Neopathetik Ulla Berkéwicz’ Essay ist, vorsichtig gesagt, eine kühne Übertretung all dessen, was Prosa bisher wagte
der Freitag | Ausgabe 40/2018
Die Autorin wäre nicht Ulla Berkéwicz, würde sie nicht eine ganz eigene Prosa kreieren: Mit ihrem Hexenbesen der Dekonstruktion fährt sie in überlieferte Weisheiten und mystische Texte. Sie hat keine Scheu, verborgene Zusammenhänge zwischen der vedischen Religion aus vorhinduistischer Zeit, der Mathematik und der jüdischen Weltsicht ans Kunstlicht zu holen. Auch hat sie wenig Respekt vor formaler Logik, insbesondere vor dem Axiom des ausgeschlossenen Dritten. Sie gibt Paradoxien ihren verdienten Stellenwert zurück und rehabilitiert spukende Gespenster, indem sie ihnen Zutritt zur Rationalität verschafft. Diese darf dann allerdings nicht in dreidimensionaler Vorstellung verharren, sondern muss sich öffnen für sieben und mehr Dimensionen. Mathematisches Denken wird als pathetisches Denken beschrieben, was erklären könnte, weshalb sich Musik letztlich auf Mathematik reduzieren lässt.
Wovon träumt ein Gójlem?
Berkéwicz bricht die Sätze auf, bis schroffe Kanten und Abgründe entstehen, schiebt die Zahlen- und Wortschollen ineinander und macht die Leser zu Zeugen, wie sie Geist, Chuzpe und Wissen zu Fugenfüller verarbeitet und so das Ganze zusammenhält. Ihre neu geschaffene literarische Realität gelangt derart Über die Schrift hinaus, ist aber weder ein Abheben ins akademische Fachsimpeln noch ins abgedreht Versponnene. Vielmehr bleiben alle Gedankenspiele dem irdischen und überirdischen Leben verpflichtet. Dieser essayistische Prosatext ist fast nebenbei auch ein eminent politisches Buch. So wird der vedische Dualismus von Gut und Böse zum Ausgangspunkt für die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno diskutierte Frage, weshalb die technologisch erzogenen Massen eine so rätselhafte Bereitschaft haben, „in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten“.
Angesichts des apokalyptischen Schreckens eines Atomkrieges wird an den Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, erinnert, der „die Anwendung großer Macht um niedriger Zwecke willen“ als Mangel an moralischer Urteilskraft geißelte. Die auch Voraussetzung für die Simonie ist, den Irrglauben, alles mit Geld und Bestechung erlangen zu können, selbst die Gaben Gottes.
Und es geht um die Sorge, die Digitalisierung würde autonome Maschinen und Waffen hervorbringen, die sich von ihren Schöpfern emanzipieren und selbst das Kommando zur Verwüstung übernehmen. So wie es nach der Legende um Rabbi Löw einst der léjmene Gójlem, die Urgestalt eines Roboters, versuchte. Er konnte nur gebändigt werden, als es dem Rabbi gelang, dem wild Gewordenen das Hirschpergament mit den geheimen vier Buchstaben, (also den Chip mit dem Code) aus der Stirn (der Schnittstelle) zu ziehen. Eine Mahnung, die Programmierung nie zu vergessen oder gar aus der Hand zu geben.
Auch nicht die des Kapitalismus, dessen Charakterisierung als gnadenlos sich durch das Buch zieht. Das Übel ist eben nicht erst der Neoliberalismus, den zu verwerfen längst Mainstream ist, sondern die Funktionslogik dieses Wirtschaftssystems von Anfang an, der „Kapitalismus als Religion“, der mit Bezug auf Walter Benjamin als auf die Zerstörung der Welt zielend beschrieben wird. Erlösung von der „Diktatur der Freiheit“ ist nicht in Sicht. Auch nicht von dem Wahn, den falschen Göttern zu folgen. Deshalb kreisen die Reflexionen immer wieder um die Kategorie des Erbarmens. Wo ist angesichts dieser Welt göttliches Erbarmen zu spüren – ist es richtig, aufgrund seines Ausbleibens auf den Tod Gottes zu schließen? Dafür spricht, dass die vermisste Barmherzigkeit nicht nur die Erlösung derer wäre, mit denen sich erbarmt würde, sondern auch die Erlösung des Erbarmers selbst.
Im zweiten Teil des Bandes plötzlich nicht nur totaler Kulissenwechsel, sondern auch der der Erzählperspektive. Die Hoffnung auf Erlösung verlagert sich von der desillusionierenden Reflexion auf ein Mysterienzauberspiel, einen Faschingsfeuersturm in einem Wiener Café oder auch sechs Ecken weiter, in Russland vielleicht.
Die Protagonisten treten heraus aus ihren Rahmen auf der Porträtantenwand, Friederike Mayröcker, der zuvor eingeführte geniale Mathematiker Grigori Perelmann, schließlich die russische Zarenfamilie, die Callas und viele Illustre mehr. „Lebensglück fetzt vorbei, die Schwanenfedern stieben“, wird Ingeborg Bachmann zitiert. Man erwartet, dass es 13 schlägt, und fortwährend blinkt der Judenstern an.
Für manche Leser wohl eine Szenerie, die in ihrer Aberwitzigkeit das Vorherige noch toppt, aber da gerät man an die Geschmacksache. So fantastisch und surreal diese Posse auch ist, so findet sie doch ihre Grenzen, wenn authentischen Personen existentialistische Dialoge aus dem absurden Theater in den Mund gelegt werden. Diese wollen, können und dürfen die intellektuelle Dichte des ersten Teils nicht erreichen.
Dieses Buch ist alles in allem eine fantastische Übertretung dessen, was Prosa bisher wagte, eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Wer auf eine Vertonung dieses poetischen Textes neugierig ist, dem sei das von der Schauspielerin Ulla Berkéwicz gelesene Hörbuch empfohlen, in dem sie der Autorin Ulla Berkéwicz mit warmdunkler Stimme noch ganz eigene Akzente hinzufügt.
Man kann gar nicht so viel Zeitung lesen, wie man sich empören möchte. Ist der Aggressionskrieg des NATO-Partners Türkei gegen die, auf syrischem Boden bis unlängst wacker gegen den IS kämpfenden, Kurden etwa mit der gebotenen Schärfe analysiert und verurteilt worden? Die meisten etablierten Blätter und Sender machen den Eiertanz der Politiker mit. Auf FAZ online hat ein Volontär immerhin die richtigen Fragen zum Völkerrecht gestellt. Doch schon vorgestern war das Vorrücken der türkischen Panzer, die eigentlich deutsche sind, der Tagesschau nur noch 25 Sekunden wert, zwischen Vergewaltigungsvorwürfen, die 35 Jahre zurück liegen und geklonten Affen. Einzig die Sicht Erdogan wurde vermittelt. In Davos wird die Freude der Mächtigen zum in aller Stille ausgehandelten Transpazifischen Handelsabkommen von Journalisten nicht mit lästigen Fragen nach privaten Schiedsgerichten oder Arbeits- und Umweltstandards getrübt.
So viel Misstrauen gegenüber den Medien wie jetzt, gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Noch nie haben sich so viele Zuschauer und Leser mit kritisch-analytischen Studien und Büchern über die Mängel der Mainstream-Medien beschäftigt. Selbst Kanzlerin Merkel hat sich voriges Jahr auf der CDU-„Media-Night“ besorgt über den Glaubwürdigkeitsverlust geäußert. Es müsse uns alle unruhig stimmen, dass 60 Prozent der Bürger „wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien“ hätten.
Noch nie war das Selbstverständnis des vermeintlichen Qualitätsjournalismus so in Frage gestellt.
Gleichzeitig ist der Grundkonflikt der alte. Auf dem rechtspolitischen Kongress der SPD vor über vierzig Jahren sagte der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, es gäbe keine akzeptablen Vorschläge, wie die Pressefreiheit unter der Dominanz von Privateigentum zu sichern sei. Er beschrieb die Schwierigkeiten, Machtbegrenzung und Freiheitssicherung im Medienbereich zu verwirklichen. Die privatrechtliche Organisation der Medien führe zu einer „Kumulation von wirtschaftlicher Macht und Kommunikationsmacht“, da der Zugang zum Meinungsmarkt von „Kapitaleinsätzen ganz erheblichen Ausmaßes“ abhänge.
Selbst die unerfüllte Forderung nach innerer Pressefreiheit sei nur eine Verlagerung des Problems, denn über die Anstellung politisch anders orientierter Redakteure befindet allein der Verleger oder Konzern, in dessen Eigentum sich die Redaktion befindet. Auch die Machtpositionen der Intendanten und Programmdirektoren in den öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten unterlägen keiner wirklich demokratischen Kontrolle.
Der Spiegel zitierte 1988 aus einem Brief von Edmund Stoiber an Josef Strauß: „Unsere Politik war immer darauf gerichtet, eine Anbindung von RTL an das konservative Lager zu sichern, bzw. ein Abgleiten nach links zu verhindern.“
Eigentlich wissen sie es alle: In seiner Amtszeit besuchte der damalige CDU-Bundespräsident Horst Köhler den Presserat und zitierte zur allgemeinen Überraschung Karl Marx: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“. „Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu“, hatte Marx in der Rheinischen Zeitung ergänzt. Doch die Freiheit des Gewerbes hat gesiegt, Medien sind Kommerz.
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sollten eigentlich von Gewinn-Überlegungen frei sein, aber davon ist wenig zu merken. Der damalige ZDF-Intendant Dieter Stolte sagte in der Berliner Zeitung vom 29.9.1992 den erbarmungslosen Konkurrenzkampf aller öffentlichen und privaten Sender voraus. Es käme nun darauf an, „den anderen mit jedem Mittel aus dem Markt zu drängen. Damit steht das Medium vor einem fundamentalen Wandel. Es wird nicht mehr von Aspekten der sozialen Kommunikation der Menschen bestimmt, sondern von Gewinngesichtspunkten“, so Stolte.
Die Moderation des sogenannten Kanzler-Duells hat demonstriert, dass sich die Fragen und Themen von ARD und ZDF den Privatsendern vollkommen angepasst haben. Da gibt es zweifellos Ausnahmen, besonders auf 3sat, Arte und Phoenix. Aber die Nachrichten- und Informationssendungen – Kerngeschäft jeden Senders- müssen sich schon fragen lassen, wie öffentlich und rechtlich sie eigentlich sind. Entsprechen sie noch den Anforderungen der Kommunikationsfreiheit und der im Rundfunkstaatsvertrag festgehaltenen Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne?
Wer diese Fragen von Vornherein als rein rhetorisch oder gar polemisch abtut, sei an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. März 2014 erinnert. Darin wurde der ZDF-Staatsvertrag wegen des überproportionalen staatlichen Einflusses in den Aufsichtsorganen als verfassungswidrig erklärt. Die staatsnahen Vertreter im Fernseh- und Verwaltungsrat sollten auf ein Drittel begrenzt werden. Ob die anderen zwei Drittel in der Praxis nun tatsächlich unabhängig sind, sei dahingestellt.
Kleinlaut und viertelherzig räumen die Sender einzelne Fehler ein, im Großen und Ganzen aber sei alles in Ordnung. Zur Selbstgerechtigkeit der Groß-Medien gehört ihr Versuch, Kritik an ihnen vornehmlich rechts zu verorten, bei Pegida, AfD und anderen dubiosen Kräften. Statt Einsicht, Diffamierung der Kritiker. Es ist geboten, nach dem Missbrauch des viel älteren Begriffs Lügenpresse durch die Nazis, damit bedachtsam umzugehen. Aber Kritiker von Medien, die einseitig berichten, verzerren oder wirklich lügen, dürfen nicht automatisch nach Rechts- oder Linksaußen abgeschoben werden. Eine allzu bequeme Methode, den Mainstream unangreifbar zu machen.
Selbst der Evangelische Pressedienst (epd-Medien) hat die Gremienaufsicht der Sender längst für reformbedürftig erklärt. Er empfahl konsequente Politikerferne, mehr Transparenz in der Gremienarbeit, mehr externen Sachverstand und vor allem eine kontinuierliche Programmevaluierung durch die Zivilgesellschaft, z.B. durch Zuschauer oder Media-Watch Organisationen.
Pressefreiheit müsste längst vor allem Fernsehfreiheit sein, denn die meisten Menschen bilden sich ihr Weltbild durch das Fernsehen. Man kann es nur als Absicht werten, wenn ein Unterschichtenfernsehen dominiert, das die von Kant beklagte, selbstverschuldete Unmündigkeit fortschreibt. Die sogenannten öffentlich-rechtlichen Sender beugen sich in den Hauptsendezeiten aus Marktzwängen und politischem Opportunismus den in der Übermacht befindlichen Privatsendern. Vorwiegend seichte Unterhaltung, politisches Fastfood, blutrünstige Krimis und Thriller zerstreuen das Volk. „Wir leben im Zeitalter der medialen Massenverblödung“, befand Peter Scholl-Latour.
Erfolg verspricht man sich von angeblich Quote bringender Verflachung, nicht von investigativem Journalismus. Meistens dürfen Journalisten ihr Jagdfieber nur an Enthüllungsgeschichten abarbeiten, die die Verworfenheit von Personen, nicht die Verwerflichkeit von gesellschaftlichen Strukturen, von unbekannten Kausalitäten, bloßlegen.
Investigativen Journalismus gibt es fast nur noch im Kabarett. Was das Aufdecken von Interessen und Zusammenhängen betrifft, speziell bei der „Anstalt“. Sei es, weil die Sender das dort Kritisierte unter Ulk verbuchen können oder weil Satire noch schwerer zu zensieren ist. Oder sind Kabarettisten einfach außerhalb redaktioneller Disziplinierungsmechanismen, sind sie mutiger, denken sie konsequenter? Dass auch sie gefährlich leben zeigt, dass die „Anstalt“ schon verklagt war. Sie erhöht ihre Subversivität noch durch ausführliche Hintergrundinformationen auf ihrer Website, durch Quellenangaben, mit denen sie sich auch absichert.
Was das über eine Gesellschaft sagt, ist noch nicht zu Ende gedacht. Hat die politische Klasse überhaupt ein Interesse an wissenden, selbstbestimmten, mündigen Bürgern? Zwar überraschen einen gelegentlich auf der Mitternachtsschiene politische Magazine oder Reportagen mit aufklärenden Beiträgen von Redakteuren, die nicht aufgegeben haben. Aber sie sind zu marginal, um Oskar Negts These von der „unterschlagenen Wirklichkeit“ zu widerlegen. Die Angst der unbequemen Journalisten vor dem Elfmeter in der Redaktionssitzung kommt hinzu. Nur wenige Autoren haben den Mut, die Vorgaben von Chefredakteuren und Ressortleitern, öffentlich zu beschreiben. Etwa, was sie recherchieren dürfen und was nicht. Harald Schumann im Medienmagazin vom November 2010 über seinen Weggang vom Spiegel: „Ich durfte seit 1999 zu allen Themen der politischen Ökonomie de facto nicht schreiben – zu kritisch, zu links, nicht angepasst genug … das wurde nicht begründet, sondern ich bekam einfach, wenn ich Themen vorschlug, die Aufträge nicht. Dann konnte ich gar nicht erst anfangen.“
Eine Mitgliederbefragung der IG Medien unter Zeitungsjournalisten hat schon vor 15 Jahren ergeben, dass sich drei Viertel der Redakteure Eingriffen von Verlegern und Chefredakteuren ausgesetzt sehen, weit über die Hälfte außerdem aggressiver Einflussnahmen durch Inserenten, Verbände und Politiker. Leider schreiben diese drei Viertel keine Artikel darüber, wie das genau funktioniert. Kein Wunder, angesichts exzessiver Sparpläne, Entlassungen und Redaktionsschließungen ist Selbstgleichschaltung angesagt. Man muss die tiefe Abhängigkeit von Intellektuellen und Künstlern von den sie beschäftigenden Industrien immer mitdenken. Profiliert haben sich die Journalisten, die problemlos auch zu Regierungssprechern werden können.
Wer kapituliert und meint, wir seien endgültig im Postfaktischen angekommen, verkennt wohl, dass genau diese Ratlosigkeit ein Herrschaftskonstrukt ist, mit dem man sich vor belastenden Tatsachen schützen will. Es soll nur noch auf die „gefühlte Wahrheit“ ankommen. Allein für das Pentagon arbeiten 27.000 PR-Spezialisten mit einem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar. Sie beeinflussen Agenturen mit gezielten Nachrichten, Fernsehspots und Rundfunkinterviews. Man erinnere sich nur an die von Whistleblower Daniel Ellsberg 1971 der Presse übergebenen Pentagon-Papiere, die das ganze Ausmaß an Desinformation offenbarten. Während eigenes Handeln und das der Verbündeten in weichzeichnendes Licht gerückt wird, werden auf der Gegenseite Feindbilder durch Lügen geschärft.
