cr%C3%ADmenes-de-odio-derecha-venezolana-quema-viva-a-personas-en-sus-protestas-923cfc58012c

Auch die Chicago Tribüne zeigt solche Bilder. In europäischen Medien habe ich keine gefunden.
http://www.chicagotribune.com/news/nationworld/ct-venezuela-opposition-militants-20170724-story.html

Unterschlagen werden die Pläne des Rechtspopulisten Juan Requesens, der aus den Zielen seiner oppositionellen Partei „Primero Justicia“ kein Geheimnis macht: ein Klima der Unregierbarkeit schaffen, Venezuela lahmlegen, ausländische Interventionen befürworten und einer verfassunggebenden Versammlung einen „heftigen Krieg“ liefern.
https://www.heise.de/tp/news/Stunde-Null-Opposition-in-Venezuela-setzt-zum-Showdown-an-3774926.html

Dazu passte, dass der Hersteller der Wahlautomaten, die Londoner Firma Smartmatic, ohne die Wahlbehörde konsultiert zu haben, sofort und „ohne jeden Zweifel“, aber auch ohne jede Beweisführung in einer Presseerklärung bekannt gab, dass die Wahl der Kandidaten für die verfassunggebende Versammlung gefälscht wurde. Die Tagesschau hat dies gern aufgegriffen. Für die Hintermänner ihrer Quelle interessiert sie sich nicht. Etwa für den Vorstandsvorsitzenden von Smartmatic, Mark Malloch-Brown, der auch im Vorstand der Open-Society-Stiftung des US-Milliardärs George Soros sitzt. https://amerika21.de/2017/08/181945/venezuela-wahlbetrug-smartmati

Diese Stiftung hat sich bekanntlich hervorgetan durch die Unterstützung der „Farbenrevolutionen“ in Georgien und der Ukraine, auch der jugoslawischen Regime-Change- NGO Otpor,
https://www.danieladahn.de/modell-maidan-illegal-aber-legitim/

die sich offen zu der Strategie bekennt, die Wahlen der zu stürzenden Regierung medienwirksam als gefälscht darzustellen. Malloch-Brown ist auch Vorsitzender der „International Crisis Group“, in der Vertreter der USA, der EU, Kanadas, Mexikos, Perus und Kolumbien der Opposition in Venezuela „mit Rat und technischer Unterstützung“ zur Seite stehen. Ein Rat dürfte darin bestanden haben, die Opposition davon zu überzeugen, das von der Verfassung festgelegte Überprüfen des Wahlergebnisses  zu boykottieren.

Wenn die größte Erdölgesellschaft Lateinamerikas, der Staatsbetrieb Petróleos de Venezuela, eine Kooperation mit Russland und China ankündigt, dann erhebt das der einstige Chef der US-Ölgesellschaft Exxon Mobile und jetzige Außenminister Rex Tillerson zum Problem der „nationalen Sicherheit“. Die Destabilisierungsversuche der CIA in Venezuela sind unter Kennern der Materie kein Tabu, ganz sicher aber in der Tagesschau. Ein Zuschauer belegt auf Tagesschau.de ein Zitat von CIA-Direktor Michael Pompeo: die USA habe großes Interesse sicherzustellen, dass ein wirtschaftlich so fähiges Land wie Venezuela stabil sei. Mit anderen Worten: nicht unter der Kontrolle von Sozialsten. „Wir arbeiten deshalb hart daran.“ https://twitter.com/SMoncada_VEN/status/889470951934611457

So hart, dass der Rat der Wahlexperten Lateinamerikas nicht gehört wird: Das Ergebnis der Wahl zur verfassungsgebende Versammlung sei „wahr und vertrauenswürdig“, es sei das gleiche System angewandt worden wie 2015, als die Opposition gewann. So hart, dass nicht nur in der Tagesschau ständig wiederholt wurde, dass sieben Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten das Wahlergebnis nicht anerkennen. Die logische Folge daraus aber, dass nämlich die übrigen 28 Mitglieder sie anerkennen, wurde unterschlagen. Wenn Trump dann jenseits jeder Rationalität Venezuela mit Krieg droht, fragt kaum noch jemand: Was hat er dort zu suchen? Was will er mitbringen? Selbstbestimmungs- oder Völkerrecht offensichtlich nicht.

