Autorin sieht Ost und West als voneinander abhängig an
Daniela Dahn im Gespräch mit Klaus Pokatzky
Nach Meinung der Autorin Daniela Dahn ist die soziale Marktwirtschaft als Gegenmodell zu den sozialistischen Ländern entstanden: „Ich glaube schon, dass der Osten dem Westen eine soziale Legitimation abgefordert hat, die ihm jetzt niemand mehr abfordert“. Diese „Zähmungskraft“ sei mit der Wende weggebrochen und so habe sich eine neoliberale Politik der Deregulierung durchsetzen können.
Klaus Pokatzky: „Wehe den Besiegten! Vae victis!“ Das ist ein höhnischer Spruch, der seit den Kriegen zwischen den Römern und den Kelten im 4. Jahrhundert vor Christus durch die Weltgeschichte geistert. „Wehe dem Sieger!“, das klingt zunächst einmal als ein ironischer Gegenentwurf. „Wehe dem Sieger!“ mit dem Untertitel „Ohne Osten kein Westen“, so heißt ein Buch von Daniela Dahn über unsere deutschdeutschen Befindlichkeiten, das jetzt im Rowohlt-Verlag erschienen ist. Willkommen im Studio, Frau Dahn!
Daniela Dahn: Guten Tag!
Pokatzky: Ist der Titel auch wirklich ironisch gemeint oder ist das eher eine Drohung?
Dahn: Es gibt ja auch ironische Drohungen. Also es ist schon, sagen wir mal, ein kleiner Warnschuss. Ich setze dem Buch auch ein Zitat von Aischylos 500 Jahre vor unserer Zeit voraus, der das noch mal zusammenfasst, der nämlich sagt: Nur wenn die Sieger die Tempel der Besiegten achten, dann vielleicht erliegen sie nicht dem eigenen Sieg. Und das ist eben eine meiner Ansätze, dass die Sieger mit einer ziemlichen Selbstgerechtigkeit an ihr Erbe gegangen sind und deshalb aus Ihrem Sieg ziemlich wenig machen konnten.
Pokatzky: Wer sind die Sieger? Bin ich ein Sieger, der ich im Westen geboren wurde, fast zur selben Zeit wie Sie, die Sie da im Osten geboren sind?
Dahn: Also zunächst, ’89/’90 hatte man schon den Eindruck, dass das westliche System, der Kapitalismus, der Sieger ist und die in diesem System den Ton angeben. Das waren vermutlich nur bedingt wir beide, sondern das war zum Beispiel die Deutsche Bank, die 1990 das beste Geschäftsjahr in ihrer Geschichte hatte, das waren die 40 Prozent Millionäre, die in der Bundesrepublik hinzugekommen sind, das waren die Leute, die in Treuhand und Versicherungen ihren Schnitt gemacht haben – die bezeichne ich als die Sieger.
Mental konnte man im ersten Moment annehmen, dass auch die Bürger die Sieger wären, weil sie möglicherweise ein bisschen aus der friedlichen Revolution, die ’89 da mal angedacht war, hinüberretten konnten, und es ist nicht zu bestreiten, dass es eine ganze Menge Normalisierungen auch gegeben hat in diesen letzten 20 Jahren. Also wenn man im Osten durch die Städte und Dörfer geht, sieht man, dass es vieles verwandelt hat, freundlicher an den Fassaden aussieht, dass die Infrastruktur sich verbessert hat, dass die Leute reisen, dass es keine Mängel in der Versorgung zumindest mehr gibt. Die Mängel sind woanders hingewandert – in die Bildung, in die Gesundheitsversorgung. Aber unterm Strich war doch der Ansatz ein anderer, ein Zugewinn an …
Pokatzky: Für wen?
Dahn: Für den Bürger – an Demokratie, eine Gesellschaft, in der vielleicht erstmalig sowohl die freiheitlichen Bürgerrechte wie auch die sozialen gewährleistet würden. Eine solche Gesellschaft hat’s nämlich in der Geschichte noch nicht gegeben. Und das war eigentlich der Ansatz von ’89, dass wir eine solche Gesellschaft erstmalig mit errichten wollen, in der sowohl Freiheit als auch Gleichheit annähernd
realisiert sind. Und das hat sich als Irrtum erwiesen.
Pokatzky: Aber diese Wahl haben die Bürger der DDR bei den ersten und einzigen wirklich freien Volkskammerwahlen im März 1990 für sich selber getroffen. Und sie haben sich damit auch – sie waren ja, wenn wir uns die anderen Staaten im Ostblock ansehen, am allerbesten informiert, was die westliche Seite anging, über unsere Westmedien, über das Radio, über das Fernsehen vor allem – sie haben sich damit auch nicht wissentlich für die Deutsche Bank und den Kapitalismus der alten Bundesrepublik entschieden?