Russland ist gefährlicher Weise zum Lieblingsfeind erkoren worden. Als Gegengewicht gegen russisches Fernsehen sendet seit einem Jahr der vom US-Kongress finanzierte, russischsprachige Kanal Nastojaschee Wremja – Current Time. Dafür wurde Radio Free Europe wiederbelebt, das von Großindustriellen mitbegründete und CIA-gesteuerte Propagandaorgan des Kalten Krieges. Mehr als hundert Reporter berichten 24 Stunden am Tag für das gesamte Gebiet der einstigen Sowjetunion. Die Deutungshoheit über die Meinung von Mehrheiten ist im digitalen Zeitalter die wichtigste Waffe geworden. Hier findet die eigentliche Aufrüstung statt, auch wenn die herkömmliche sich wahrlich nicht lumpen lässt.
Ich beschränke mich auf ein bezeichnendes Beispiel, in dem die Medien nicht nur den russischen Gegner verzerren, sondern auch in Amnesie über die eigene Rolle verfallen sind – was meist zusammen gehört.
Der unbewiesene Vorwurf, Trump sei durch russische Einmischung in die Wahl an die Macht gekommen, bleibt fatal. Falls dieser Präsident je die Absicht hatte, das Verhältnis zu Russland zu entspannen, ist ihm das gründlich ausgetrieben worden. Jeder Versuch würde als Beweis dafür gewertet werden, wie abhängig ihn der den Russen geschuldete Dank macht. Dabei lohnt es, sich zu erinnern, worin genau die Wahlbeeinflussung bestanden haben soll.
Im August 2016 erklärte der Trump-Vertraute Roger Stone, er stehe mit Juliane Assange in Kontakt. Vier Wochen vor der Wahl hatte dieser dann brisante Wikileaks-Enthüllungen angekündigt. Sofort behauptete Hillary Clintons Wahlkampfleiter John Podesta: Wikileaks sei der Propaganda-Arm der russischen Regierung. Assange war bis dahin schon manches vorgeworfen worden, das war neu. Die Süddeutsche räumte ein, dass sich der Vorwurf bisher nicht beweisen ließe. Später behauptete die CIA Beweise zu haben, die sie aber aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich machen könne. So kann man unumschränkt alles behaupten. Übrigens ohne mit der Propaganda-Keule „Verschwörungstheorie“ traktiert zu werden.
Heute scheint keiner der sogenannten „Qualitäts-Journalisten“ mehr daran zu zweifeln, dass russische Hacker am Werk waren. Was ja nicht auszuschließen ist, aber auch weitergehende Fragen werden nicht gestellt. Es ging um Mails der Demokraten zu ihrer Taktik im Wahlkampf, speziell zur Abdrängung von Bernie Sanders. Wahlfälschung durch Veröffentlichung der Wahrheit? Weil es nur auf einer Seite geschehen ist? Vielleicht. Doch wann sind Hacker eigentlich Whistleblower, die öffentlich machen, was Wähler wissen sollten? Hatte nicht das Oberste Gericht der USA zu Ellsbergs Pentagon-Papieren damals gesagt, dass das Geheimhaltungsinteresse des Staates hinter den Interessen der Öffentlichkeit und der Meinungsfreiheit im Zweifelsfall zurückstecken muss? Insofern wäre es doch egal, wer die Hacker waren, wenn klar ist, dass die Papiere echt sind. Interessant ist deren Botschaft, nicht der Bote. Aber das ist nicht die Logik von Propaganda. Die schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe – vom Inhalt ablenken durch Denunziation des Boten, und zwar des gewünschten.
So kommt in der deutschen Presse die ganze Geschichte von Craig Murray, dem ungewünschten Boten, der einst britischer Botschafter in Usbekistan war, gar nicht vor. Gegenüber der Daily Mail hat Murray bekannt, er selbst habe die Email-Daten von einem Mitarbeiter der Clinton-Administration bekommen, der frustriert war über die Korruption in der Clinton-Stiftung und die Wahlbeeinflussung durch die Intrigen gegen Bernie Sanders. Diese Daten des Insider-Whistleblowers habe Murray an seinen Vertrauten Assange weiter gegeben. http://www.dailymail.co.uk/news/article-4034038/Ex-British-ambassador-WikiLeaks-operative-claims-Russia-did-NOT-provide-Clinton-emails-handed-D-C-park-intermediary-disgusted-Democratic-insiders.html Wie gern skandalisieren die Medien sonst solche sich selbst bezichtigen Zeugen. Im englischsprachigen Raum ist dies auch am Rande geschehen, bis hin zur Washington Times: Waren es doch nicht die Russen? Aber in bestimmten Fällen verzichten deutsche Leitmedien zugunsten des politischen Opportunismus sogar auf Quoten. Wo kämen sie hin, müssten sie Craig Murray zitieren: „Das Schlimmste an all dem ist, dass es den Konflikt mit Russland verschärft. Das bringt für alle Gefahren – nur nicht für die Rüstungsindustrie und natürlich das größere Budget für die CIA.“ https://www.craigmurray.org.uk/archives/2016/12/cias-absence-conviction/
Ebenso wird inzwischen konsequent vermieden daran zu erinnern, was Hillary Clinton später als den Hauptgrund ihrer Niederlage bezeichnet hat. Dass nämlich der republikanische FBI-Chef Comey zwei Wochen vor der Wahl verkündet hat, dass die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Hillary Clinton wegen neuer Funde auf ihrem privaten E-Mail-Server wieder aufgenommen würden. Erst nach der Wahl stellten sich die Funde als belanglos heraus. „Wie das FBI Wahlkampf macht“, titelte der Tagesspiegel damals. Nach heutiger Erinnerung hat nur einer Wahlkampf gemacht – Putin.
Das nicht zufällig kurze Gedächtnis der Medien hat überdies längst in Vergessenheit geraten lassen, dass die Russen allen Grund hätten, den Amis eine schicksalhafte Wahlbeeinflussung in Moskau heimzuzahlen. Denn die Amerikaner hatten 1996 Boris Jelzins Wahlfeldzug organisiert. Sie hatten alles Interesse daran, dass der Mann wiedergewählt würde, der mit der Schocktherapie des Washington Consensus, also Privatisierung und Deregulierung, die Wirtschaft des Kontrahenten ruinieren und eigene Interessen berücksichtigen würde.
Als Jelzins Popularität auf fünf Prozent abgesunken war, zogen US-Experten ins Moskauer Hotel „President“. Zu diesem Team gehörten Bill Clintons Wahlhelfer Richard Dresner und der PR-Mann Steven Moore. Diese rieten zu einer Diffamierungskampagne gegen den kommunistischen Gegenkandidaten Sjuganow, u.a. durch „Wahrheitsschwadronen“, die ihn auf seinen Veranstaltungen mit (damals noch nicht so genannten) Fake News aus der Fassung bringen sollten. Jelzin willigte ein, als zentrale Botschaft die Gefahr eines Bürgerkrieges zu beschwören, falls die kommunistische Mangelwirtschaft wiederkehre.
Bis dahin hatten die Staatsmedien Jelzin wegen seines Tschetschenien-Krieges verdammt – wie von Zauberhand brachten die großen Fernsehsender in der Woche vor der Stichwahl 158 kritische Beiträge zu Sjuganow und 114 positive zu Jelzin. Für Jelzins Wahlkampf waren 100 Millionen Dollar von privaten Sponsoren eingegangen.
Diese Darstellung kann zum Glück nicht als Verschwörungstheorie abgetan werden. Nach Jelzins Sieg schilderte das US-Magazin Time am 15.7.1996 wie hier wiedergegeben detailgenau, dass man sich massiv in Russlands innere Angelegenheiten eingemischt hatte: Verdeckte Manipulation führt zum Erfolg, hieß es dort. Man konnte auch noch Meinungsfreiheit demonstrieren, Kritik an solchen Machenschaften war nicht zu erwarten. Auch der Spiegel widmete dem Vorgang einen kurzen Beitrag, der keine Empörung hervor rief.
Dank Jelzins zügelloser Privatisierungspolitik wurde eine Kaste russischer Oligarchen mächtig. In der Amtszeit dieses protegierten Präsidenten halbierte sich das Nationaleinkommen, bis Russland 1998 zahlungsunfähig war. Jelzin, der in den Mehrheitsmedien gern als der einzige russische Demokrat stilisiert wird, war für Russland ähnlich zerstörerisch, wie Trump für die USA.
„Es wäre naiv anzunehmen, Indoktrination vertrage sich nicht mit Demokratie. Sie ist vielmehr ein Wesenszug der Demokratie“, beharrt Noam Chomsky und verweist auf die Fabrikation eines Konsenses durch herrschaftsgerechte Propaganda.
Nehmen wir als weiteres Beispiel für das Ausblenden wichtiger Fakten die nicht so im Focus stehende, aber nicht weniger einseitige Berichterstattung über Venezuela. Ich erlaube mir, hier etwas ausführlicher zu sein, um das ganze Ausmaß an Desinformation bewusst zu machen. Die Süddeutsche Zeitung meldete vor zwei Tagen, die verfassungsgebende Versammlung, die von Präsident Maduro selbst eingesetzt wurde, um das Parlament zu entmachten und die nur aus regierungstreuen Anhängern bestünde, habe Neuwahlen angekündigt. Maduro, der wieder kandidiere, helfe ein vorgezogener Wahltermin, da die Wirtschaftskrise immer schlimmer werde. Ob nicht in einer schweren Krise eine vorgezogene Wahl vielmehr eine legitime, wenn auch für die Regierung riskante Lösung ist, sei dahingestellt. Das Narrativ, wie man heute bedeutungsvoll sagt, ist klar: Diktator Maduro oder Parlamentarische Demokratie, Misswirtschaft der regierenden, sozialistischen Partei oder Wohlstand bringende Opposition, Gewalt oder Rechtsstaatlichkeit. Verkürzt dürfte das auch der Informationsstand der Mehrheit im Saal sein; wer hat schon Zeit, auf alternativen Portalen wie amerika21 zu erfahren, worum es wirklich geht.
Nämlich darum, dass die wohlhabende Klasse in Venezuela die Reformen von Chávez zugunsten der Armen nie akzeptiert hat. Es geht also um Verteilungsfragen, um die sozialpolitische Verfügung über die Einnahmen aus den reichen Ölvorkommen, um den bei erneuter Privatisierung zu befürchtenden Rückfall in die jahrhundertealte Marginalisierung der Unterschichten. Doch derartige Hintergründe sind in der Berichterstattung nicht vorgesehen. Oder nur einmalig an versteckter Stelle, so dass die Redaktion abgesichert ist.
Dass der im Westen verhasste Chávez-Nachfolger Maduro den „Wirtschaftskrieg des Unternehmerlagers“ für die schwere Versorgungskrise verantwortlich macht, da sie u.a. Tonnen von Lebensmitteln zerstört hätten, erfahren wir nicht. Zweifellos ist diese Lesart auch nur die halbe Wahrheit, aber bei den Halbwahrheiten der Opposition ist die Berichterstattung weniger zimperlich. Boykotte, Gewalt, Korruption und Verfassungsbruch finden sich leider auf beiden Seiten. Der einstige Vizepräsident Venezuelas, José Vicente Rangel, beschreibt es so: „Die Hauptverantwortung trägt die Führung der Opposition wegen ihrer Besessenheit, mit dem Chávismus Schluss zu machen, den Dialog zu verweigern, die Gewalt auf unverantwortliche Weise zu schüren. Aber ich gebe zu, dass es seitens des Chávismus Exzesse, Arroganz und falsche politische und ökonomische Maßnahmen gegeben hat.“
https://amerika21.de/dossier/venezuela-krise
Die Folge ist, dass die rechtspopulistische Mehrheit im Parlament die Regierung nicht nur nicht anerkennt, sondern zu deren Sturz aufruft. Weshalb die Regierung diese Opposition nicht anerkennt. Das von der westlichen Propaganda unterstützte Parlament hat drei Abgeordnete vereidigen lassen, denen Wahlbetrug nachgewiesen wurde. Woraufhin das Oberste Gericht Venezuelas entschieden hat, dass die Entscheidungen des Parlaments ungültig sind, solange diese Abgeordneten nicht abgezogen werden. Daraufhin hat wiederum die Parlamentsmehrheit das Oberste Gericht für illegal erklärt und das Gerichtsgebäude wurde in Brandt gesteckt. Wie zuvor schon eine Geburtsklinik und Kindergärten. Hat man davon in unseren öffentlich-rechtlichen Nachrichten je gehört?
Derzeit repräsentiert offenbar weder die Regierung noch die Opposition die Mehrheit der Venezolaner. Wie fast alle westlichen Regierungen unterstützt die deutsche dennoch die Opposition – Angela Merkel hat ihre Vertreter als Staatsgäste empfangen und sich, wie wenig späte die EU, den Trumpschen Sanktionen gegen die sozialistische Regierung angeschlossen. Regierungen dürfen parteiisch sein, sollten ihren Wählern aber Propaganda-Erklärungen ersparen.
Die Medien dürfen nicht parteiisch sein. Sie müssten über alle Seiten objektiv berichten. Wir aber bekommen gar nicht mit, dass hier wieder ein Propagandakrieg läuft, dass der Zug unserer Geschichte nur auf einem Gleis fährt. Auch die Tagesschau hat sich wie immer auf die prowestliche Regierungsseite geschlagen. Obwohl die Sendesekunden knapp sind und ausschließlich neuen Informationen vorbehalten sein sollten, wiederholte sie Tag für Tag: Die Opposition fürchtet, Präsident Maduro werde eine Diktatur errichten. Immer wieder, bis es auch der letzte Zuschauer verinnerlicht hat.
Was Sozialisten fürchten, dass nämlich die rechte Oligarchie die Überbleibsel der Chávez-Revolution zerstören könne, hat uns nicht zu interessieren. Warum erfahren wir nicht was nur Reuters meldete, dass nämlich der Präsident, der angeblich die Verfassung zu seinen Gunsten umschreiben lassen will, ein Referendum über die neue Verfassung angekündigt hat? Das wäre dann immerhin eine Diktatur, über die das Volk das letzte Wort hat. Falls es nicht stimmt, warum fordert niemand zur Befriedung ein solches Referendum?
Stimmt es, wie ein offensichtlich sachkundiger Kommentator auf tagesschau.de schreibt, dass es für die Verfassungsgebende Versammlung immerhin 6000 Kandidaten gab, von denen jede und jeder mindestens 1200 Unterschriften vorweisen musste, um antreten zu können? Dann wären bis zu 72.000 Venezueler direkt in die Auswahl der Kandidaten einbezogen gewesen, nicht nur Maduro persönlich, wie in der Berichterstattung unterstellt wird. Vielleicht schaffen die Korrespondenten es nicht, solche Angaben zu überprüfen. Vielleicht haben sie auch nicht den Auftrag. Das Ergebnis könnte nicht recht ins Diktaturbild passen.
Auch alles, was nicht dem Bild einer einzig für Demokratie stehenden Opposition zuträglich ist, wird wegzensiert. Held der Berichterstattung ist Oppositionsführer Leopoldo López. Natürlich musste letzten Sommer über seine erneute Verhaftung berichtet werden. Dass er kurz darauf offenbar wieder in den Hausarrest entlassen wurde, ist kaum herauszukriegen. Und es wäre kein Nachteil, wenn man zusätzlich wüsste, dass der einstige Harvard-Student schon 2002 den Putschversuch gegen den mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Hugo Chávez unterstützte, der nur durch den Widerstand der aufgebrachten Menge verhindert wurde. Auch war unser Held, der sich gern als „Opfer eines Unrechtsstaates“ bezeichnet, schon mal an der Entführung eines gewählten Ministers beteiligt. Unlängst soll er seinem Freund Trump eine Liste mit zu sanktionierenden Chávisten gegeben haben. Nicht uninteressant wäre doch auch, dass die von Kanzlerin Merkel geforderte Ausreisegenehmigung für seine Frau deshalb ausgesetzt ist, weil ein Gericht prüft, was es mit den 200 Millionen Bolivares (etwa 100 000 Euro) auf sich hat, die in ihrem Auto entdeckt wurden. Das Ergebnis wurde nicht vermeldet. https://amerika21.de/2017/09/184263/oppositionspolitiker-venezuela-europa
All das würde zwar Maduros Verstöße gegen Pressefreiheit nicht verständlicher machen, wohl aber die Nervosität im Regierungslager. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen seien über 100 Menschen umgekommen, heißt es in unserer Berichterstattung immer wieder ganz neutral. Diese Opfer lastet man im Kontext der versimpelten Erzählung automatisch dem Diktator an. Denn von der Lynchjustiz der Opposition weiß man nichts. Etwa, dass der Anwalt José Félix Pineda, der für die verfassunggebende Versammlung kandidierte, von oppositionellen Angreifern in seinem Haus erschossen wurde. Will man sich über die paramilitärischen Gruppen dieser Opposition informieren, über ihre Waffen und Ku Klux Klan-Methoden, mit denen sie einzelne, mutmaßliche Regierungsanhänger bei lebendigem Leibe angezündet haben, so muss man schon lateinamerikanische Quellen bemühen. Auf Videos sieht man dort die brennenden Menschenfackeln. https://red58.org/cr%C3%ADmenes-de-odio-derecha-venezolana-quema-viva-a-personas-en-sus-protestas-923cfc58012c
Unterschlagen werden die Pläne des Rechtspopulisten Juan Requesens, der aus den Zielen seiner oppositionellen Partei „Primero Justicia“ kein Geheimnis macht: ein Klima der Unregierbarkeit schaffen, Venezuela lahmlegen, ausländische Interventionen befürworten und einer verfassunggebenden Versammlung einen „heftigen Krieg“ liefern. https://www.heise.de/tp/news/Stunde-Null-Opposition-in-Venezuela-setzt-zum-Showdown-an-3774926.html
Dazu passte, dass der Hersteller der Wahlautomaten, die Londoner Firma Smartmatic, ohne die Wahlbehörde konsultiert zu haben, sofort und „ohne jeden Zweifel“, aber auch ohne jede Beweisführung in einer Presseerklärung bekannt gab, dass die Wahl der Kandidaten für die verfassunggebende Versammlung gefälscht wurde. Die Tagesschau hat dies gern aufgegriffen. Für die Hintermänner ihrer Quelle interessiert sie sich nicht. Etwa für den Vorstandsvorsitzenden von Smartmatic, Mark Malloch-Brown, der auch im Vorstand der Open-Society-Stiftung des US-Milliardärs George Soros sitzt. https://amerika21.de/2017/08/181945/venezuela-wahlbetrug-smartmati
die sich offen zu der Strategie bekennt, die Wahlen der zu stürzenden Regierung medienwirksam als gefälscht darzustellen. Malloch-Brown ist auch Vorsitzender der „International Crisis Group“, in der Vertreter der USA, der EU, Kanadas, Mexikos, Perus und Kolumbien der Opposition in Venezuela „mit Rat und technischer Unterstützung“ zur Seite stehen. Ein Rat dürfte darin bestanden haben, die Opposition davon zu überzeugen, das von der Verfassung festgelegte Überprüfen des Wahlergebnisses zu boykottieren.