Vergangenen Herbst hat der angeblich diktaturversessene Verfassungskonvent ein Dekret über einen „nationalen Dialog zur Stabilisierung der Wirtschaft“ verabschiedet. Über ein Wirtschaftsmodell, das die Abhängigkeit vom Erdöl weitgehend überwindet, sollen sich gemeinsam Gedanken machen Unternehmen und Wirtschaftsvertreter, wie auch Arbeiter und Kommunale Räte. (Chávez war ein Anhänger des russischen Adligen und Verfechters der Rätedemokratie Kropotkin und hat mit seiner fortschrittlichen Verfassung vom März 2000 dafür erste Strukturen eingeführt.)  Von dieser Aufforderung des Verfassungskonvents „an alle, das Land aufzubauen“, hat man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nichts gehört. Propaganda erkennt man auch daran, dass über die zum Gegner Erkorenen grundsätzlich nichts Positives berichtet wird.

Viele Zuschauer sehen sich von der Tagesschau und anderen Leitmedien nicht hinreichend mit unabhängigen und zweifelsfrei recherchierten Informationen versorgt, um sich zum Weltgeschehen eine eigene, begründete Meinung bilden zu können. Das ist das eigentliche Dilemma. Es wird ein selektives Angebot von Symptomen serviert, das unerwünschte kausale Zusammenhänge weitgehend ausspart. Und das entgeht den Bürgern nicht, die den Mainstream-Medien nicht mehr trauen.

Nach einer Untersuchung der Universität Mainz von Ende 2016 sind drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die Medien zumindest teilweise über Unerwünschtes nicht berichten. Doch löst dieser Befund die Unruhe aus, die die Kanzlerin angeblich erwartet? Sind staatlich finanzierte Studien zu dieser Demokratie gefährdenden Situation in Auftrag gegeben? Ist externer Sachverstand, wie von der epd gefordert,  vielleicht unnötig, weil die diensthabenden Journalisten selbstkritisch mit der Situation umgehen? Weit gefehlt.

Die Programm-Redakteure würden sicher auch lieber über brisante Hintergründe berichten, als die ewig gleichen Klischees zu wiederholen. Doch nur wenn sie – vielleicht sogar unbewusst – eben diese Klischees bedienen, können sie zu Recht davon ausgehen, im Sinne ihrer Auftraggeber alles richtig gemacht zu haben. Das Leugnen von Fehlern ist Unterwürfigkeit. Was die Macht erwartet, ist für die eigene Entwicklung allemal wichtiger als die Erwartungen der machtlosen Zuschauer. Deshalb haben sich viele Journalisten freiwillig zu einer Art mehr oder weniger geschickten PR-Agentur der Bosse in Wirtschaft, Politik und Kultur gemacht. Ja man gewinnt den Eindruck, als horchten sie fast nur auf das Echo der sie fördernden Hierarchien – normale Zuschauer und Leser sind gar keine Zielgruppe.

Wenn es für diese Diagnose noch eines Beweises bedürfte, ließe sich auf eine Studie der IG-Metall nahestehenden Otto-Brenner-Stiftung verweisen. Dort wurden 35 000 Berichte aus SZ, FAZ, der Welt sowie tagesschau, News-Websites wie tagesschau.de oder spiegel.de und auch von Lokalzeitungen zum Thema Flüchtlingskrise untersucht. Fazit: die Medien sind ihrer demokratischen Funktion nicht gerecht geworden. Das berichtete verknappt sogar der faktenfinder von tagesschau.de am 22.7.2017, ohne alle Zahlen zu nennen. Die Hauptakteure des Geschehens, nämlich Flüchtende, Helfer und freiwillige Unterstützer kamen nur in 7,5 Prozent der Beiträge zu Wort. Genau 10-mal mehr musste man wiedermal den Politikern und ihren Behörden zuhören. Die Medien spiegelten die Politik, statt sich als neutral hinterfragende Instanz zu verhalten.
https://www.otto-brenner-stiftung.de

Und die Politik, einig wie nie, über die ganz Große Koalition einschließlich Linken und Grünen, verteidigte Willkommenskultur – was durchaus sympathisch war. Da aber Bedenken und Ängste medial kaum wahrgenommen wurden, förderte man indirekt andere Antwortgeber: Pegida, AfD, NPD. Deshalb konnte die Stimmung über Nacht kippen, über die Silvesternacht in Köln. Als nun allen voran der Innenminister und viele andere Politiker auf Distanz gingen, überboten sich plötzlich auch Beiträge der eben noch so zugewandten Medien in übertriebenen, oft hysterischen, jedenfalls weitgehend unbewiesenen Beschuldigen gegenüber jungen „Magrebinern“.
http://www.deutschlandfunk.de/silvester-in-koln-oder-making-of-apokalypse-2-0-von-walter.media.8307f61fd483d3947b55a7d4d6d04172.pdf

Was einmal mehr zeigte, dass der weitgehend affirmative Nachrichten-Journalismus Mitte und Maß verloren hat. Oder sein vorherrschendes Maß Opportunismus ist. Die Studie beklagt, dass die Diktion des Mainstreams die öffentliche Meinung so stark prägt, dass abweichende Positionen entweder nicht mehr gehört oder aus Angst ausgegrenzt zu werden, gar nicht mehr geäußert würden. Diese Furcht vor Isolation führe in eine Schweigespirale.