Dahn: Also dass sie sich selber entschieden haben, da muss ich Ihnen leider Recht geben. Sie glaubten, das Kapital zu wählen, und wählten im Grunde genommen die Kapitulation. Dass sie sehr gut informiert waren, da würde ich Ihnen nicht Recht geben, das ist noch ein Phänomen, was aufgearbeitet werden muss, wie zwischen November ’89 und März ’90 ein völlig Umschwung der Meinungen auch über die Medien gelaufen ist, was da an Versprechen von blühenden Gärten – wir erinnern uns alle – bis totalem Bankrott und bald keine Löhne mehr auszahlen können. Da ist auch eine Menge Desinformation gelaufen, was sich im Nachhinein alles als überzogen und falsch und hysterisch herausgestellt hat. Also wenn man den Eindruck hatte, hier ist alles völlig am Zusammenbrechen, dann kann man ja nur noch die Gegenseite wählen. Erst im Nachhinein hat man, glaube ich, bemerkt, dass man da einiges auch übersehen hat.
Pokatzky: Was haben wir übersehen? Was ist nicht zusammengebrochen?
Dahn: Man hat übersehen, dass dieser Aufbruch eigentlich nicht da enden sollte, eine schlechte Kopie des Westens zu werden. Und man hat, glaube ich, übersehen, dass beide Seiten, mehr als man wahrgenommen hat, eine gemeinsame Statik hatten, dass die gar nicht autonome Systeme waren, sondern Gegenmodelle, die viel mehr, als wir glauben, aufeinander fixiert sind. Es ist kein Zufall, dass die
Soziale Marktwirtschaft eigentlich erst mit dem Erwachsen des sozialistischen Weltsystems entstanden ist und mit ihm auch zugrunde gegangen ist. Diese Sache versuche ich in meinem Buch, oft belegt durch Fakten und Recherchen, etwas näher zu beleuchten. Ich behaupte ja nicht, dass es die einzige Ursache ist, es ist aber ein Punkt, der bisher zu wenig beachtet wird.
Pokatzky: Ich spreche mit der Schriftstellerin Daniela Dahn über Ihr Buch „Wehe dem Sieger“ mit dem Untertitel „Ohne Osten kein Westen“. Waren wir siamesische Zwillinge, wenn Sie sagen, ohne Osten kein Westen, wäre ja dann die Kehrseite der Medaille, ohne Westen kein Osten.
Dahn: Richtig, richtig. Ich denke schon, dass wir, ja, poetisch gesprochen könnte man es siamesische Zwillinge nennen, auf jeden Fall hingen wir in gewisser Weise politisch sozial an einer Nabelschnur. Ich glaube schon, dass der Osten dem Westen eine soziale Legitimation abgefordert hat, die ihm jetzt niemand mehr abfordert. Und diese Art Zähmungskraft, die hat man unterschätzt, was passieren würde, wenn die wegbricht. Und für mich ist das perfekte Indiz für diese These, dass 1990 mit dem Konsens von Washington die Schocktherapie so richtig losging.
Pokatzky: Was meinen Sie jetzt mit dem Konsens von Washington?
Dahn: Da trafen sich in Washington Vertreter von einflussreichen, also Lobbyisten, wenn Sie so wollen, des Finanzkapitals, diese neoliberale Politik – also der Privatisierung, der Deregulierung, alles dessen, was auch die Dritte Welt an Anpassung unternehmen musste, um sich dem Neoliberalismus vollkommen zu
unterwerfen und im Grunde den Regierungen das Regieren aus der Hand zu nehmen und das der Wirtschaft zu überlassen.
Pokatzky: Aber die Soziale Marktwirtschaft in der alten Bundesrepublik ist ja zu einem Zeitpunkt entstanden, gleich in den ersten Jahren der Bundesrepublik und schon vorher angedacht, vielleicht auch viel eher aufgrund der historischen Erfahrungen, was Deutschland auch in der Weimarer Republik anging, also richtige Klassenkämpfe, später Nationalsozialismus, also angedacht und dann auch realisiert worden durch jemanden wie Ludwig Erhard und natürlich dann auch die aufblühende Industrie, die von dieser Form der Konsensdemokratie unheimlich profitiert hat, als die DDR sozusagen als sozialistisches Gegenmodell ja noch im Werden begriffen war. Und glauben Sie wirklich, dass heute, wenn wir uns ansehen, Angela Merkel wird ja oft und gern gerade von Journalisten auch bezeichnet als die erste sozialdemokratische Bundeskanzlerin, glauben Sie wirklich, dass wir in einem System leben, wo der Neoliberalismus den Durchzug machen wird, gerade jetzt vor dem Hintergrund der internationalen Finanzkrise, wo eher ja sozusagen der Neoliberalismus seine hässlichste Fratze gezeigt hat?