Wenn die größte Erdölgesellschaft Lateinamerikas, der Staatsbetrieb Petróleos de Venezuela, eine Kooperation mit Russland und China ankündigt, dann erhebt das der einstige Chef der US-Ölgesellschaft Exxon Mobile und jetzige Außenminister Rex Tillerson zum Problem der „nationalen Sicherheit“. Die Destabilisierungsversuche der CIA in Venezuela sind unter Kennern der Materie kein Tabu, ganz sicher aber in der Tagesschau. Ein Zuschauer belegt auf Tagesschau.de ein Zitat von CIA-Direktor Michael Pompeo: die USA habe großes Interesse sicherzustellen, dass ein wirtschaftlich so fähiges Land wie Venezuela stabil sei. Mit anderen Worten: nicht unter der Kontrolle von Sozialsten. „Wir arbeiten deshalb hart daran.“ https://twitter.com/SMoncada_VEN/status/889470951934611457
So hart, dass der Rat der Wahlexperten Lateinamerikas nicht gehört wird: Das Ergebnis der Wahl zur verfassungsgebende Versammlung sei „wahr und vertrauenswürdig“, es sei das gleiche System angewandt worden wie 2015, als die Opposition gewann. So hart, dass nicht nur in der Tagesschau ständig wiederholt wurde, dass sieben Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten das Wahlergebnis nicht anerkennen. Die logische Folge daraus aber, dass nämlich die übrigen 28 Mitglieder sie anerkennen, wurde unterschlagen. Wenn Trump dann jenseits jeder Rationalität Venezuela mit Krieg droht, fragt kaum noch jemand: Was hat er dort zu suchen? Was will er mitbringen? Selbstbestimmungs- oder Völkerrecht offensichtlich nicht.
Vergangenen Herbst hat der angeblich diktaturversessene Verfassungskonvent ein Dekret über einen „nationalen Dialog zur Stabilisierung der Wirtschaft“ verabschiedet. Über ein Wirtschaftsmodell, das die Abhängigkeit vom Erdöl weitgehend überwindet, sollen sich gemeinsam Gedanken machen Unternehmen und Wirtschaftsvertreter, wie auch Arbeiter und Kommunale Räte. (Chávez war ein Anhänger des russischen Adligen und Verfechters der Rätedemokratie Kropotkin und hat mit seiner fortschrittlichen Verfassung vom März 2000 dafür erste Strukturen eingeführt.) Von dieser Aufforderung des Verfassungskonvents „an alle, das Land aufzubauen“, hat man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nichts gehört. Propaganda erkennt man auch daran, dass über die zum Gegner Erkorenen grundsätzlich nichts Positives berichtet wird.
Viele Zuschauer sehen sich von der Tagesschau und anderen Leitmedien nicht hinreichend mit unabhängigen und zweifelsfrei recherchierten Informationen versorgt, um sich zum Weltgeschehen eine eigene, begründete Meinung bilden zu können. Das ist das eigentliche Dilemma. Es wird ein selektives Angebot von Symptomen serviert, das unerwünschte kausale Zusammenhänge weitgehend ausspart. Und das entgeht den Bürgern nicht, die den Mainstream-Medien nicht mehr trauen.
Nach einer Untersuchung der Universität Mainz von Ende 2016 sind drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die Medien zumindest teilweise über Unerwünschtes nicht berichten. Doch löst dieser Befund die Unruhe aus, die die Kanzlerin angeblich erwartet? Sind staatlich finanzierte Studien zu dieser Demokratie gefährdenden Situation in Auftrag gegeben? Ist externer Sachverstand, wie von der epd gefordert, vielleicht unnötig, weil die diensthabenden Journalisten selbstkritisch mit der Situation umgehen? Weit gefehlt.
Die Programm-Redakteure würden sicher auch lieber über brisante Hintergründe berichten, als die ewig gleichen Klischees zu wiederholen. Doch nur wenn sie – vielleicht sogar unbewusst – eben diese Klischees bedienen, können sie zu Recht davon ausgehen, im Sinne ihrer Auftraggeber alles richtig gemacht zu haben. Das Leugnen von Fehlern ist Unterwürfigkeit. Was die Macht erwartet, ist für die eigene Entwicklung allemal wichtiger als die Erwartungen der machtlosen Zuschauer. Deshalb haben sich viele Journalisten freiwillig zu einer Art mehr oder weniger geschickten PR-Agentur der Bosse in Wirtschaft, Politik und Kultur gemacht. Ja man gewinnt den Eindruck, als horchten sie fast nur auf das Echo der sie fördernden Hierarchien – normale Zuschauer und Leser sind gar keine Zielgruppe.
Wenn es für diese Diagnose noch eines Beweises bedürfte, ließe sich auf eine Studie der IG-Metall nahestehenden Otto-Brenner-Stiftung verweisen. Dort wurden 35 000 Berichte aus SZ, FAZ, der Welt sowie tagesschau, News-Websites wie tagesschau.de oder spiegel.de und auch von Lokalzeitungen zum Thema Flüchtlingskrise untersucht. Fazit: die Medien sind ihrer demokratischen Funktion nicht gerecht geworden. Das berichtete verknappt sogar der faktenfinder von tagesschau.de am 22.7.2017, ohne alle Zahlen zu nennen. Die Hauptakteure des Geschehens, nämlich Flüchtende, Helfer und freiwillige Unterstützer kamen nur in 7,5 Prozent der Beiträge zu Wort. Genau 10-mal mehr musste man wiedermal den Politikern und ihren Behörden zuhören. Die Medien spiegelten die Politik, statt sich als neutral hinterfragende Instanz zu verhalten. https://www.otto-brenner-stiftung.de
Und die Politik, einig wie nie, über die ganz Große Koalition einschließlich Linken und Grünen, verteidigte Willkommenskultur – was durchaus sympathisch war. Da aber Bedenken und Ängste medial kaum wahrgenommen wurden, förderte man indirekt andere Antwortgeber: Pegida, AfD, NPD. Deshalb konnte die Stimmung über Nacht kippen, über die Silvesternacht in Köln. Als nun allen voran der Innenminister und viele andere Politiker auf Distanz gingen, überboten sich plötzlich auch Beiträge der eben noch so zugewandten Medien in übertriebenen, oft hysterischen, jedenfalls weitgehend unbewiesenen Beschuldigen gegenüber jungen „Magrebinern“. http://www.deutschlandfunk.de/silvester-in-koln-oder-making-of-apokalypse-2-0-von-walter.media.8307f61fd483d3947b55a7d4d6d04172.pdf
Was einmal mehr zeigte, dass der weitgehend affirmative Nachrichten-Journalismus Mitte und Maß verloren hat. Oder sein vorherrschendes Maß Opportunismus ist. Die Studie beklagt, dass die Diktion des Mainstreams die öffentliche Meinung so stark prägt, dass abweichende Positionen entweder nicht mehr gehört oder aus Angst ausgegrenzt zu werden, gar nicht mehr geäußert würden. Diese Furcht vor Isolation führe in eine Schweigespirale.
Beschwiegen werden so gut wie alle redaktionellen Probleme:
die Rücksicht auf die Interessen der Medieneigentümer und Anzeigenkunden,
der Mangel an Zeit und Geld für Recherchen und der Rückgriff auf PR- Agenturen, die nicht selten komplette Artikel schreiben,
die Existenz „diskreter Fabriken der Desinformation“ (Peter Scholl-Latour), die Disziplinierung durch Zeitverträge und Verkleinerung vieler Redaktionen,
der Zusammenhang von Karriere und Selbstzensur,
die besseren Honorare für Beiträge, die den Mächtigen gefallen,
Hofberichterstattung in Folge allzu enger Kontakte mit Politikern,
der Mainstream als Parteinahme für eine Elite, zu der man selbst gehört oder gehören möchte,
redaktionelle Vorgaben und Anpassungsdruck als Ursache für die Tendenz zu Selbstgleichschaltung,
Meinungshomogenität durch Ausgrenzung allzu deutlicher Abweichler,
die sich aus all dem ergebende Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlich- ter Meinung.
Indem die selbsternannten Leitmedien bei ihrer Selbstreflexion diese Fragen weitgehend aussparen, belegen sie freiwillig den Hauptvorwurf gegen sie: Lügen durch Weglassen. Die Journalisten stehen vor der durchaus schwierigen Aufgabe, genau so viel Meinungsfreiheit zu demonstrieren, wie Scheinobjektivität erfordert, aber durch das Ausblenden von Ursachen und Interessen nicht anzuecken. Gerade durch dieses Taktieren verfehlt die Nachrichtengebung letztlich ihren Programmauftrag. Diese Feststellung ist ausdrücklich kein Plädoyer etwa zur auch schon geforderten Abschaffung der gelegentlich doch sehenswerten öffentlich-rechtlichen Sender, sondern eine Abmahnung. Auftraggeber sind die zahlenden Hörer und Zuschauer, die ein Recht haben, die Programmmacher auf ihren Auftrag zu verpflichten.
Sonst wandern Leser, Hörer und Zuschauer weiterhin ab, finden im Netz eine andere Öffentlichkeit. Es gibt immer Alternativen. Allerdings nicht nur auf Seiten der Vernunft. Rechtsdemagogen wissen Informationslücken zu nutzen. Dass medial manipulierte, entpolitisierte Menschen leichter zu bevormunden sind, könnte sich insofern als ein folgenschwerer Irrtum der herrschenden Eliten erweisen.
Auch deshalb verteidigen sich derzeit viele Medien und Institutionen mit Faktenchecks, bei denen man wiederum genau hinsehen muss. Denn es ist im Zweifelsfalle natürlich möglich, nur Belege für die eigene Sicht anzuführen. Demgegenüber gibt es Instrumente, wie nie zuvor: Abgeordneten Watch, Finanz Watch, Medien Watch. Ob Privatmedien, PR Agenturen und erst recht öffentlich rechtliche Anstalten, wer beim Lügen erwischt wird, könnte gesellschaftlich geächtet werden.
Schützenswert ist auch „das Recht auf nicht manipulierte Tatsacheninformation, ohne welche die ganze Meinungsfreiheit zu einem entsetzlichen Schwindel wird“. So Hannah Arendt in ihrem berühmten Essay Wahrheit und Lüge in der Politik, der hoffentlich an allen Journalistik-Schulen diskutiert wird. Denn ihre darin erhobene Forderung, Tatsachen und Meinungen seien streng voneinander zu unterscheiden, wird m.E. gern missverstanden. So als sei die Gefahr schon gebannt, wenn in einem Beitrag nur Fakten vermittelt würden und im anderen nur Meinungen. Das ist natürlich Unsinn, jedes journalistische Produkt würde verarmen, wenn nicht beides nebeneinander stünde. Meinungsstarke Kommentare und Essays brauchen Tatsachen, auf die sie sich beziehen können und selbst reine Nachrichtenformate, die Tatsachen melden, zitieren ständig Politiker oder Experten, die diese Fakten werten.
Der Wortstamm von Meinung ist mein, es geht um die subjektive Wertung einer Tatsache. Wenn es sich wirklich um eine wertende Meinung handelt, ist sie als solche leicht erkennbar, also hinreichend von einer Tatsache getrennt und kann daher getrost neben Fakten stehen. Viel problematischer ist die Vermischung von erwiesenen Tatsachen und unbewiesenen Tatsachen-Behauptungen. Also von Fakt und Fake. „Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist“, so Arendt. Und weiter: „In einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringt, ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber.“ Tatsachen wiederum seien nur durch Lügen zu erschüttern. Das bewusste Leugnen von Tatsachen ist für sie schon Lügen.
Nach diesem strengen Maßstab haben die Mainstream-Medien zu der Frage ob sie lügen, keine guten Karten. Deshalb erfordert die Pressefreiheit zwingend auch die Freiheit zur Kritik an den Medien. Zwar gibt es den Beruf des Theater-, Film- und Literaturkritikers, aber leider nicht den des Medienkritikers. Gemessen an den Nutzerzahlen, wäre dieser mindestens so wichtig. Aber wer soll ihn bezahlen? Mängel am eigenen Produkt zu offenbaren gehört in der Privatwirtschaft nicht zum Geschäftsmodell.
Also müssen sich die Bürger dazu selbst ermächtigen. Und wir sind dabei, das zu tun. Das ist mühsam, aber der einzige Weg: Alternative Vereinigungen und Medien – nicht zu verwechseln mit alternativen Fakten – müssen gegenhalten. Desinformation widersprechen, scheitern, neuer Desinformation besser widersprechen. So qualifiziert, dass diese Stimmen weder durch Diffamieren noch durch Ignorieren aus der Welt zu schaffen sind.
Leicht gekürzte Fassung der Rede »Pressefreiheit schließt die Freiheit an der Kritik der Presse ein« von Daniela Dahn anlässlich der Ossietzky-Matinee »Kritische Öffentlichkeit: Medien unter Druck« am 3. Oktober.
Das sogenannte TV-Kanzler-Duell hat demonstriert, wie sich die Fragen und Inhalte der Moderatoren von ARD und ZDF denen der Privatsender vollkommen angepasst haben. Das von der AfD diktierte Flüchtlingsthema nahm fast die halbe Sendezeit ein. Die Nachrichten- und Informationssendungen – Kerngeschäft jeden Senders – müssen sich fragen lassen, wie öffentlich und rechtlich sie eigentlich noch sind. In diesen Tagen sind sie herausgefordert, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, durch ihre auf die AfD fokussierte Berichterstattung den Erfolg der Partei überhaupt erst möglich gemacht zu haben. Nach der Wahl war Alexander Gauland der erste Politiker, der in der ARD interviewt wurde. Seine martialische Äußerung, die Kanzlerin »oder wen auch immer jagen« zu wollen, wurde sofort auf allen anderen Sendern übernommen. Für Entgleisungen haben die Medien der Partei besonders gern Sendezeit eingeräumt. Aber das hat ihr nicht geschadet – Medienerfolg ist Wahlerfolg.
Der Journalistik-Professor der Uni Mainz, Tanjev Schultz, meint, der Anspruch von ARD und ZDF für alle da zu sein, erfordere von ihnen, sich sowohl abzugrenzen, als auch jene Zuschauer zu »bedienen«, für die die AfD eine echte Wahloption ist. Vom Bedienen rechtsnationaler, rassistischer und gelegentlich nazi- und wehrmachtsfreundlicher Standpunkte steht aber nichts im Rundfunkstaatsvertrag. Auch nichts vom Bedienen einer Partei, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen will. In dem Vertrag ist vielmehr von einem Bildungsauftrag die Rede. Daher gebührt dieser sogenannten Alternative nur so viel Aufmerksamkeit, wie sie im Spektrum aller Parteien eine substanzielle Information für die Bürger hat.
Diese Überlegungen zum Profil der von den Zuschauern finanzierten Sender sollen ausdrücklich zu deren Stärkung dienen. Dazu gehört die Verteidigung der von ihnen erhobenen Gebühren, die für den emanzipatorischen Zweck dieser Anstalten nicht zu hoch sind. Umso mehr müssen jene sich gefallen lassen, dass ihre Finanziers Rechenschaft darüber verlangen, ob die Sendungen der vertraglich vereinbarten Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne entsprechen. Wer diese Fragen von Vornherein als rein rhetorisch oder gar polemisch abtut, sei an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. März 2014 erinnert. Darin wurde der ZDF-Staatsvertrag wegen des überproportionalen staatlichen Einflusses in den Aufsichtsorganen für verfassungswidrig erklärt. Die staatsnahen Vertreter im Fernseh- und Verwaltungsrat sollten auf ein Drittel begrenzt werden. Ob die anderen zwei Drittel in der Praxis nun tatsächlich unabhängig sind, sei dahingestellt.