Beschwiegen werden so gut wie alle redaktionellen Probleme:

  • die Rücksicht auf die Interessen der Medieneigentümer und Anzeigenkunden,
  • der Mangel an Zeit und Geld für Recherchen und der Rückgriff auf PR-
    Agenturen, die nicht selten komplette Artikel schreiben,
  • die Existenz „diskreter Fabriken der Desinformation“ (Peter Scholl-Latour),
    die Disziplinierung durch Zeitverträge und Verkleinerung vieler Redaktionen,
  • der Zusammenhang von Karriere und Selbstzensur,
  • die besseren Honorare für Beiträge, die den Mächtigen gefallen,
  • Hofberichterstattung in Folge allzu enger Kontakte mit Politikern,
  • der Mainstream als Parteinahme für eine Elite, zu der man selbst gehört oder
    gehören möchte,
  • redaktionelle Vorgaben und Anpassungsdruck als Ursache für die Tendenz zu
    Selbstgleichschaltung,
  • Meinungshomogenität durch Ausgrenzung allzu deutlicher Abweichler,
  • die sich aus all dem ergebende Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlich-
    ter Meinung.

Indem die selbsternannten Leitmedien bei ihrer Selbstreflexion diese Fragen weitgehend aussparen, belegen sie freiwillig den Hauptvorwurf gegen sie: Lügen durch Weglassen. Die Journalisten stehen vor der durchaus schwierigen Aufgabe, genau so viel Meinungsfreiheit zu demonstrieren, wie Scheinobjektivität erfordert, aber durch das Ausblenden von Ursachen und Interessen nicht anzuecken. Gerade durch dieses Taktieren verfehlt die Nachrichtengebung letztlich ihren Programmauftrag.
Diese Feststellung ist ausdrücklich kein Plädoyer etwa zur auch schon geforderten Abschaffung der gelegentlich doch sehenswerten öffentlich-rechtlichen Sender, sondern eine Abmahnung. Auftraggeber sind die zahlenden Hörer und Zuschauer, die ein Recht haben, die Programmmacher auf ihren Auftrag zu verpflichten.

Sonst wandern Leser, Hörer und Zuschauer weiterhin ab, finden im Netz eine andere Öffentlichkeit. Es gibt immer Alternativen. Allerdings nicht nur auf Seiten der Vernunft. Rechtsdemagogen wissen Informationslücken zu nutzen. Dass medial manipulierte, entpolitisierte Menschen leichter zu bevormunden sind, könnte sich insofern als ein folgenschwerer Irrtum der herrschenden Eliten erweisen.

Auch deshalb verteidigen sich derzeit viele Medien und Institutionen mit Faktenchecks, bei denen man wiederum genau hinsehen muss. Denn es ist im Zweifelsfalle natürlich möglich, nur Belege für die eigene Sicht anzuführen. Demgegenüber gibt es Instrumente, wie nie zuvor: Abgeordneten Watch, Finanz Watch, Medien Watch. Ob Privatmedien, PR Agenturen und erst recht öffentlich rechtliche Anstalten, wer beim Lügen erwischt wird, könnte gesellschaftlich geächtet werden.

Schützenswert ist auch „das Recht auf nicht manipulierte Tatsacheninformation, ohne welche die ganze Meinungsfreiheit zu einem entsetzlichen Schwindel wird“. So Hannah Arendt in ihrem berühmten Essay Wahrheit und Lüge in der Politik, der hoffentlich an allen Journalistik-Schulen diskutiert wird. Denn ihre darin erhobene Forderung, Tatsachen und Meinungen seien streng voneinander zu unterscheiden, wird m.E. gern missverstanden. So als sei die Gefahr schon gebannt, wenn in einem Beitrag nur Fakten vermittelt würden und im anderen nur Meinungen. Das ist natürlich Unsinn, jedes journalistische Produkt würde verarmen, wenn nicht beides nebeneinander stünde. Meinungsstarke Kommentare und Essays brauchen Tatsachen, auf die sie sich beziehen können und selbst reine Nachrichtenformate, die Tatsachen melden, zitieren ständig Politiker oder Experten, die diese Fakten werten.