Dahn: Das ist ja keine Frage des Glaubens, der Neoliberalismus hat bereits seinen Durchzug gemacht, und wir sind im Moment dabei, den Status quo möglichst schnell wieder herzustellen, wie man auch an den FDP-Wahlergebnissen sieht. Natürlich hat diese Kraft nicht die DDR ausgeübt. Ich spreche ja von dem
sozialistischen oder man kann auch sagen pseudosozialistischen Weltsystem. Ich meine, nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die sozialistischen Länder, ausgehend natürlich von dem Machtzentrum in Moskau, über Europa ausgebreitet. Der Westen hatte unheimliche Angst, dass er sich auf die ganze Welt ausbreitet, und Al Gore beschreibt das sehr schön in seinem ersten Buch, wie die gesamte Innen- und Außenpolitik der USA nur ein einziges Ziel hatte, nämlich den Kommunismus zurückzudrängen. Und dazu gehörte ein großes Sozialprogramm. Also ich glaube schon, dass – oder ich bezweifle oder ich stelle zumindest die Frage, ob der Kapitalismus in sich selbst die Kräfte hat, seine destruktiven Wirkungen zu begrenzen.
Pokatzky: Und welche Antwort geben Sie?
Dahn: Ich bezweifle es.
Pokatzky: Sie bezweifeln es. Was hätte 1989/90 anders laufen müssen, damit Sie heute positiver reden könnten?
Dahn: Also wenn ich das System infrage stelle, dann ist es mir wichtig zu sagen, dass ich damit nicht die Gesamtheit natürlich infrage stelle. Ich glaube, dass Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat sehr bewahrenswerte Dinge sind, die gefährdet sind und die ich ganz und gar unterstütze und stärken möchte.
Pokatzky: Durch wen oder was gefährdet?
Dahn: Ja, eigentlich durch die kapitalistische Wirtschaftsform. Was ich infrage stelle, ist eben diese Wirtschaftsform, und da haben wir ja Gott sei Dank in dem schönen Grundgesetz, das wir haben, allen Spielraum, den wir brauchen, weil das Grundgesetz sich in der Wirtschaftsordnung in gar keiner Weise festlegt, sodass wir, und das scheint mir die wichtigste Aufgabe der künftigen Zeit, darüber nachzudenken, wie man ein anderes Wirtschaftssystem installieren könnte und wie das sein müsste.
Pokatzky: Aber wo bedrohen konkret Unternehmen oder Kapitalisten unsere demokratische Grundordnung?
Dahn: Das würde ich gar nicht auf einzelne Personen reduzieren. Es sind die Strukturen des Kapitalismus, die die Demokratie bedrohen. Es ist das Prinzip der Profitmaximierung, die den Menschen, den Unternehmern, den Bankiers gar keine andere Wahl lassen, als so zu handeln, wie sie handeln. Dieses Prinzip muss gekippt werden. Und wenn der Pseudosozialismus eine historisch zu nennende Leistung
vollbracht hat, dann ist es die oder dann war es die, dass Bankiers und Großunternehmer und Großgrundbesitzer nicht mehr den Ton angaben. Das war eine ganz entscheidende, auch aufregende, neue Erfahrung, die im Nachhinein viel zu wenig reflektiert wird.
Pokatzky: Warum hat dann die Partei, in der sich ja die Menschen, die ähnliche Ideen wie Sie vertreten, versammelt haben, also die Linke, warum hat sie dann nicht sehr viel mehr Zulauf in diesen Zeiten, wo sich ja die Exzesse des Turbokapitalismus gezeigt haben?
Dahn: Ja, das sind einige der schwer zu beantwortenden Fragen. Offensichtlich haben da jetzt keine Antworten und Lösungen vorgelegen, die überzeugen. Ich meine, sie hat ja sich leicht verbessert, sie gehört zu den beiden einzigen Parteien jetzt auch in der Europawahl, die leicht hinzugewonnen hat.
Dennoch hätte auch ich gedacht, dass eine Krise des Systems wie diese alternativen Gedanken mehr Möglichkeiten gibt. Darüber wird nachzudenken sein.
Pokatzky: Sind Sie gerne mit mir wiedervereinigt?
Dahn: Ach klar, ist doch nett, hier mit Ihnen zu sitzen und zu plaudern!
Pokatzky: Danke, Daniela Dahn!
Ihr Buch „Wehe dem Sieger!“ ist im Rowohlt-Verlag erschienen, es hat 304 Seiten und kostet 18,90 Euro.
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