Erwiesen ist, dass von Staatsnähe auch die selbsternannten Qualitätsmedien befallen sind. Das Institut Swiss Propaganda hat im Juni 2016 eine Studie über die Syrien-Berichterstattung der drei jeweils größten Zeitungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs in der Zeit unmittelbar nach Eintritt Russlands in den Syrienkrieg vorgelegt. 78 Prozent aller Artikel basierten auf Meldungen der großen Agenturen, null Prozent auf investigativer Recherche. Die Ausrichtung der Meinungsbeiträge, Gastkommentare und Interviewpartner war in der Welt, der Süddeutschen Zeitung, der Neuen Züricher Zeitung und dem österreichischen Kurier zu 100 Prozent NATO-konform. Die FAZ konnte im Untersuchungszeitraum einen ausgewogenen Beitrag vorweisen. Alle Zeitungen haben Propaganda zu 85 Prozent in Russland verortet, zu null Prozent in NATO-Staaten. Bei so viel vorauseilendem Gehorsam muss man sich nicht wundern, wenn die Leser vom Glauben abfallen.
»Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein«, schrieb Karl Marx 1842 in der Rheinischen Zeitung. »Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu.« Doch die Freiheit des Gewerbes hat gesiegt, Medien sind Kommerz. Sie durch Kritik in ihrer Glaubwürdigkeit zu beschädigen, passt nicht ins Geschäftsmodell. Zumal die Öffentlich-Rechtlichen sich diesem Modell weitgehend angenähert haben – mit wichtigen Ausnahmen. Doch Verflachung durch Quote überwiegt. Am grundgesetzlichen Bildungsauftrag schrammen die Öffentlich-Rechtlichen mit ihren die beste Sendezeit füllenden Krimis, Thrillern, Komödienstadeln, Soaps und Actionfilmen meist vorbei. Erst auf der Mitternachtsschiene wird es auf 3sat, Arte oder Phoenix in Dokumentationen gelegentlich interessant.
Auf dem Portal der »Ständigen Publikumskonferenz« kann man derzeit 1755 Programmbeschwerden zu konkreten Sendungen der öffentlich-rechtlichen Medien nachlesen. Aus dem Zusammenhang gerissene Darstellung von Ereignissen, Weglassen von für das Verständnis wichtigen Fakten, Einseitigkeit durch Nutzung der immer gleichen Quellen, parteiliche Einflussnahme von Moderatoren und vieles mehr, was den Unwillen der Betrachter hervorgerufen hat. In ganz seltenen Fällen antworten die Sender auf solche Einwände. Und, solange meine Geduld beim Lesen gereicht hat, ausnahmslos mit der Behauptung, es liege kein Verstoß gegen den Programmauftrag vor. Die Pflicht zu objektiver Berichterstattung wird bei der ARD-Tagesschau immer wieder dahingehend missverstanden, das für objektiv zu halten, was die Regierung sagt. Dazu dient eine politisch motivierte Sprachregulierung, das Wording.
Mehr als 80 Prozent der Tagesschau-Informationen stammen aus gekauftem Material von meist in Privatbesitz befindlichen Nachrichtenagenturen. Das sind die marktführenden westlichen Agenturen. Gemieden werden dagegen die großen indischen, chinesischen, lateinamerikanischen, gar afrikanischen Agenturen, von arabischen oder russischen ganz zu schweigen. Wer sich zu weit von der eigenen Darstellung entfernt, betreibt angeblich Propaganda. Eine solche Haltung prägt zwangsläufig Feindbilder. Peter Scholl-Latour wusste, wovon er spricht: Wir leben im Zeitalter der medialen Massenverblödung.
Dabei ist im Vergleich zu anderen Nachrichten-Formaten das Tagesschau-Ensemble noch das ansehnlichste. Die Hauptausgabe um 20 Uhr ist mit im Schnitt 9,11 Millionen Zuschauern mit Abstand die meistgesehene Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen. Es empfiehlt sich, die 15 Minuten zur Kenntnis zu nehmen, will man wissen, was in regierungsnahen Kreisen für wichtig erachtet wird. Auch wenn nicht wenige die Sendung in Hab-Acht-Haltung verfolgen, in der ständigen Erwartung, sich auch heute Abend wieder über Einseitigkeiten ärgern zu müssen. Das belegen tagtäglich die Zuschauer-Kommentare auf tagesschau.de.
Nehmen wir als beliebiges Beispiel die Berichterstattung über Venezuela. Das Narrativ, wie man heute bedeutungsvoll sagt, ist klar: Diktatur oder Demokratie, Misswirtschaft oder Wohlstand, Gewalt oder Rechtsstaatlichkeit. Dabei geht es hier im Kern darum, dass die wohlhabende Klasse in Venezuela die Reformen von Chávez zugunsten der Armen nie akzeptiert hat und sie rückgängig machen möchte – unter Einsatz von Wirtschaftskrieg, Rechtsbruch und Gewalt. Doch derartige Hintergründe sind in der Berichterstattung nicht vorgesehen (ausführliche Beispielsammlung zu unterschlagenen Informationen zu Venezuela siehe mein Beitrag auf: nachdenkseiten.de/?p=40047).
Viele Zuschauer sehen sich von der Tagesschau und anderen Leitmedien nicht hinreichend mit unabhängigen und zweifelsfrei recherchierten Informationen versorgt, um sich zum Weltgeschehen eine eigene, begründete Meinung bilden zu können. Das ist das eigentliche Dilemma. Es wird ein selektives Angebot von Symptomen serviert, das unerwünschte kausale Zusammenhänge weitgehend ausspart. Und das entgeht den Bürgern nicht, die den Mainstream-Medien nicht mehr trauen. Nach einer Untersuchung der Universität Mainz von Ende 2016 sind drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die Medien zumindest teilweise über Unerwünschtes nicht berichten.
Zur Selbstgerechtigkeit der Groß-Medien gehört ihr Versuch, Kritik an ihnen vornehmlich rechts zu verorten, wer von »Lügenpresse« spricht, ist gleich ein Nazi. Statt Einsicht, Diffamierung der Kritiker. Sicher, Goebbels und seine Leute haben auf das Widerlichste von der bürgerlich-liberalen Presse als Lügen- oder Systempresse gesprochen. Gesteuert und finanziert sei sie von einem angeblichen Weltjudentum, weshalb sie ihre Diffamierungen auf Juden und Kommunisten konzentrierten, die vermeintlich Lügen und Hetze verbreiten würden. Die »marxistische Presse« oder »jüdische Journaille« war nach dieser Lesart volksfeindlich und vertrat ausländische Interessen. Die Nazis haben den Begriff Lügenpresse allerdings nicht erfunden.
Schon 1676 veröffentlichte der Jenaer Rechtsgelehrte Ahasver Fritsch den »Diskurs über den Gebrauch und Missbrauch von Nachrichten«. Doch erst mehr als hundert Jahre später, als Folge der Aufklärung, begannen Zeitungen, gesellschaftliche Missstände zu artikulieren. Eine Art politische Opposition suchte die Öffentlichkeit und rief sofort strengste politische Zensur und Justiz auf den Plan. Man denke nur an die Demagogenverfolgung, die von Teilen der Presse affirmativ begleitet wurde.
Der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Beda Weber schrieb 1848 in den Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland über die »jüdische Lügenpresse«, die die Unruhen der Revolutionszeit angeheizt hätte. Wenig später beklagte das Bayrische Volksblatt, dass alles, was die Soldaten tun, in die »rothe Lügenpresse« käme. In Grimms Wörterbuch liefert das Stichwort »Lügenblatt« die Erklärung, das sei ein Blatt, welches »geflissentlich«, also absichtlich, Unwahrheit verbreitet.
In Kriegszeiten hatte der Begriff schon immer Konjunktur. Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 wurde die Lügenpresse hierzulande mit Vorliebe in Paris geortet. Im Ersten Weltkrieg veröffentlichte Reinhold Anton das Buch »Die Lügenpresse. Der Lügenfeldzug unserer Feinde«. Darin sind die eigenen Nachrichten auf die Wahrheit abonniert, während die Feinde immer lügen. Das Muster kommt einem bekannt vor.
Während der Novemberrevolution griffen auch Arbeiter- und Soldatenräte in ihren Reden die »Lügenpresse der Bourgeoisie« an. Die bürgerliche Exilpresse bezeichnete ihrerseits die gleichgeschalteten Naziblätter als Lügenpresse, so Maximilian Scheer in der Neuen Weltbühne. Und im Kalten Krieg gehörte es zur Munition, die Medien der Gegenseite – vermutlich nicht immer zu Unrecht – der Lüge zu bezichtigen. Nach all dieser Vorgeschichte gibt es Grund genug, mit dem Begriff bedachtsam umzugehen, pauschale Verdächtigungen zu vermeiden. Medien aber, die einseitig berichten, verzerren, weglassen oder wirklich lügen, müssen dieser Manipulation überführt werden dürfen. Kritiker dürfen nicht automatisch nach rechts- oder linksaußen abgeschoben werden. Eine allzu bequeme Methode, den Mainstream unangreifbar zu machen.
Kritische Selbstreflektion von den Medien ist selten. Hindert der Anspruch auf Unfehlbarkeit? Wohl schlimmer: Die Programm-Redakteure würden sicher auch lieber über brisante Hintergründe berichten, als Klischees zu wiederholen. Doch nur wenn sie – vielleicht sogar unbewusst – eben diese Klischees bedienen, können sie zu Recht davon ausgehen, im Sinne ihrer Auftraggeber alles richtig gemacht zu haben. Das Leugnen von Fehlern ist Unterwürfigkeit. Was die Macht erwartet, ist für die eigene Entwicklung allemal wichtiger als die Erwartungen der machtlosen Zuschauer. Deshalb haben sich viele Journalisten freiwillig zu einer Art mehr oder weniger geschickten PR-Agentur der Bosse in Wirtschaft, Politik und Kultur gemacht. Ja man gewinnt den Eindruck, als horchten sie fast nur auf das Echo der sie fördernden Hierarchien – darüber hinaus sind Zuschauer und Leser gar keine Zielgruppe.
Wenn es für diese Diagnose noch eines Beweises bedürfte, ließe sich auf eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung verweisen. Dort wurden 35.000 Berichte aus SZ, FAZ, Die Welt sowie Tagesschau, News-Websites wie tagesschau.de oder spiegel.de und auch von Lokalzeitungen zum Thema Flüchtlingskrise untersucht. Fazit: die Medien sind ihrer demokratischen Funktion nicht gerecht geworden. Das berichtete verknappt sogar der faktenfinder von tagesschau.de am 22. Juli 2017, ohne alle Zahlen zu nennen. Die Hauptakteure des Geschehens, nämlich Flüchtende, Helfer und freiwillige Unterstützer, kamen nur in 7,5 Prozent der Beiträge zu Wort. Genau zehnmal mehr musste man wieder mal den Politikern und ihren Behörden zuhören. Die Medien spiegelten die Politik, statt sich als neutral hinterfragende Instanz zu verhalten.
Und die Politik, einig wie nie, über die ganz Große Koalition bis zu Linken und Grünen, verteidigte Willkommenskultur – was durchaus sympathisch war. Da aber Bedenken und Ängste medial kaum wahrgenommen wurden, förderte man indirekt andere Antwortgeber: Pegida, AfD, NPD. Deshalb konnte die Stimmung über Nacht kippen, über die Silvesternacht in Köln. Als nun allen voran der Innenminister und viele andere Politiker auf Distanz gingen, überboten sich plötzlich auch Beiträge der eben noch so zugewandten Medien mit übertriebenen, oft hysterischen, jedenfalls weitgehend unbewiesenen Beschuldigungen gegenüber jungen »Magrebinern«. Das wies ein Feature von Walter van Rossum immerhin im Deutschlandfunk nach.
Was einmal mehr zeigte, dass der weitgehend affirmative Nachrichten-Journalismus Mitte und Maß verloren hat. Oder sein vorherrschendes Maß Opportunismus ist. Die Studie beklagt, dass die Diktion des Mainstreams die öffentliche Meinung so stark prägt, dass abweichende Positionen entweder nicht mehr gehört oder, aus Angst ausgegrenzt zu werden, gar nicht mehr geäußert würden. Diese Furcht vor Isolation führe in eine Schweigespirale.
Beschwiegen werden die Folgen der Rücksicht auf die Interessen der Medieneigentümer und Anzeigenkunden, der Mangel an Zeit und Geld für Recherchen und der Rückgriff auf PR-Agenturen, die Existenz »diskreter Fabriken der Des-information« (Peter Scholl-Latour), die Disziplinierung durch Zeitverträge, der Zusammenhang von Karriere und Selbstzensur, die besseren Honorare für Beiträge, die den Mächtigen gefallen, Hofberichterstattung infolge allzu enger Kontakte mit Politikern, der Mainstream als Parteinahme für die Elite, zu der man selbst gehört, redaktionelle Vorgaben und Anpassungsdruck als Ursache für die Tendenz zu Selbstgleichschaltung, Meinungshomogenität durch Ausgrenzung allzu deutlicher Abweichler – die sich aus all dem ergebende Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Indem die selbsternannten Leitmedien bei ihrer Selbstreflexion diese Fragen weitgehend aussparen, belegen sie freiwillig den Hauptvorwurf gegen sie: Lügen durch Weglassen.
Die Journalisten stehen vor der durchaus schwierigen Aufgabe, genau so viel Meinungsfreiheit zu demonstrieren, wie Scheinobjektivität erfordert, aber durch das Ausblenden von Ursachen und Interessen nicht anzuecken. Gerade durch dieses Taktieren verfehlt die Nachrichtengebung letztlich ihren Programmauftrag. Leser, Hörer und Zuschauer wandern ab, finden im Netz eine andere Öffentlichkeit. Alternative Medien – nicht zu verwechseln mit alternativen Fakten – müssen so qualifiziert und so permanent gegenhalten, dass diese Stimmen weder durch Ignorieren noch durch Diffamieren aus der Welt zu schaffen sind. Alternativen gibt es allerdings nicht nur auf Seiten der Vernunft. Rechtsdemagogen wissen Informationslücken zu nutzen. Dass medial manipulierte, entpolitisierte Menschen leichter zu bevormunden sind, könnte sich, wie das Wahlergebnis zeigt, als folgenschwerer Irrtum der herrschenden Eliten erweisen.
Unter diesem Titel erscheint Ende Oktober ein von der Kurt Tucholsky-Gesellschaft herausgegebener Solidaritätsband für Deniz Yücel, der vor sechs Jahren mit dem Kurt Tucholsky-Preis geehrt wurde. Der Band dokumentiert die damals Furore machenden Kolumnen, für die Yücel ausgezeichnet wurde, und die in der Türkei jetzt erhobenen juristischen Vorwürfe gegen ihn, wie Unterstützung terroristischer Vereinigungen und Datenmissbrauch. Hinzu kommen Grußworte anderer Tucholsky-Preisträger wie Heribert Prantl, Wolfgang Büscher, Mario Kaiser und Daniela Dahn. Ihr Beitrag erscheint bei Rubikon exklusiv als Vorabdruck. Sie lenkt darin die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass der rechtlichen Willkür in der Türkei in Deutschland leider auch kein eindeutiges Bürgerrecht gegenübersteht. Ein Grundrecht auf Whistleblowing fehlt hier ebenso, wie eine unmissverständliche Rechtsvorschrift zur sogenannten Datenhehlerei, zum Umgang mit Geschäftsgeheimnissen, und gar ein Schutz gegen die Gefahr des Einzugs von Feindstrafrecht.
Ich versuche mir vorzustellen, wie einem rasenden Reporter, einem sprach- und sachkundigen Korrespondenten, ja überhaupt einem aktiven Menschen zumute sein muss, der gerade jetzt gebraucht wird, eingreifend mitgestalten will und stattdessen hinter Gittern lahmgelegt ist. Nein, nicht stattdessen, sondern deswegen. Wie ist einem Journalisten zumute, der verhaftet ist, weil er nach bestem Wissen und Gewissen seine Arbeit getan hat. Wie hält man dieses Gefühl himmelschreienden Unrechts aus?
Deniz Yücel und so viele andere Weggesperrte müssen ohnmächtig mit ansehen, wie in einem Land, dessen Wohl ihnen am Herzen liegt, ein fanatischer und nationalistischer Präsident und seine Regierung polarisieren und ins Extrem führen. Die PR-Berater von Recep Tayyip Erdogan scheinen zu glauben, wenn ihr Mandant anderen Regierungen, gern auch der deutschen, faschistoide Methoden vorwirft, mache er sich selbst gegen diesen Vorwurf immun. In der Tat kann man diesen Präsidenten kaum einen klassischen Diktator nennen. Denn er ist, das macht es besonders bitter, unbestritten von Mehrheiten demokratisch legitimiert.