Der Wortstamm von Meinung ist mein, es geht um die subjektive Wertung einer Tatsache. Wenn es sich wirklich um eine wertende Meinung handelt, ist sie als solche leicht erkennbar, also hinreichend von einer Tatsache getrennt und kann daher getrost neben Fakten stehen. Viel problematischer ist die Vermischung von erwiesenen Tatsachen und unbewiesenen Tatsachen-Behauptungen. Also von Fakt und Fake. „Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist“, so Arendt. Und weiter: „In einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringt, ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber.“ Tatsachen wiederum seien nur durch Lügen zu erschüttern. Das bewusste Leugnen von Tatsachen ist für sie schon Lügen.

Nach diesem strengen Maßstab haben die Mainstream-Medien zu der Frage ob sie lügen, keine guten Karten. Deshalb erfordert die Pressefreiheit zwingend auch die Freiheit zur Kritik an den Medien. Zwar gibt es den Beruf des Theater-, Film- und Literaturkritikers, aber leider nicht den des Medienkritikers. Gemessen an den Nutzerzahlen, wäre dieser mindestens so wichtig. Aber wer soll ihn bezahlen? Mängel am eigenen Produkt zu offenbaren gehört in der Privatwirtschaft nicht zum Geschäftsmodell.

Also müssen sich die Bürger dazu selbst ermächtigen. Und wir sind dabei, das zu tun. Das ist mühsam, aber der einzige Weg: Alternative Vereinigungen und Medien – nicht zu verwechseln mit alternativen Fakten – müssen gegenhalten.
Desinformation widersprechen, scheitern, neuer Desinformation besser widersprechen.
So qualifiziert, dass diese Stimmen weder durch Diffamieren noch durch Ignorieren aus der Welt zu schaffen sind.

Gesinnungshatz gefährdet Soziale Bewegungen – zur Auseinandersetzung um Diether Dehm

Daniela Dahn

erschienen in Neues Deutschland – 22.12.2017

In der Debatte über Antisemitismus in Deutschland müssen journalistische Standards verteidigt werden. Eine Wortmeldung zur Auseinandersetzung um den LINKE-Politiker Diether Dehm

Ja, Antisemitismus ist eine deutsche Tradition. Die es mit der Shoa zu schauerlicher, deutscher Perfektion gebracht hat. Was schließlich die UNO zur Gründung des Staates Israel bewogen hat, auf einem Territorium, auf dem Palästinenser leben. Die von Mehrheiten getragene Hitlerei hat letztlich den ganzen Nahost-Konflikt befeuert, weshalb Zurückhaltung und Sensibilität für beide Seiten geboten wäre.

Doch Zurückhaltung wird hierzulande nur in einem verordnet: an der Kritik der israelischen Regierung. Und nicht nur hier, die schärfsten Angriffe erfahren die Kritiker aus der israelischen Linken, der Streit über Ursachen und Lösungen des Konfliktes geht quer durch das Judentum. Wem Antisemitismus schwerlich unterstellt werden kann, der pflegt eben seinen Selbsthass. Die Erfüllung des aus tiefstem Herzen kommenden Wunsches nach friedlichen Zusammenleben mit den Palästinensern würde ein Ende von Siedlung und Besatzung bedeuten, eine einvernehmliche Nutzung von Wasser und Land. Nicht ungestraft sagen zu dürfen, dass dies mit der jetzigen Regierung nichts wird, schwächt nicht nur die israelische Linke.

Die Schuldzuweisungen haben etwas von Teufelsaustreibung – wer am unnachgiebigsten austreibt, dessen Seele kann gerettet werden. Schließlich war der Antijudaismus vor allem eine christliche Tradition. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und darüber hinaus gebietet, gegenüber dem Antisemitismus konsequent und unduldsam zu sein. Wenn aber ebenfalls zunehmend unliebsame Oppositionelle in der Presse mit dieser existenzgefährdenden Schmähung abgeurteilt werden, ohne dass Beweise noch nötig sind, so müssen journalistische Standards verteidigt werden. Der mir bisher durch differenzierte Argumentation aufgefallene Jurist Christian Bommarius glaubt mit Hilfe eines einzigen, aus dem Kontext und der Entstehungssituation gerissenen und deshalb missverständlichen Satzes, den LINKEN-Politiker Diether Dehm des Antisemitismus überführt zu haben. Da dieses Beispiel den Verfall der Diskurskultur trefflich veranschaulicht, lohnt es, sich die Hintergründe näher anzusehen.