Das kommt uns bekannt vor. Auch der Freitod der Demokratie ist ein Meister aus Deutschland. Nationalistischer Narzissmus, religiöse Erweckungsphantasien, imperialer Größenwahn – was für ein Vernunft narkotisierendes Gebräu. Kritische Journalisten erfahren in der Türkei nun am eigenen Leibe, was Gleichschaltung von Medien bedeutet. Zu den willkürlichen Anschuldigungen gegenüber Deniz Yücel gehört die Unterstützung terroristischer Vereinigungen wie der Gülen-Bewegung und der kurdischen PKK. Dabei ist man als Journalist schon Unterstützer, wenn man nur einen führenden PKK-Vertreter interviewt. Der türkische Rechtsstaat schwankt und wankt, als sei er einem Hurrikan ausgesetzt. Für Andersdenkende und Oppositionelle werden inzwischen dubiose rechtliche Maßstäbe angewandt, eine Art politisches Feindstrafrecht.
Dies mit der gebotenen Empörung niederschreibend, stutze ich plötzlich. Nicht, weil auch bei uns tausende politisch aktive Kurden, die aus der Türkei geflohen sind, kriminalisiert worden sind, ihre Druckereien und Redaktionen untersucht, sie inhaftiert oder abgeschoben wurden. Obwohl die PKK sich gewandelt hat und inzwischen im Kampf gegen den IS Verbündete des Westens ist, bleibt sie auf Drängen des Nato-Partners Türkei auf der EU-Terrorliste – das ist nur eine der vielen Paradoxien in dieser Geschichte.
Ich stutze, weil Deniz Yücel auch der Straftat Datenmissbrauch beschuldigt wird. Aber ist bei uns etwa klar, was Datenmissbrauch ist? Journalistische und juristische Graubereiche der westlichen Demokratien fallen Deniz Yücel und den übrigen politischen Gefangenen der Türkei nun auf die Füße.
„Edward Snowden hat ein neues Zeitalter des Strafrechts begründet“, schrieb der Spiegel 2013. Denn nun war klar, dass die NSA gesetzwidrig weltweit unbegrenzte Vorratsdatenspeicherung betreibt. Bis dahin galt das Ausspähen von Daten über Rechtsbrüche als geheimdienstliche Agententätigkeit und wurde mit mehrjährigen Haftstrafen belegt. Im Jahre 1 nach Snowden setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass das Aufdecken staatlicher und privatwirtschaftlicher Rechtsbrüche gesellschaftlich erwünscht ist und nicht bestraft werden darf.
Doch in diesem neuen Zeitalter hinkt die Rechtslage in Deutschland im internationalen Maßstab hinterher. Ein diesbezüglicher Bericht der G20/OECD-Arbeitsgruppe hat Deutschland Defizite beim Schutz von Whistleblowern bescheinigt und Empfehlungen für Standards gegeben, die bisher auch nicht annähernd erfüllt sind, wie auf der Seite von whistleblower.net nachzulesen ist. Bundeskanzlerin Merkel hat sich gegenüber den G20-Staaten, also auch gegenüber der Türkei, verpflichtet, entsprechenden gesetzlichen Schutz zu schaffen, doch nichts ist geschehen. (Deutschland hat schließlich auch elf Jahre gebraucht, bis es die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert hat.)
In einem Gesetzentwurf forderten die Grünen 2012, das Whistleblowing zum Grundrecht zu erklären. Ein Antrag der LINKEN ergänzte im November 2014, dass Whistleblower, die beim Militär und in den Geheimdiensten Verstöße gegen Völker- und Menschenrecht aufdecken, dafür nicht verfolgt werden dürfen, auch wenn sie Geheimhaltungsvorschriften verletzt haben. Denn derartige Geheimnisse seien nicht vom Recht gedeckt. Ein solcher Schutz liege daher nicht nur im Interesse des Betroffenen, sondern der ganzen Gesellschaft. Weshalb auch Journalisten, die solche Verschlusssachen veröffentlichen, nicht haftbar gemacht werden dürften. Zwei vergebliche Vorstöße der Opposition, versteht sich.
Die Praxis bleibt absurd. Außer in den USA gilt Edward Snowden auf der ganzen Welt als Held der Wahrheitsfindung. Als solcher hat er in 20 westlichen Staaten um Asyl gebeten, mit dem bekannten Ergebnis. Dabei hätte deutsches Recht ihn bei politischem Willen vor Auslieferung an die USA schützen können. Wie das Recht der übrigen Staaten auch. Vasallentreue. Auch von den Journalisten, denen selbst eine USA unter Trump kein Grund war, dieses Thema wieder aufzurollen. Noch im Januar diesen Jahres gab es eine kurze Meldung: EU-Kommission will Whistleblower schützen, doch Deutschland bremst.
Was bleibt, sind Unklarheiten: Gibt es einen Unterschied von im Dienste der Wahrheit tätigen Hackern auf der einen und Whistleblowern, die das an die Öffentlichkeit bringen, auf der anderen Seite? Was bedeutet es für die Medien, dass Journalisten auf Informanten angewiesen sind, die nicht hinreichend geschützt sind und die die Journalisten im Zweifelsfalle auch nicht schützen können?
Als Beleg für die von türkischer Seite gegen Deniz Yücel erhobenen Vorwürfe gilt ein Artikel aus der Welt, in dem Yücel Erdogan seine geheime, 6000 Mann starke Troll-Armee zur gezielten Beeinflussung von Twitter und Facebook vorwirft. Die Erkenntnisse stammten von Redhack – in der Türkei als linksextremistische Terrororganisation angesehen. Sie hatten 60.000 Mails gehackt, vom einstigen Medienmogul und jetzigen Energieminister von Erdogan, Berat Albayrak, der zu allem Überfluss auch noch sein Schwiegersohn ist. Im Lichte der deutschen Gummiparagraphen für Hacker und Whistleblower dürfte die Argumentation zur Verteidigung Yücels gar nicht so einfach werden.
Der 2015 in Kraft getretene §202d StGB zur Datenhehlerei gilt als strafrechtliches Minenfeld. Er öffnet den Staatsanwaltschaften die Türen für die Durchsuchung von Redaktionen, wie damals bei den Bloggern von Netzpolitik.org geschehen. Gegen sie wurde wegen Landesverrat ermittelt. Sie hatten, Deniz wird sich erinnern, zwei Papiere des Verfassungsschutzes veröffentlicht, in denen es um die Überwachung von vermeintlichen Radikalen auf deren Computern und in sozialen Netzwerken ging. Die Süddeutsche zitierte einen namenlosen Juristen aus Karlsruhe: Schmal sei der Grat „zwischen dem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Staates und der Möglichkeit, mithilfe dieser Vorschrift auch die Aufdeckung von Missständen zu verhindern und Medien zu schikanieren“. Die Ermittlungen gegen Netzpolitik.org wurden eingestellt. Aber was berechtigt uns zu der Annahme, dass es bei gleicher Rechtslage aber anderen Regierungskoalitionen so bleiben wird?
Im selben Jahr hatte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund gegen eine neue EU-Richtlinie gewandt, nach der Journalisten nur in eng begrenzten Ausnahmefällen über Geschäftsgeheimnisse berichten dürfen. Zur Zeit läuft vor dem Amtsgericht Oberndorf ein Strafverfahren gegen den Friedensaktivisten Hermann Theisen wegen Aufforderung zum Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nach §111 StGB. Da er der Meinung ist, dass staatliche Kontrolle über das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz versagt, wollte er Insiderwissen aktivieren. Deshalb hatte er an Mitarbeiter des Waffenproduzenten Heckler & Koch Flugblätter verteilt, auf denen er sie zum Whistleblowing aufrief. Auch vergeblich. Wer will schon seinen Job verlieren. Einer vor Gericht reicht ja.
Wirtschaftsprüfer haben hierzulande sowieso keinen Schutz als Whistleblower, insbesondere wenn sie aufdecken, wie Konzerne Steuern sparen. Generell gibt es im Pressewesen keine Rechtsschutzversicherung, weil die juristische Interpretation dessen, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und was nicht, so unvorhersehbar ist, dass dies jeden Versicherer ruinieren würde. So bleibt das Risiko bei den Journalisten und ihren Verlegern oder Intendanten. Auch deshalb sind die Medien wie sie sind.
Immerhin ist es noch nicht so lange her, dass diese Medien die schleichende Gefahr des Einzugs von Feindstrafrecht in Deutschland beklagt haben. Auch deshalb stutze ich, wenn ich Erdogans Instanzen zu Recht, wie ich meine, die Anwendung von Feindstrafrecht gegenüber den vielen beweislos Inhaftierten vorwerfe. Manche Journalisten sahen für das deutsche Recht gar eine galoppierende Gefahr, die die rote Linie schon überschritten hat. Diese besteht in dem juristischen Grundprinzip, wonach vor dem Gesetz alle gleich sind. Alle, also Freund und Feind. In unserem Recht verbietet sich ein Urteil ohne Beweisführung. Und die Todesstrafe verbietet sich sowieso, will man die Aufklärung nicht rückabwickeln.
Die gezielte Tötung von vermeintlichen Terroristen wirft da viele Fragen auf. Die sogenannten Aufklärungsdrohnen der Bundeswehr vom Einsatzgeschwader in Masar-i-Scharif liefern die Daten für staatlich gewolltes Töten ohne rechtsstaatliche Ermittlungen und ohne Prozess. Wer ein Rebell ist, entscheidet die Turbanfarbe auf dem Video. Unter der afghanischen Zivilbevölkerung löst das ein Dauergefühl der Bedrohung aus, das wiederum folgerichtig zu Radikalisierung führt. Die große Mehrheit der Deutschen ist gegen solche völkerrechtswidrigen Praktiken. Auch gegen die stillschweigende Akzeptanz US-amerikanischer Verhörmethoden, die auch gegenüber deutschen Staatsbürgern angewendet werden. Doch eine breite und vor allem andauernde Diskussion darüber gibt es nicht. Etwa wie Mitte der 90er Jahre, als der Streit um die Strafbarkeit des verwendeten Tucholsky-Zitates „Soldaten sind Mörder“ durch die Medien und Gerichte bis zum Bundesverfassungsgericht ging. Heute ist unser Feindstrafrecht offenbar kein Grund zu anhaltender Sorge. Der Rechtsstaat wird am Hindukusch verloren.
In meinem Buch „Wehe dem Sieger“ habe ich schon 2009 versucht mir vorzustellen, wie man sich als politisch Engagierter angesichts durchlöcherter Bürgerrechte fühlt: „Kommt niemand auf die Idee, dass, was jetzt gegen islamistische Verschwörer erdacht wird, bald schon als aktualisierte Notstandsgesetze gegen Unruhe in der eigenen Bevölkerung in Stellung gebracht werden könnte? Die Überwachung und Einschüchterung von G8-Protestlern 2007 in Rostock und Heiligendamm durch Panzerspähwagen, Tornados und US-Kriegsschiffe und die zeitweilige Unterbringung Festgenommener in Metallgitter-Käfigen mag da ein Vorgeschmack gewesen sein. Erwartet uns eine Art Feindstrafrecht gegen Oppositionelle, die das System der Bereicherung der Eliten (verschwörerisch) in Frage stellen? Für derartige Eingriffe ist durch die gemeinsame EU-Terrorismusdefinition auch schon vorgesorgt. Danach ist eine Tat dann terroristisch, wenn sie mit der Absicht begangen wurde, die ,politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen‘ eines Landes ,zu bedrohen und stark zu beeinträchtigen oder zu zerstören‘. Wer sich für eine andere Wirtschaftsordnung einsetzt, könnte also als Terrorist bestraft werden. Das ist auch bereits passiert. 2006 haben Greenpeace-Aktivisten in Dänemark ein Bürohaus erklommen, um ein Anti-Genmais-Plakat auszurollen. Für diesen Akt zivilen Ungehorsams sind sie nach einer Strafnorm verurteilt worden, die sich auf jene EU- Terrorismusdefinition berief.“
Auch ohne Inkrafttreten der Notstandsgesetze, deren Geheimhaltung offenbar fast alle Journalisten akzeptiert haben, sind hierzulande Praktiken der Einschüchterung und Verurteilung von Dissidenten und Oppositionellen längst erprobt. Berüchtigt dabei §129 a StGB, der nicht zimperlich ist, Gruppierungen als terroristische Vereinigung zu deklarieren und entsprechend zu bestrafen. Strafrecht ist Individualstrafrecht, doch hier genügt es, einer Organisation anzugehören oder Sympathie bekundet zu haben, der die Begehung künftiger Straftaten unterstellt wird. Zahllose Autonome der Hausbesetzerszene, der Antiatompolitik oder Mitglieder von Antifa-Gruppen sind der Terrornähe beschuldigt worden. Natürlich nicht mit unerträglich unbegrenzter Untersuchungshaft. Aber doch nachhaltig genug, um als Vorbestrafte einen schwereren Lebensweg zu haben und einschüchternd (oder radikalisierend?) auf das Umfeld zu wirken.
Es ist wohltuend, wie hartnäckig die Kollegen von Deniz Yücel von der Welt nun für ihn kämpfen und vor das türkische Verfassungsgericht ziehen wollen. Vielleicht kommt das Engagement aber auch etwas spät. Mir ist zumindest entgangen, dass diese Zeitung sich in der Aufarbeitung der Graubereiche des deutschen und EU-Rechts, die Repressionen gegen Oppositionelle aller Art ermöglichenden, besonders hervorgetan hätte.
Westliche Werte verteidigt man am besten, indem man sie selbst einhält. Damit Geschichte sich nicht wiederholt, muss aus ihr gelernt werden. Der Verfall von Demokratie beginnt oft mit dem Verfall von Recht. Solidarität mit Deniz Yücel heißt daher auch, den Anfängen juristischer Schieflagen zu wehren und sich dafür einzusetzen, dass deutsches Recht ein klares Bürgerrecht ist. Damit könnten wir in Europa und bei EU-Beitrittskandidaten ausnahmsweise einmal Vorbild sein.
aus: Lügen die Medien? Das Medienkritik-Kompendium von Jens Wernicke Westend-Verlag, September 2017
Ist Medienkritik per se „rechts“? Sind die Medien unparteiische Apparate, die die Wirklichkeit nur abbilden, oder vielmehr Instanzen der Macht, die die soziale Realität erst herstellen und dabei die Interessen der Macht gegen jene der Ohnmacht vertreten? Welche Geschichte hat die „Medienkritik“ und was ist zu tun, da die Medien immer häufiger parteiisch Propaganda verbreiten? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit der Bestsellerautorin und Zeitkritikerin Daniela Dahn.
Frau Dahn, wer die Medien kritisiert, ist neuerdings rechts, insbesondere, wenn er dieselben als „Lügenpresse“ bezeichnet – meinen jedenfalls die Leitmedien. Sind die Medienkritiker also allesamt dumm oder verrückt und unsere Medien „Qualitätsmedien“?
Der Zeitgeist nimmt für seine Verbreitungsbasis gern die Bezeichnung Qualitätsmedien in Anspruch – eine PR-Behauptung, die einen permanenten Anspruch suggeriert, der vielmehr täglich neu bewiesen werden muss. Die sich auch gern Leitmedien nennenden Organe verlieren diese Leithammel-Funktion immer mehr. Die kulturelle Hegemonie, um diesen Schlüsselbegriff von Antonio Gramsci aufzugreifen, ist umkämpft wie lange nicht mehr. Wer nur die ewig selben Leitmedien kennt, gehört schon zum Establishment. Zu den Eliten, auf die die Mehrheit gerade nicht so gut zu sprechen ist, weshalb auch deren großes Geld nicht mehr die große Wirkung garantiert.
Die allen zugänglichen Medien, die nicht zufällig die sozialen genannt werden, entwickeln eine subversive Kraft. Jenseits von Eigentum an Grund und Boden und von großem Finanzvermögen hat sich im Netz spontan eine Art Gemeineigentum gebildet. Wem gehören bahnbrechende Institutionen wie Wikipedia? Allen und niemandem. Sie sind unabhängig von Werbekunden. Derartige Initiativen widerlegen das Vorurteil, dass etwas, was allen gehört, nicht verantwortungsvoll betrieben wird. Stattdessen ist es vielen frustrierten Medienkonsumenten der Versuch wert, zu beweisen, dass solch alternative Medien, Archive und investigative Faktensucher sogar verantwortungsvoller arbeiten, als die durch vielerlei Zwänge im System gefesselten Angestellten. Viele Leser sind inzwischen besser informiert als die permanent unter Zeitdruck arbeitenden Journalisten. Das ist eine ungeheure Herausforderung.
Warum kann man den Großmedien das Monopol auf Information nicht überlassen?
Der massenhafte Aufstand der Leser und Zuschauer begann mit der einseitigen Berichterstattung während der Maidan-Ereignisse in Kiew und der Rolle Russlands und der NATO in der Ukraine. Die Vertrauenskrise hält seither an. Damals quollen die Proteste, Gegendarstellungen und Beschimpfungen auf den Webseiten von ARD, ZDF und den großen Zeitungen über und oft wurden die Kommentarseiten erstmalig seit ihrer Existenz einfach geschlossen. Eine Bankrotterklärung? In der ARD-Medien-Dokumentation „Vertrauen verspielt?“ räumte der Sender im Juli 2016 ein, dass 67 Prozent der Zuschauer, Leser und Hörer wenig oder kein Vertrauen in die Medien hätten. Von Kulturwandel war die Rede und von verunsicherten Diskussionen über das journalistische Selbstverständnis.
Doch die Selbstreflexion des Berufsstandes blieb nicht nur in dieser Sendung unter dem Niveau, das nötig gewesen wäre, um Vertrauen wiederherzustellen. Zwar wurde eingeräumt, dass bei der Maidan-Berichterstattung das Treiben der Faschisten weitgehend fehlte und im Fall der Hetzjagd auf den damaligen Bundespräsidenten Wulff war von „Rudeljournalismus“ die Rede. Einzelne Fehler und Versäumnisse eben, die schließlich überall vorkommen. Kritik an grundsätzlichen Problemen wurde in der Tat aber ausschließlich im rechten Spektrum verortet. Die Denunziation der Kritiker als wirksamste Form, die Kritik selbst zu entsorgen. Noch bequemer war der Versuch, seriöse wissenschaftliche Analysen, gut recherchierte polemische Essays und anspruchsvolle alternative Webseiten öffentlich gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Vorwürfe von Buchautoren wie Albrecht Müller, Harald Schumann, Uwe Krüger, Ulrich Teusch,Walter van Rossum oder Uli Gellermann werden einfach ignoriert. Die von all diesen Kritikern angesprochenen Schmerzzonen bleiben tabuisiert: die Folgen der Rücksicht auf die Interessen der Medieneigentümer und Anzeigenkunden, der Mangel an Zeit und Geld für Recherchen und der Rückgriff auf PR-Agenturen, die Existenz „diskreter Fabriken der Desinformation“ (Peter Scholl-Latour), die Disziplinierung durch Zeitverträge, der Zusammenhang von Karriere und Selbstzensur, die besseren Honorare für Beiträge, die den Mächtigen gefallen, Hofberichterstattung in Folge allzu enger Kontakte mit Politikern, der Mainstream als Parteinahme für die Elite, zu der man selbst gehört, die Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung, redaktionelle Vorgaben und Anpassungsdruck als Ursache für die Tendenz zu Selbstgleichschaltung, Meinungshomogenität durch Ausgrenzung allzu deutlicher Abweichler. Indem die selbsternannten Leitmedien bei ihrer Selbstreflexion diese Fragen weitgehend aussparen, belegen sie freiwillig den Hauptvorwurf gegen sie: Lügen durch Weglassen.
Also doch Lügenpresse?
Zwar fällt auf, dass insbesondere die öffentlich-rechtlichen Sender sich bemühen, Quellen transparenter zu machen, Fakten stärker zu hinterfragen und in Talkshows Andersdenkende zu Wort kommen zu lassen. Doch diese sind immer in der Minderheit und werden in aller Regel von der Mehrheitsmeinung in der Runde unterbrochen, übertönt, in die Ecke gedrängt, wenn nicht auf das Übelste beschimpft. Als Populist, Propagandist, Putin-Versteher, Verschwörungstheoretiker oder gar Lügner. Und das täglich – so etwa am 9. April bei „Anne Will“ gegenüber Michael Lüders, der es immer wieder wagt, die Verantwortung für den Flächenbrand im Nahen Osten und auch in Syrien beim Westen zu sehen. Und extreme Diffamierung am nächsten Tag in „hart aber fair“, nicht vom Moderator, aber von einigen Gästen gegenüber dem Ex-Planungsstabsoffizier der NATO Ulrich Scholz, der Trumps Bombardement in Syrien weder militärisch noch politisch nachvollziehbar fand.
Inzwischen übernehmen die Großmedien immerhin Methoden der Gegenöffentlichkeit, betreiben Faktenchecks und Faktenfinder.
Sie instrumentalisieren diese Werkzeuge aber ganz gern um nachzutreten: die Verfechter von abweichenden Meinungen gelten dann als „umstritten“, ihre Quellenlage als „dünn bis widersprüchlich“ und „nicht besonders substantiell“. Es werden allerlei Leute zitiert, die die erwünschte Position bestätigen, während Gegenaussagen weggelassen werden. Bei der Fülle von kursierenden Behauptungen und Fakten ist es nicht schwer, ein Übergewicht an Beweisen zugunsten des eigenen Standpunktes zusammenzutragen. Eine Gefahr, der sich natürlich auch die Medien der Gegenöffentlichkeit bewusst sein müssen. Ihr Markenzeichen sollte dennoch ganz offensiv nicht die nur als Fiktion existierende Ausgewogenheit sein, sondern das andernorts Tabuisierte und Unterdrückte.
Wo sehen Sie Tabus und Zensur? Was verschweigen die Etablierten?
Besonders viele Tabus und Einseitigkeiten finden sich dort, wo es wirklich um Macht, Geschäfte und Einflusssphären geht, also in der Außenpolitik. Was treiben die 27000 allein vom Pentagon bezahlten PR-Leute eigentlich? Soviel Power allein im Dienste der Wahrheit?
Wie schnell die meisten Medien wieder bereit waren, Trump, Hollande und Merkel zu folgen, die ohne auch nur den Ansatz einer Untersuchung sofort wussten, dass Assad der „alleinige Verantwortliche“ für den jüngsten Einsatz von Giftgas im syrischen Chan Scheichun sei, hätte man nicht für möglich gehalten. Gibt es doch bis heute nicht einmal zu dem fürchterlichen Angriff 2013 in Ghouta einen eindeutig Schuldigen, sondern immer noch die widersprüchlichsten Angaben. Keines von diesen Medien stellte die naheliegende Frage, was für eine Idiotie es wäre, im Moment, da die eigene Armee in der Offensive ist, ein solches militärisch völlig irrelevantes Verbrechen zu verüben und damit die ganze Welt gegen sich aufzubringen. Viel zu selten wird gefragt: Wem nutzt es? Wer stattdessen als erster die Deutungshoheit erobert, ist Sieger. Deutungshoheit ist wichtiger als militärische Lufthoheit geworden.
Simpelste journalistische Grundsätze werden hierzulande immer wieder missachtet – etwa, dass es für eine Behauptung mindestens zwei unabhängige Quellen geben muß. Zur Zeit scheinen für fast alle Übel russiche Hacker verantwortlich zu sein, ohne dass man den Ehrgeiz spürt, nach einem Beweis wenigstens zu suchen. Oder der Grundsatz, dass im Konfliktfall beide Seiten gehört werden müssen. Die Regeln unseres „Feindbild-Journalismus“ besagen viel mehr, dass die Gegenseite unter keinen Umständen Gehör verdient, da sie a priori nur Propaganda verbreitet. Ausschließlich Lügen, die nicht mal wert sind, überprüft zu werden. Der Gegner wird genau so behandelt, als betreibe er nichts als Lügenpresse. Das ist weder klug noch souverän. In unserer Medienlandschaft musste man annehmen, die syrische Regierung schweige zu den jüngsten Giftgas-Vorwürfen gegen sie. Aber es existiert ein Video mit der Stellungnahme des syrischen Außenministers al-Muallem (ja, der Diktator hat sogar richtige Minister). Die deutschen Fernsehsender haben diese nicht ganz unwichtige Erklärung übergangen. Doch hoppla, wie zum Beweis, dass die Qualitätsmedien keine Tabus kennen, findet man sie unvermutet auf Tagesspiegel online. Nicht überraschend versichert darin der Minister, die syrische Armee habe in Chan Scheichun keine chemischen Waffen eingesetzt und werde auch künftig keine verwenden. Soweit nicht gerade beweiskräftig. Aber hier, nach 33 Sekunden, schneidet der Tagesspiegel den Rest weg. Die Fortsetzung findet man, soweit zu übersehen, nur auf arabischen oder russischen Seiten. Darin die brisante, aber relativ leicht zu überprüfende Behauptung des Ministers, die syrische Regierung habe in letzter Zeit viele Dutzende Male den UN-Sicherheitsrat darüber informiert, dass die in Syrien kämpfenden Terroristen über chemische Kampfstoffe verfügen. Die Warnungen seien aber ignoriert worden. Warum eigentlich, wo doch UNO-Inspektoren schon Giftgaseinsätze von Terroristen festgestellt haben? Was denkt sich wohl der Tagesspiegel bei einem solchen Schnitt? Wie kann er widerlegen, dass er hier zensiert hat?
Mündige Bürger haben ein Recht darauf zu erfahren, ob die schwerwiegende Behauptung des syrischen Außenministers stimmt. Und ob die Informationen an den UN-Sicherheitsrat Hinweise enthielten, wie IS und al-Nusra-Front an die Giftzutaten gekommen sind. Dies wissend, würde die russische Version des Vorgangs, dass nämlich chemische Kampfstoffe der Terroristen von Bomben getroffen wurden, plausibler. Wenn solche Gegen-Argumente immer wieder verschwiegen werden, ist genauso Misstrauen geboten, wie bei den Behauptungen Assads.
Sind solche Beispiele Einzelfälle oder lassen sich derartige Beobachtungen verallgemeinern?
Das Institut Swiss Propaganda hat im Juni 2016 eine Studie über die Syrien-Berichterstattung der drei jeweils größten Zeitungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs in der Zeit unmittelbar nach Eintritt Russlands in den Syrienkrieg vorgelegt. 78 Prozent aller Artikel basierten auf Meldungen der großen Agenturen, null Prozent auf investigativer Recherche. Die Ausrichtung der Meinungsbeiträge, Gastkommentare und Interviewpartner war in der Welt, der Süddeutschen Zeitung, der Neuen Züricher Zeitung und dem österreichischen Kurier zu 100 Prozent NATO-konform. Die FAZ konnte im Untersuchungszeitraum einen ausgewogenen Beitrag vorweisen. Alle Zeitungen haben Propaganda zu 85 Prozent in Russland verortet, zu null Prozent in NATO-Staaten. Bei so viel vorauseilendem Gehorsam muss man sich nicht wundern, wenn die Leser vom Glauben abfallen. Wie neu ist der Vorwurf der Lügenpresse eigentlich?
Es hat sicher Gründe, weshalb es seit Jahrhunderten Theater- oder Literaturkritik gibt, aber keine vergleichbar institutionalisierte Medienkritik. Obwohl Medien ungleich mehr Menschen erreichen, spätestens seit den Massenauflagen von Zeitungen in den Goldenen Zwanzigern. Und noch mehr dann natürlich durch Radio, Fernsehen, schließlich Internet und die sogenannten sozialen Medien. Ein Bedürfnis nach solcher Kritik gibt es seit langem. Zur Pressefreiheit gehört die Freiheit der Kritik an der Presse. Kritik am Wahrheitsgehalt einzelner Artikel gibt es im Grunde seit Erscheinen der ersten Zeitungen. Lange Zeit wurde andererseits der Zweck von Zensur gerade damit erklärt, Zeitungen vom Lügen abzuhalten. Es gab also von Anfang an berechtigte Zweifel und zugleich Mechanismen, Zeitungen für bestimmte Tendenzen zu instrumentalisieren. 1676 veröffentlichte der Jenaer Rechtsgelehrte Ahasver Fritsch den „Diskurs über den Gebrauch und Missbrauch von Nachrichten“. Doch erst hundert Jahre später, als Folge der Aufklärung, begannen Zeitungen, gesellschaftliche Missstände zu artikulieren. Eine Art politische Opposition suchte die Öffentlichkeit und rief sofort strengste politische Zensur und Justiz auf den Plan. Man denke nur an die Demagogenverfolgung, die von Teilen der Presse affirmativ begleitet wurde.
Früher waren unbequeme Denker angeblich Demagogen, heute gilt ihr Infragestellen des Mainstreams als Propaganda oder Verschwörungstheorie und sie werden oft ausgegrenzt. Wie funktioniert Einschränkung von Pressefreiheit heute?
Die großen Zeitungen, Privatsender und Internetplattformen sind Waren, die sich verkaufen und Werbekunden bei Laune halten müssen. Mindestens so große Gefahren wie durch die oben benannten Strukturen drohen von dieser Seite. „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“, schrieb Karl Marx 1842 in der Rheinischen Zeitung. „Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu.“ Doch die Freiheit des Gewerbes hat gesiegt, Medien unterliegen der totalen Kommerzialisierung. Sie durch Kritik in ihrer Glaubwürdigkeit zu beschädigen, passt nicht ins Geschäftsmodell. Zumal die Öffentlich-Rechtlichen sich diesem Modell weitgehend angenähert haben – mit wichtigen Ausnahmen. Doch Verflachung durch Quote überwiegt. Am grundgesetzlichen Bildungsauftrag schrammen die Öffentlich-Rechtlichen mit ihren die beste Sendezeit füllenden Krimis, Thrillern, Komödienstadeln, Soaps und Actionfilmen meist vorbei. Erst auf der Mitternachtsschiene wird es gelegentlich interessant.
Die Vorwürfe gegen Kritiker sind aber schwerwiegender, vielleicht aus diesen Gründen. „Lügenpresse“ war das Unwort des Jahres 2014, beliebt bei Pegida und AfD, obwohl es als NS-belastet gilt.
Zu Recht. Goebbels und seine Leute haben auf das Widerlichste von der bürgerlich-liberalen Presse als Lügen- oder Systempresse gesprochen. Gesteuert und finanziert sei sie von einem angeblichen Weltjudentum, weshalb sie ihre Diffamierungen auf Juden und Kommunisten konzentrierten, die vermeintlich Lügen und Hetze verbreiten würden. Die „marxistische Presse“ oder „jüdische Journaille“ war nach dieser Lesart volksfeindlich und vertrat ausländische Interessen. Die Nazis haben den Begriff Lügenpresse allerdings nicht erfunden. Der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Beda Weber schrieb 1848 in den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland“ über die „jüdische Lügenpresse“, die die Unruhen der Revolutionszeit angeheizt hätte. Wenig später beklagte das Bayrische Volksblatt, dass alles, was die Soldaten tun, in die „rothe Lügenpresse“ käme. In Grimms Wörterbuch gibt es das Stichwort „Lügenblatt“ als eines, welches „geflissentlich“, also absichtlich, Unwahrheit verbreitet.
In Kriegszeiten hatte der Begriff schon immer Konjunktur. Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 wurde die Lügenpresse hierzulande mit Vorliebe in Paris geortet. Im Ersten Weltkrieg veröffentlichte Reinhold Anton das Buch: Die Lügenpresse. Der Lügenfeldzug unserer Feinde. Darin sind die eigenen Nachrichten auf die Wahrheit abonniert, während die Feinde immer lügen. Das Muster kommt einem bekannt vor.
Man kann diesen umstrittenen Begriff also nicht einfach immer rechten Populisten in die Schuhe schieben?
Sicher nicht. Während der Novemberrevolution griffen auch Arbeiter- und Soldatenräte in ihren Reden die „Lügenpresse der Bourgeoisie“ an. Die bürgerliche Exilpresse bezeichnete ihrerseits die gleichgeschalteten Naziblätter als Lügenpresse, so Maximilian Scheer in der Neuen Weltbühne. Und im Kalten Krieg gehörte es zur Munition, die Medien der Gegenseite – vermutlich nicht immer zu Unrecht – der Lüge zu bezichtigen. Nach all dieser Vorgeschichte gibt es Grund genug, mit dem Begriff sehr bedachtsam umzugehen, pauschale Verdächtigungen zu vermeiden. Was aber keinesfalls dahingehend instrumentalisiert werden darf, Medien, die einseitig berichten, verzerren oder wirklich lügen, nicht beim Namen zu nennen. Auch sie müssen mit sachlichem Faktencheck der Manipulation oder Lüge überführt werden dürfen. Die Ernennung zum „Unwort“ darf die Untat des tatsächlichen Lügens nicht tabuisieren. Kritiker dürfen nicht automatisch nach Rechts- oder Linksaußen abgeschoben werden. Eine allzu bequeme Methode, den Mainstream unangreifbar zu machen.
Was können wir tun? Was täte not?
Eigentlich müsste diese Art von Journalismus, der durch Weglassen und permanente Wiederholung unbewiesener Behauptungen verzerrt, als umstritten gelten. Das nötige Bewusstsein dafür wird sich nur durchsetzen, wenn alternative Medien – nicht zu verwechseln mit den sogenannten alternativen Fakten –, gegenhalten. So qualifiziert und so permanent, dass diese Stimmen weder durch Diffamieren noch durch Ignorieren aus der Welt zu schaffen sind.
Daniela Dahn ist Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Bei Rowohlt sind bislang zehn Essay-Bücher erschienen, zuletzt „Wehe dem Sieger!“ und „Wir sind der Staat!“.
Wie staatsnah ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk? Die Berichterstattung verfehlt ihren verfassungsmäßigen Auftrag – Beispiel Venezuela.