Bei einem derart schweren Vorwurf gehört es zur journalistischen Sorgfaltspflicht, Argumente nicht aus ein paar isolierten Wortfetzen herzuleiten, sondern die Gesamtpersönlichkeit im Auge zu haben. Es gilt die zum Handwerk gehörende Grundregel, beide Seiten anzuhören, insbesondere den Delinquenten vor der Hinrichtung. Schon ein Telefonat hätte genügt um zu verstehen, was und wer Dehm geprägt hat. Nämlich der zur Familie gehörenden Heinz Düx, der die Auschwitzermittlungen für Fritz Bauer geleitet hat. Seit dem 15. Lebensjahr war Dehm darum in der VVN aktiv, wurde von NPD-Schlägern krankenhausreif geprügelt, arbeitete u.a. mit Ignaz Bubis im »Römerbergbündnis« und war 1979 Mitbegründer von »Rock gegen Rechts«.

Humanistischen Ideale fanden ihren Ausdruck in seinen zahllosen, populär gewordenen Liedern. Bis heute versäumt Dehm keine Gelegenheit die Sängerin Esther Bejarano neben sich auf die Bühne zu holen – eine der letzten Überlebenden des KZ Auschwitz, die mit ihrer Kunst das Gedächtnis an die Ermordeten in berührender Weise wachhält. Sicher wäre es der Recherche zu viel verlangt, man hätte, um sich ein Urteil zu bilden, auch noch Dehms dicken Partisanen-Roman »Bella ciao« zur Kenntnis nehmen sollen – eine Geschichte von Liebe und Widerstand im Kampf gegen Hitler und Mussolini. Aber alle Bundestagsreden des langjährigen Europa-politischen Sprechers der Linksfraktion sind im Netz abrufbar. Auch die, in der sich der Abgeordnete im vorigen Jahr bei der griechischen Regierung im Namen seines Vaters für die Verbrechen der Wehrmacht entschuldigt hat und für manche rassistische Entgleisung in Teilen der hiesigen Presse.

Rechte Tendenzen dieses Politikers zu entdecken, war dem Parlament und der Öffentlichkeit bisher entgangen, aber der Jurist Bommarius hat sie nun dingfest gemacht. Vor Gericht werden die Umstände einer Tat berücksichtigt und es hätte zur journalistischen Fairness gehört einzuräumen, dass es sich bei diesem einen, inkriminierte Satz nicht um eine wohlüberlegte Passage etwa aus Dehms Dissertation handelt, sondern um eine spontane Reaktion in einer hochemotionalen Szene auf einer Bühne.

Was war geschehen? Ostermarsch 2009 in Kassel, der damals 74-jährige Schauspieler Rolf Becker beklagt vor ein paar hundert Demonstranten, dass die Friedensbewegung zu schwach war, die Kriege der letzten 10 Jahre zu verhindern. Er zitiert ein Antikriegsgedicht von Neruda und beschreibt die aus eigner Anschauung erlebten katastrophalen Folgen des Angriffskrieges der NATO in Jugoslawien und die Verwüstungen der seit Jahren anhaltenden Kriege in Afghanistan und im Irak. Viel Beifall. Schließlich schildert er seine Ratlosigkeit, wie dem Gaza-Krieg zu begegnen sei, angesichts jeglicher Gleichsetzung der Kritik der israelischen Regierung mit Antisemitismus. Er zitiert UN-Angaben über Opferzahlen auf beiden Seiten – mehr als das Hundertfache in Gaza – fordert, die laufenden Waffenlieferungen an Israel einzustellen.

Da lösen sich aus der Menge zwei Dutzend Gestalten, die US- und Israel-Flaggen hochreißen und im Sprechchor brüllen: Nazi, Nazi, Antisemit. Als Rolf Becker von Tränen am Weiterreden gehindert ist, springt Diether Dehm ihm zur Seite und versucht die Krakeeler zu belehren: »Der Antisemitismus wurde das, was er wirklich ist: Eine massenmordenden Bestie. Und deswegen dürfen wir nicht zulassen, dass man den Begriff des Antisemitismus für alles und jeden inflationiert.« Da der Tumult nicht aufhört, folgt aufgeregt der verkürzte Satz, der nun ein ganzes Lebensengagement in Frage stellen soll: »Antisemitismus ist Massenmord und muss dem Massenmord vorbehalten bleiben.« Womit in der konkreten Situation gemeint war, dieser schwerwiegende Vorwurf darf nicht auf die Forderung nach dem Stopp von Waffenlieferungen angewendet werden.