Die Moderation des sogenannten Kanzler-Duells hat demonstriert, dass sich die Fragen und Themen von ARD und ZDF den Privatsendern vollkommen angepasst haben. Da gibt es zweifellos Ausnahmen, besonders auf 3sat, Arte und Phoenix zu später Stunde. Aber die Nachrichten- und Informationssendungen – Kerngeschäft jeden Senders- müssen sich schon fragen lassen, wie öffentlich und rechtlich sie eigentlich sind.
Entsprechen sie noch den Anforderungen der Kommunikationsfreiheit und der im Rundfunkstaatsvertrag festgehaltenen Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne? Wer diese Fragen von Vornherein als rein rhetorisch oder gar polemisch abtut, sei an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. März 2014 erinnert. Darin wurde der ZDF-Staatsvertrag wegen des überproportionalen staatlichen Einflusses in den Aufsichtsorganen als verfassungswidrig erklärt. Die staatsnahen Vertreter im Fernseh- und Verwaltungsrat sollten auf ein Drittel begrenzt werden. Ob die anderen zwei Drittel in der Praxis nun tatsächlich unabhängig sind, sei dahingestellt.
Der ARD sind derartige gerichtliche Überprüfungen bislang erspart geblieben, nicht aber profunde Evaluierungen von sachkundigen Journalisten. Walter van Rossum schrieb einst über „Meine Sonntage mit ´Sabine Christiansen´“ und vor zehn Jahren „Die Tagesshow – Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht“. Darin beschrieb er an Beispielen, wie die Tagesschau verunklart, verschweigt, in Sprachregelungen erstickt und sich der Lesart der Regierung anpasst.
Der massenhafte Aufstand der Zuschauer und Leser gegen die sogenannten Qualitätsmedien begann dann im Frühjahr 2014 angesichts der einseitigen Parteinahme für die antirussischen Kräfte im Ukraine-Konflikt. Auch die online-Portale der ARD konnten sich vor kritischen Zuschriften oft nur durch Schließung der Kommentarfunktion retten. Kleinlaut und viertelherzig räumte der Sender einzelne Fehler ein, im Großen und Ganzen aber sei alles in Ordnung.
Zur Selbstgerechtigkeit der Groß-Medien gehört ihr Versuch, Kritik an ihnen vornehmlich rechts zu verorten, bei Pegida, AfD („Lügenpresse“) und anderen dubiosen Kräften. Statt Einsicht, Diffamierung der Kritiker. Dabei gibt es längst dutzende seriöse medienkritische Bücher von Wissenschaftlern, aufklärerische Plattformen von investigativen Journalisten, eine Netzöffentlichkeit, die gegenhält. Selbst Kanzlerin Merkel hat sich voriges Jahr auf der CDU-„Media-Night“ besorgt über den Glaubwürdigkeitsverlust der Medien geäußert. Es müsse uns alle unruhig stimmen, dass 60 Prozent der Bürger „wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien“ hätten.
Eine Meldung über diese Merkel-Sorge gab es in der ARD nicht. Dabei hatte selbst der Evangelische Pressedienst (epd-Medien) die Gremienaufsicht der Sender längst für reformbedürftig erklärt. Er empfahl konsequente Politikerferne, mehr Transparenz in der Gremienarbeit, mehr externen Sachverstand und vor allem eine kontinuierliche Programmevaluierung durch die Zivilgesellschaft, z.B. durch Zuschauer oder Media-Watch-Organisationen.
Welche Erfahrungen machen Vertreter dieser Zivilgesellschaft, wenn sie diese Empfehlungen mit viel Sorgfalt und unter erheblichem Einsatz von Zeit und Kraft ernst nehmen? Die Autoren des im Frühjahr erschienenen Buches „Die Macht um Acht – Der Faktor Tagesschau“ haben diesen Versuch unternommen. Volker Bräutigam war selbst zehn Jahre Redakteur bei der Tagesschau, kennt die Spielregeln als Insider. Der Jurist Friedhelm Klinkhammer war 35 Jahre beim NDR, u.a. als IG-Medien- und Gesamtpersonalratsvorsitzender. Und der Journalist Uli Gellermann analysiert auf seiner Website rationalgalerie seit Jahren angriffslustig das Politik- und Mediengeschehen. Die Autoren gehen über die bisherigen Formen der kritischen Beispielsammlung hinaus und prüfen neben der zu analysierenden Sendung auch die vorgeblich demokratischen Möglichkeiten der kritischen Teilhabe der Zuschauer. Denn der Rundfunkstaatsvertrag bietet über die allgemeine Beschwerde hinaus die Möglichkeit einer Eingabe in Form der „Programmbeschwerde“. Um einen Verstoß gegen die Programmrichtlinien zu rügen, muss besonders präzise argumentiert werden.
Dabei ist im Vergleich zu anderen Nachrichten-Formaten das Tagesschau-Ensemble noch das ansehnlichste. Die Hauptausgabe um 20:00 Uhr ist mit im Schnitt 9,11 Millionen Zuschauern mit Abstand die meistgesehene Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen. Als eine Art amtliche Vermittlung von Neuigkeiten empfiehlt es sich, die 15 Minuten zur Kenntnis zu nehmen, will man wissen, was in regierungsnahen Kreisen für wichtig erachtet wird. Auch wenn nicht wenige die Sendung in Hab-Acht-Haltung verfolgen, in der ständigen Erwartung, sich auch heute Abend wieder über Einseitigkeiten ärgern zu müssen. Das belegen tagtäglich die Zuschauer-Kommentare auf tagesschau.de. Durch die Lektüre des erwähnten Buches wird man für Techniken der Manipulation sensibilisiert und motiviert, diffuses Unbehagen durch eigene Recherchen auszugleichen.
Nehmen wir als beliebiges Beispiel dieser Tage die Berichterstattung über Venezuela. Das Narrativ, wie man heute bedeutungsvoll sagt, ist klar: Diktatur oder Demokratie, Misswirtschaft oder Wohlstand, Gewalt oder Rechtsstaatlichkeit. Dabei geht es hier vielmehr darum, dass die wohlhabende Klasse in Venezuela die Reformen von Chávez zugunsten der Armen nie akzeptiert hat. Es geht also um Verteilungsfragen, um die sozialpolitische Verfügung über die Einnahmen aus den reichen Ölvorkommen, um den bei erneuter Privatisierung zu befürchtenden Rückfall in die jahrhundertealte Marginalisierung der Unterschichten. Es geht um die Befürchtung, die rechte Oligarchie könne die Überbleibsel der Chávez-Revolution zerstören. Doch derartige Hintergründe sind in der Berichterstattung nicht vorgesehen.
Dass der im Westen verhasste Chávez-Nachfolger Maduro den „Wirtschaftskrieg des Unternehmerlagers“ für die schwere Versorgungskrise verantwortlich macht, da sie u.a. Tonnen von Lebensmitteln zerstört hätten, erfahren wir nicht. Zweifellos ist diese Lesart auch nur die halbe Wahrheit, aber bei den Halbwahrheiten der Opposition ist die Berichterstattung weniger zimperlich. Boykotte, Gewalt, Korruption und Verfassungsbruch finden sich leider auf beiden Seiten. Der einstige Vizepräsident Venezuelas, José Vicente Rangel, beschreibt es so: „Die Hauptverantwortung trägt die Führung der Opposition wegen ihrer Besessenheit, mit dem Chávismus Schluss zu machen, den Dialog zu verweigern, die Gewalt auf unverantwortliche Weise zu schüren. Aber ich gebe zu, dass es seitens des Chávismus Exzesse, Arroganz und falsche politische und ökonomische Maßnahmen gegeben hat.“
Die Folge ist, dass das demokratisch gewählte, wenn auch rechtspopulistisch dominierte Parlament die demokratisch gewählte Regierung nicht anerkennt und umgekehrt. Das Parlament hat drei Abgeordnete vereidigen lassen, denen Wahlbetrug nachgewiesen wurde. Woraufhin das Oberste Gericht entschieden hat, dass die Entscheidungen des Parlaments ungültig sind, solange diese Abgeordneten nicht abgezogen werden. Daraufhin hat wiederum das Parlament das Oberste Gericht für illegal erklärt und das Gerichtsgebäude wurde in Brand gesteckt. Wie zuvor schon eine Geburtsklinik und Kindergärten. Hat man davon in unseren öffentlich-rechtlichen Nachrichten je gehört?
Derzeit repräsentiert offenbar weder die Regierung noch die Opposition die Mehrheit der Venezolaner. Wie fast alle westlichen Regierungen unterstützt die deutsche dennoch die Opposition – Angela Merkel hat eben erst ihre Vertreter als Staatsgäste empfangen und zu verstehen gegeben, dass die EU nicht abgeneigt ist, sich den Trumpschen Sanktionen gegen die Regierung Maduro anzuschließen. Darin ist sie sich einig mit den Chefs in Frankreich, Spanien und Großbritannien. Regierungen dürfen parteiisch sein, wenn sie das ihren Wählern erklären können. Die Medien dürfen es gerade deshalb nicht. Sie müssten über alle Seiten objektiv berichten. Wir aber bekommen gar nicht mit, dass hier wieder ein Propagandakrieg läuft, die andere Seite ist fast völlig ausgeblendet, der Zug dieser Geschichte fährt nur auf einem Gleis. Die Tagesschau hat sich wiedermal auf die prowestliche Regierungsseite geschlagen. Obwohl die Sendesekunden knapp sind und ausschließlich neuen Informationen vorbehalten sein sollten, wiederholt sie Tag für Tag: Die Opposition fürchtet, Präsident Maduro werde eine Diktatur einführen. Immer wieder, bis es auch der letzte Zuschauer verinnerlicht hat.
Es gibt gewichtige Anhaltspunkte für solche Bedenken, die müssen hier nicht wiederholt werden, weil sie permanent dargelegt wurden. Es gibt allerdings auch mindestens so gewichtige Anhaltspunkte dagegen. Von denen hat man in der Tagesschau und in den meisten „Leitmedien“ nichts gehört. Oder nur einmalig an versteckter Stelle, so dass die Redaktion abgesichert ist. Warum erfahren wir nicht, dass Nicolás Maduro immer wieder bestätigt, dass Ende nächsten Jahres wie geplant Präsidentschaftswahlen abgehalten werden? Merkwürdiger Diktator. Und stimmt es, wie Reuters schon im Juni meldete, dass der Präsident ein Referendum über die neue Verfassung angekündigt hat? Das wäre dann immerhin eine Diktatur, über die das Volk das letzte Wort hat. Falls es nicht stimmt, warum fordert niemand zur Befriedung ein solches Referendum?
Stimmt es, wie ein offensichtlich sachkundiger Kommentator auf tagesschau.de schreibt, dass es für die verfassungsgebende Versammlung immerhin 6000 Kandidaten gab, von denen Jede und Jeder mindestens 1200 Unterschriften vorweisen musste, um antreten zu können? Dann wären bis zu 72000 Venezolaner direkt in die Auswahl der Kandidaten einbezogen gewesen, nicht nur Maduro persönlich, wie in der Berichterstattung unterstellt wird. Vielleicht schaffen die Korrespondenten es nicht, solche Angaben zu überprüfen. Vielleicht haben sie auch nicht den Auftrag. Das Ergebnis könnte nicht recht ins Diktaturbild passen.
Auch alles, was nicht zum Bild einer einzig für Demokratie stehenden Opposition passt, wird wegzensiert. Held der Berichterstattung ist Oppositionsführer Leopoldo López. Natürlich muss über seine erneute Verhaftung berichtet werden. Allerdings wäre es kein Nachteil, wenn man zusätzlich wüste, dass der einstige Harvard-Student schon den Putschversuch gegen den mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Hugo Chávez unterstützte, der nur durch den Widerstand der aufgebrachten Menge verhindert wurde. Auch soll er jetzt seinem Freund Trump eine Liste mit zu sanktionierenden Chávisten gegeben haben. Nicht uninteressant ist doch auch, dass die von Merkel geforderte Ausreisegenehmigung für seine Frau derzeit deshalb ausgesetzt ist, weil ein Gericht prüft, was es mit den 200 Millionen Bolivares (etwa 100 000 Euro) auf sich hat, die in ihrem Auto entdeckt wurden.
All das würde zwar nicht Maduros Verstöße gegen Pressefreiheit verständlicher machen, wohl aber die Nervosität im Regierungslager.
Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen seien über 100 Menschen umgekommen, heißt es immer wieder ganz neutral. Diese Opfer lastet man im Kontext der versimpelten Erzählung automatisch dem Diktator an. Denn von der Lynchjustiz der Opposition weiß man nichts. Etwa, dass der Anwalt José Félix Pineda, der für die verfassungsgebende Versammlung kandidierte, von oppositionellen Angreifern in seinem Haus erschossen wurde. Will man sich über die paramilitärischen Gruppen dieser Opposition informieren, über ihre Waffen und Ku-Klux-Klan-Methoden, mit denen sie einzelne, mutmaßliche Regierungsanhänger bei lebendigem Leibe angezündet haben, so muss man schon lateinamerikanische Quellen bemühen.
Aus dem Büro der Generalstaatsanwältin, die inzwischen ihr Amt niedergelegt hat, hätte man erfahren können, dass von diesen Opfern nach bisherigen Ermittlungen nur 14 auf das Handeln staatlicher Behörden oder Sicherheitskräfte zurückzuführen sind und die Täter fast alle bestraft wurden. 27 Tote sind Opfer gewaltsamer Oppositioneller, 14 Plünderer sind bei einem selbstgelegten Brand umgekommen und 44 Fälle sind noch umstritten.
Unterschlagen werden die Pläne des Rechtspopulisten Juan Requesens, der aus den Zielen seiner oppositionellen Partei „Primero Justicia“ kein Geheimnis macht: ein Klima der Unregierbarkeit schaffen, Venezuela lahmlegen, ausländische Interventionen befürworten und einer verfassungsgebenden Versammlung einen „heftigen Krieg“ liefern.
In der Tagesschau wird vielmehr die stolze Zahl von angeblich 7,5 Millionen Stimmen für die Opposition mehrfach wiederholt, ohne anzumerken, dass dies ein ganz und gar unbelegbares Ergebnis ist, da die Wahlzettel sofort nach diesem symbolischen Akt vernichtet wurden. Dagegen wissen die Hersteller der Wahlautomaten, die Londoner Firma Smartmatic, ohne die Wahlbehörde konsultiert zu haben, sofort und „ohne jeden Zweifel“, aber auch ohne jede Beweisführung, dass die Wahl der Kandidaten für die verfassungsgebende Versammlung gefälscht wurde. Die Tagesschau greift dies gern und vielfach auf. Für die Hintermänner ihrer Quelle interessiert sie sich nicht. Etwa für den Vorstandsvorsitzenden von Smartmatic, Mark Malloch-Brown, der auch im Vorstand der Open-Society-Stiftung des US-Milliardärs George Soros sitzt.
Diese Stiftung hat sich bekanntlich hervorgetan durch die Unterstützung der „Farbenrevolutionen“ in Georgien und der Ukraine, auch der jugoslawischen Regime-Change NGO Otpor, die sich offen zu der Strategie bekennt, die Wahlen der zu stürzenden Regierung medienwirksam als gefälscht darzustellen. Malloch-Brown ist auch Vorsitzender der „International Crisis Group“, in der Vertreter der USA, der EU, Kanadas, Mexikos, Perus und Kolumbiens der Opposition in Venezuela „mit Rat und technischer Unterstützung“ zur Seite stehen.
Wenn die größte Erdölgesellschaft Lateinamerikas, der Staatsbetrieb Petróleos de Venezuela, eine Kooperation mit Russland und China ankündigt, dann erhebt das der einstige Chef der US-Ölgesellschaft Exxon Mobile und jetzige Außenminister Rex Tillerson zum Problem der „nationalen Sicherheit“. Die Destabilisierungsversuche der CIA in Venezuela sind unter Kennern der Materie kein Tabu, ganz sicher aber in der Tagesschau. Ein Zuschauer belegt auf Tagesschau.de ein Zitat von CIA-Direktor Michael Pompeo: die USA habe großes Interesse sicherzustellen, dass ein wirtschaftlich so fähiges Land wie Venezuela stabil sei. Mit anderen Worten: nicht unter der Kontrolle von Sozialsten. „Wir arbeiten deshalb hart daran“.
So hart, dass der Rat der Wahlexperten Lateinamerikas nicht gehört wird: Das Ergebnis der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung sei „wahr und vertrauenswürdig“, es sei das gleiche System angewandt worden wie 2015, als die Opposition gewann. So hart, dass ständig wiederholt wurde, dass sieben Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten das Wahlergebnis nicht anerkennen, die logische Folge daraus aber, dass nämlich die übrigen 28 Mitglieder sie anerkennen, unterschlagen wurde. So hart, dass auch Präsident Maduro nicht wahrgenommen wird, wenn er die Opposition wiederholt vergeblich auffordert, das von der Verfassung festgelegte Überprüfen des Wahlergebnisses nicht weiter zu boykottieren. Wenn Trump dann jenseits jeder Rationalität Venezuela mit Krieg droht, fragt kaum noch jemand: Was hat er dort zu suchen? Was will er mitbringen? Selbstbestimmungs- oder Völkerrecht offensichtlich nicht.