Doch mit absichtsvoller Mißinterpretation unterstellt Bommarius, Dehm würde erst aufwachen, wenn die Gasöfen angeworfen werden. In allem was davor passiere, etwa der womöglich erneute Zwang, einen Judenstern zu tragen, könne Dehm, offenbar unempfindsam für jüdisches Leid, keinen Antisemitismus erkennen, »selbst Konzentrationslager erregten in ihm keinen einschlägigen Verdacht«. Bis dahin laufe der Antisemitismus bei Dehm unter legitime »Israelkritik«.

Statt in dieses zynische Denunziantentum zu verfallen, hätte sich der Kommentator das Ostermarschvideo auf Youtube ansehen sollen, das keinen Zweifel an der Lauterkeit der dort agierenden Friedensaktivisten lässt. Gleich nach seinem Statement erklärt und singt Dehm die »Ballade von der ´Judenhure´ Marie Sanders« – Brechts Reaktion auf die Nürnberger Rassegesetzgebung.

Warum dieser verquere Dehm die Mächtigen tatsächlich seit Jahren nervt, wird gern verschwiegen. Weil er das organisierte Verbrechen der Banken thematisiert, insbesondere der Deutschen Bank, die, wie er nicht nachlässt zu erinnern, mit ihren Kreditverträgen das KZ Auschwitz finanziert hat. Gegen Banken, die den Steuerschutz von Milliardären organisieren, will er mit einer Volksinitiative zur Vermögenssteuer vorgehen. Banken anzugreifen gilt in unserer neurotisierten Öffentlichkeit schon als Code für Antisemitismus, was nur nachvollziehen kann, wer selbst trübste Vorurteile pflegt.

Diese ganze Gesinnungshatz ist zu einem existentiellen Problem für Soziale Bewegungen geworden. Die doch nach Bekundungen von Opposition und selbst Regierung ein unverzichtbar belebendes Korrektiv in der Demokratie sind. Aber wer traut sich überhaupt noch hinaus auf die Straße und auf die Rednerbühnen, wenn er befürchten muss, im Zeichen der political correctness anschließend öffentlich zerhackstückt zu werden? Solche Veranstaltungen sind nun mal kein akademisches Pro-seminar, auch wenn sie von den Besserwissern am Schreibtisch so beäugt werden. Da nimmt teil, wer will und sagt was er für richtig hält. Basisdemokratisch. Da muss man aushalten nicht zu wissen, was der nächste Redner genau sagen wird.

Was machen Zehntausend junge Friedensdemonstranten, wenn ein halbes Dutzend von ihnen nationalistische Töne anschlägt? Die Parteien legen ihnen nahe, nach Hause zu gehen und hinterm Ofen zu bleiben, andernfalls machten sie sich der »Querfront« schuldig. Werden da die Bühnen für Pegida und AfD geräumt? Offene Veranstaltungen sind gegen gelegentlich verwerflich Redende nicht zu schützen. Der Unsinn kann von ausnahmslos allen Seiten kommen, manchmal sogar von jüdischer. Was machen linke Veranstalter einer Kundgebung für Meinungsfreiheit, wenn unangemeldet eine Jüdin auf die Bühne will, wie am 14. Dezember Evelyn Hecht-Galinski in Berlin, und – oh Schreck – dort das Verbrennen israelischer Flaggen befürwortet? Der Vorredner hatte es eben noch verurteilt – was bleibt, als sich begründet und ruhig zu distanzieren und gelassen weiter zu machen?

Wo beginnt Toleranz und wo endet Meinungsfreiheit? Ein Lernprozess, den wir im durchaus faktischen Zeitalter alle nötig haben. Wer eine politisch septische Protestbewegung fordert, schafft den Protest ganz ab. Es geht nicht um die Verteidigung falscher Bündnisse, sondern ganz im Gegenteil um das Austragen von Differenzen auf offener Bühne. Das wird nur gelingen, wenn die Inhaber von Amts- und Deutungshoheit ihre Macht nicht missbrauchen, um Einzelne öffentlich auszupeitschen und damit alle einzuschüchtern.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1074245.antisemitismus-gesinnungshatz-gefaehrdet-soziale-bewegungen.html