Am 31. August hat der vielgeschmähte, da angeblich diktaturverliebte Verfassungskonvent ein Dekret über einen „nationalen Dialog zur Stabilisierung der Wirtschaft“ verabschiedet. Über ein Wirtschaftsmodell, das die Abhängigkeit vom Erdöl weitgehend überwindet, sollen sich gemeinsam Gedanken machen Unternehmen und Wirtschaftsvertreter, wie auch Arbeiter und Kommunale Räte. (Chávez war ein Anhänger des russischen Adligen und Verfechters der Rätedemokratie Kropotkin und hat mit seiner fortschrittlichen Verfassung vom März 2000 erste Strukturen eingeführt.) Von dieser Aufforderung des Verfassungskonvents „an alle, das Land aufzubauen“, hat man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nichts gehört.
Viele Zuschauer sehen sich von der Tagesschau und anderen Leitmedien nicht hinreichend mit unabhängigen und zweifelsfrei recherchierten Informationen versorgt, um sich zu Venezuela eine eigene, begründete Meinung bilden zu können. Das ist das eigentliche Dilemma. Weil es natürlich nicht nur Venezuela betrifft, sondern eigentlich das ganze Weltgeschehen. Es wird ein selektives Angebot von Symptomen serviert, das unerwünschte kausale Zusammenhänge weitgehend ausspart. Und das entgeht den Bürgern nicht, die den Mainstream-Medien nicht mehr trauen. Nach einer Untersuchung der Universität Mainz von Ende 2016 sind drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die Medien zumindest teilweise über Unerwünschtes nicht berichten. Doch löst dieser Befund die Unruhe aus, die die Kanzlerin angeblich erwartet? Sind staatlich finanzierte Studien zu dieser demokratiegefährdenden Situation in Auftrag gegeben? Ist externer Sachverstand, wie von der epd gefordert, vielleicht unnötig, weil die diensthabenden Journalisten selbstkritisch mit der Situation umgehen? Weit gefehlt.
Fundierte, kritische Analysen müssen gewöhnlich einzelne Fachleute ohne institutionelle Unterstützung in selbstausbeuterischer Privatinitiative stemmen. Die Autoren der „Macht um Acht“ haben bei der ARD zwischen Mai 2014 und Februar 2017 über 200 wohlrecherchierte Programmbeschwerden eingebracht, zu Themen, in denen ähnlich einseitig berichtet wurde, wie oben am Beispiel Venezuela veranschaulicht. Ihr Fazit: Die Pflicht zu objektiver Berichterstattung wird bei der Tagesschau immer wieder dahingehend missverstanden, das für objektiv zu halten, was die Regierung sagt. Dazu dient eine politisch motivierte Sprachregulierung, das Wording.
Dieser Logik folgen auch die meist in Privatbesitz befindlichen Nachrichtenagenturen. Mehr als 80 Prozent der Tagesschau-Informationen stammen aus gekauftem Agentur-Material. Das sind die marktführenden westlichen Agenturen, gemieden werden dagegen die großen indischen, chinesischen, lateinamerikanischen, gar afrikanischen Agenturen, von arabischen oder russischen ganz zu schweigen. Wer sich zu weit von der eigenen Darstellung entfernt, betreibt Propaganda. Eine solche Haltung prägt zwangsläufig Feindbilder. Zitiert wird einer, dem man nicht nachsagen kann, dass er nicht wusste, wovon er spricht, Peter Scholl-Latour: Wir leben im Zeitalter der medialen Massenverblödung.
Wie also reagiert in diesem Zeitalter ein Sender auf 200 Programmbeschwerden von einstigen Kollegen? Eingaben müssen innerhalb eines Monats vom Intendanten beantwortet werden. Doch es kamen nur Floskeln. Und zwar nicht vom Intendanten, sondern vom Chefredakteur, also dem Macher der Sendung: Mit Interesse gelesen… an Redaktion weitergegeben… aus Zeitgründen nicht auf alle Mails eingegangen. 200-mal Abwiegeln.
Ist der Beschwerdeführer mit der Antwort nicht zufrieden und begründet das schriftlich, muss der Rundfunkrat innerhalb von vier Monaten entscheiden, ob ein Verstoß gegen die staatsvertraglichen Programmrichtlinien vorliegt. Das Autoritäre an diesem Gesetz ist: inhaltlich begründen muss diese höhere Instanz ihre endgültige Entscheidung nicht. Die nicht demokratisch gewählten, sondern durch intransparente Beziehungen und interne Abhängigkeiten berufenen Vertreter der politischen Klasse im Rundfunkrat haben „nach intensiver Diskussion und ausführlicher Prüfung des Sachverhaltes“ ausnahmslos keinen Verstoß gegen die Grundsätze der Programmgestaltung gemäß Staatsvertrag feststellen können. Die auf den ersten Blick als demokratisches Angebot erscheinende Mitwirkungsmöglichkeit der Zuschauer erweist sich somit als reine Farce. Auch die „Qualitätsmedien“ haben von den dargestellten Programmverstößen keine Notiz genommen.
Die Autoren sprechen von dreistem Anspruch auf Unfehlbarkeit, aber es ist wohl schlimmer: Die Programm-Redakteure würden sicher auch lieber über brisante Hintergründe berichten, als die ewig gleichen Klischees zu wiederholen. Doch nur wenn sie – vielleicht sogar unbewusst – eben diese Klischees bedienen, können sie zu Recht davon ausgehen, im Sinne ihrer Auftraggeber alles richtig gemacht zu haben. Das Leugnen von Fehlern ist Unterwürfigkeit. Was die Macht erwartet, ist für die eigene Entwicklung allemal wichtiger als die Erwartungen der machtlosen Zuschauer. Deshalb haben sich viele Journalisten freiwillig zu einer Art mehr oder weniger geschickten PR-Agentur der Bosse in Wirtschaft, Politik und Kultur gemacht. Ja, man gewinnt den Eindruck, als horchten sie fast nur auf das Echo der sie fördernden Hierarchien – darüber hinausgehende Zuschauer und Leser sind gar keine Zielgruppe.
Wenn es für diese Diagnose noch eines Beweises bedürfte, ließe sich auf eine Studie der IG-Metall nahestehenden Otto-Brenner-Stiftung verweisen. Dort wurden 35 000 Berichte aus SZ, FAZ, Die Welt sowie tagesschau, News-Websites wie tagesschau.de oder spiegel.de und auch von Lokalzeitungen zum Thema Flüchtlingskrise untersucht. Fazit: die Medien sind ihrer demokratischen Funktion nicht gerecht geworden. Das berichtete verknappt sogar der faktenfinder von tagesschau.de am 22.7.2017, ohne alle Zahlen zu nennen. Die Hauptakteure des Geschehens, nämlich Flüchtende, Helfer und freiwillige Unterstützer kamen nur in 7,5 Prozent der Beiträge zu Wort. Genau 10-mal mehr musste man wiedermal den Politikern und ihren Behörden zuhören. Die Medien spiegelten die Politik, statt sich als neutral hinterfragende Instanz zu verhalten.
Und die Politik, einig wie nie, über die ganz Große Koalition einschließlich Linken und Grünen, verteidigte Willkommenskultur – was durchaus sympathisch war. Da aber Bedenken und Ängste medial kaum wahrgenommen wurden, förderte man indirekt andere Antwortgeber: Pegida, AfD, NPD. Deshalb konnte die Stimmung über Nacht kippen, über die Silvesternacht in Köln. Als nun allen voran der Innenminister und viele andere Politiker auf Distanz gingen, überboten sich plötzlich auch Beiträge der eben noch so zugewandten Medien in übertriebenen, oft hysterischen, jedenfalls weitgehend unbewiesenen Beschuldigen gegenüber jungen „Magrebinern“.
Was einmal mehr zeigte, dass der weitgehend affirmative Nachrichten-Journalismus Mitte und Maß verloren hat. Oder sein vorherrschendes Maß Opportunismus ist. Die Studie beklagt, dass die Diktion des Mainstreams die öffentliche Meinung so stark prägt, dass abweichende Positionen entweder nicht mehr gehört oder aus Angst, ausgegrenzt zu werden, gar nicht mehr geäußert würden. Diese Furcht vor Isolation führe in eine Schweigespirale.
Die Journalisten stehen vor der durchaus schwierigen Aufgabe, genau so viel Meinungsfreiheit zu demonstrieren, wie Scheinobjektivität erfordert, aber durch das Ausblenden von Ursachen und Interessen nicht anzuecken. Gerade durch dieses Taktieren verfehlt die Nachrichtengebung letztlich ihren Programmauftrag. Leser, Hörer und Zuschauer wandern ab, finden im Netz andere Öffentlichkeiten. So sie mögen, stoßen sie trotz allem auch auf Möglichkeiten zu Mitbestimmung bei der Programmgestaltung in den Rundfunksendern. Etwa die „Ständige Publikumskonferenz“ oder die „Initiative für einen Publikumsrat“. Oder eben auf all die Plattformen, die wie diese bewährten NachDenkSeiten Informationen bieten, die ansonsten fehlen. Es gibt immer Alternativen. Allerdings nicht nur auf Seiten der Vernunft. Rechtsdemagogen wissen Informationslücken zu nutzen. Dass medial manipulierte, entpolitisierte Menschen leichter zu bevormunden sind, könnte sich insofern als ein folgenschwerer Irrtum der herrschenden Eliten erweisen.
Idealismus Man könnte sagen, er sei ein Träumer: Ingo Schulzes Romanheld glaubt unverdrossen an das Glück
Was an Ingo Schulzes neuem Roman aus allen Rahmen fällt, ist seine Hauptfigur: ein begeisterungsfähiger Simplicius, der den behaupteten Idealen noch vertraut und damit quer zu jedem Zeitgeist liegt. Der Autor versteckt sich nicht hinter der Einfalt seines Helden, sondern stattet ihn mit Argumenten und Handlungsmotiven aus, die eigentlich nachvollziehbar sind, wenn man nicht längst im üblichen Pragmatismus, Opportunismus und Zynismus versunken ist. Dieser Peter Holtz wird nicht denunziert, auch wenn andere Figuren ihm zu Recht trefflich widersprechen. Wenn sein Irrtum zu groß wird, ist er sogar in der Lage, dies einzugestehen. Da wird eine Figur vorgestellt, die vergnüglich, aber auch irritierend vorlebt, dass nichts ungewisser ist als unsere vermeintlichen Gewissheiten. In einer Zeit, in der utopisches Denken weitgehend verkümmert ist und sich eigentlich niemand mehr eine Wirtschaft mit völlig anderer Funktionslogik vorstellen kann, ist das eine gehörige Provokation.
Erzogen von einem strikten und aus mehrfachen Gründen liebevollen Antifaschisten in einem DDR-Kinderheim, glaubt Peter an eine Art unschuldigen Urkommunismus. Einen Beitrag zu leisten zum Glück aller soll der Sinn seines Lebens sein. Schon in dieser Phase erwägt er die tollkühnsten Vorhaben, von der Abschaffung des Geldes bis zum Ausreiseantrag in die Sowjetunion. Doch seine Begeisterungsfähigkeit macht ihn bald anfällig für andere Glücksversprechen.
Unschuldiger Urkommunist
Autoren müssen oft erdulden, was Rezensenten in ihr Werk hineininterpretieren und herauslesen. Warum soll es Ingo Schulze besser gehen? Für mich hat die Dramaturgie des Buches etwas Faustisches. Zwar lässt das Werk sich durchaus komödiantisch an, doch gewinnt die Figur im Verlauf auch tragische Größe. Dieser Peter geht mit vielen Mephistos einen Pakt ein, die ihm versprechen, ihm zum Verweile-doch-du-bist-so-schön zu verhelfen, wenn er dafür nur seinen bisherigen Weg verlässt. Über den rechten Weg lässt Peter mit sich reden, über seine Ideale eigentlich nicht. Gestartet als proletarischer Maurer, führen ihn diese teuflischen Verführer, die gern auch Frauen sind, in alle möglichen Sphären des angeblichen Lebensgenusses, in denen er früher oder später scheitert.
Dass ihn ein Führungsoffizier der Stasi um Mitarbeit bittet, macht ihn stolz; mit seiner Naivität wird er aber schnell hinausgeschmissen. Mehrfach versucht er, in die SED aufgenommen zu werden, doch seine Art von Prinzipientreue ist den Genossen nicht geheuer.
Der Vater eines Kumpels wirbt ihn später für die Ost-CDU, deren Name er gern abändern würde in „Christlich kommunistische Demokraten“. Denn christliche Nächstenliebe ist für ihn vor allem Klassenkampf. Nachsichtig wird der Vorschlag überhört und er steigt eher ungewollt zur rechten Hand des Vorsitzenden auf. In den Wendewirren erreicht sein Revoluzzertum den Höhepunkt. Nicht nur die DDR, sondern auch die BRD will er revolutionieren. Doch der zur Vereinigung sprungbereite Westen zeigt wenig Neigung zu Erneuerung. Ein bedauerlicher Schicksalsschlag stellt, oder besser legt, Peter Holtz ins Abseits. Er zieht sich zurück, überzeugt, die Konterrevolution habe sich der Revolution bemächtigt, das Volk sich freiwillig an Geschäftemacher und Ganoven jeder Art verkauft.
Da seine Beziehung zu Gott sich auf die Dauer doch nicht als stabil genug erweist, sucht er sein Heil nun bei jenen, die ihn überreden, mit der Marktwirtschaft den Glückssehnsüchten der Menschen am besten dienen zu können. Der Mephisto aus der Immobilienbranche erweist sich dabei als der erfolgreichste. Peter will aber auch mit seinen Häusern Gutes tun, erwägt, sie an die Mieter zu verschenken, bietet Prostituierten bessere Unterkünfte, der Dank hält sich in Grenzen. Er eröffnet eine Galerie, hat verstanden, dass mitunter nur die Kunst Glück bringt. Doch all sein Altruismus kann nicht verhindern, dass er zum Multimillionär wird. Hatte der klassische Mephisto das Papiergeld eingeführt und die Landgewinnung gepriesen, so kommen Ingo Schulzes Bösewichte mit den Segnungen von Eigentum und Bankwesen daher.
Sein einstiger Maurer weiß jedoch noch, was Arbeit ist; Geld für sich arbeiten zu lassen, lehnt er ab. Seine Vision bleibt, das Gute in der Welt zu mehren, nicht sein Vermögen. Wohltätigkeit ist auch keine Lösung. Sie entwürdigt, hat er erfahren. Bleibt nur, radikaler zu denken und zu handeln. Schließlich übernimmt dieser Peter Holtz die Rolle des Mephisto selbst, tut, wovon alle abraten. Da es unmöglich ist, Geld mit Anstand loszuwerden, vernichtet er seine Millionen in öffentlichen Kunstaktionen. Alle verlassen ihn, auch die Frauen. Zuletzt bringen ihn lemurenähnliche Gestalten an einen Ort, der zweifellos alles andere als ein Glücksort ist, aber er ist sicher, seinen Platz gefunden zu haben, glaubt an so etwas wie die höchste Erfüllung. Wer immer strebend sich bemüht, kann am Ende des Romans erlöst werden.
Der Handlung fehlt es nicht an Dramatik, die sich in der zweiten Hälfte noch steigert. Ingo Schulze verfügt über präzise Detailkenntnisse der jeweiligen Jahre, hemmungslos konfrontiert er seine Personnage mit authentischen Personen der Zeitgeschichte, denen gegenüber sie sich zu bewähren haben. Oder ist es umgekehrt?
Das Geld findet ihn. Wie wird er es jetzt würdevoll wieder los?
Wie schon in seinen vorherigen Büchern verknüpft Schulze kunstvoll bunteste Erzählfäden, führt souverän ein großes Figurenensemble aus dem alltäglichen Wahnsinn vor. Ehrliche Häute und raffinierte Blender, Wendehälse und Halsstarrige, Gewalttätige und Eingeschüchterte, Unternehmungslustige und Resignierte. Die eine oder andere Begegnung bleibt flüchtig und verzichtbar, während man gelegentlich auf etwas neugierig gemacht wird, vor dessen Schilderung der Autor sich dann drückt. Wie die überraschende Einladung Peters zu einer französischen Baronesse, ein Abend, der sicher komisch gewesen sein muss.
Doch man soll Autoren nicht vorwerfen, dass sie ihre Bücher nicht so geschrieben haben, wie der jeweilige Leser es sich ausmalt, sondern so, wie sie es wollten. Der unzulässige Versuch, die Kunst zu vergesellschaften und die Handlung basisdemokratisch zu beeinflussen zeigt nur, wie sehr man sie für sich angenommen hat. Dieser Typ mit seiner Fähigkeit, alles in Frage zu stellen, kann einem ans Herz wachsen und lässt einen den Kopf schütteln. Ingo Schulze ist ein ebenso hintergründiger wie amüsanter Roman gelungen.
Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst Ingo Schulze S. Fischer Verlage 2017, 576 S., 22 €