(Auszug aus dem Buch „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“, S. 215 ff)
Dies ist die Geschichte der 15 jährigen Sanja aus dem serbischen Städtchen Varvarin. Seit ein paar Monaten besuchte das begabte Mädchen das mathematische Elite-Gymnasium in Belgrad. Der Stolz der Familie – sie würde eines Tages die Enge der Provinz überwinden. Doch als die ersten Bomben auf Belgrad fallen, holt ihre besorgte Mutter sie sofort aufs sicher geglaubte Land zurück. Das nächste militärische Ziel, eine alte Kaserne, liegt hier 22 Kilometer entfernt. Und zwischen ihnen und dem Kosovo erhebt sich gar ein Gebirge.
Am Pfingstsonntag, in der serbisch-orthodoxen Kirche das Fest des ewigen Lebens, haben sich Sanja und ihre beiden Freundinnen herausgeputzt zum Kirchgang. Mutter Vesna bleibt zu Hause, um das Familienfest vorzubereiten. Im Städtchen herrscht buntes Treiben, auch der Wochenmarkt bietet Festliches. Auf dem Heimweg mittags um eins, überqueren die drei Mädchen gerade die schmale Brücke über das Flüsschen Morava, als aus wahrlich heiterem Himmel zwei Kampfjets auf sie zu jagen. Wie mit der Axt durchtrennt bricht die Brücke sofort auseinander und stürzt in den Fluss. Die drei Mädchen sind schwer verletzt, Sanja hängt mit dem Kopf nach unten über dem Wasser, aber lebt. Von beiden Seiten eilen Männer zu den Trümmern, um den schreienden Kindern zu helfen. In dem Moment stürzen sich zwei weitere Flugzeuge mit ihrer tödlichen Ladung auf die längst zerstörte Brücke. Was jetzt folgt ist reine Menschenjagd, purer Terrorismus.
Acht Retter sind tot. Kommt ein dritter Angriff? Inzwischen hängt Sanjas Kopf halb im Wasser, sie ist bewusstlos. Durch die Detonationen aufgeschreckt ist Vesna eingetroffen, halb irre vor Angst um ihr Kind steigt sie in den Fluss – die Strömung reißt sie weg. Es dauert eine Weile, bis Sanja auf ein Brett gelegt und ins Krankenhaus gebracht werden kann. Sie hat eine große Wunde vom Rücken bis zum Bein, Splitter im ganzen Körper. Sie stirbt im OP. Ihre Mutter glaubt den Ärzten nicht, trägt das tote Kind ins Auto, wäscht und wärmt es zu Hause, bis sie zusammenbricht …
Am selben Tag meldete das Supreme Headquarter der Allied Powers der Nato, in Varvarin hätten vier Flugzeuge mit präzisionsgelenkten Waffen alle vorgesehenen Ziele erfolgreich getroffen. Die Autobahnbrücke sei eine Hauptkommunikationslinie und damit ein legitimes Ziel gewesen. Anstatt dass sich am Tag des ewigen Lebens bei den Varvarinern jemand entschuldigt, werden sie verhöhnt. Eine Autobahn hat es in ihrem Städtchen nie gegeben. Die 80 Jahre alte Brücke konnte nur einspurig in eine Richtung befahren werden, so schmal war sie. Jeder Militärtransport wäre darauf eingebrochen. Zudem führte die Landstraße am Gebirge in eine Sackgasse, von Nachschublinie ins Kosovo keine Spur.
Beteiligung an Staatsverbrechen?
… So hatten sich viele ostdeutsche Bürgerrechtler, aber auch Juristen, Wissenschaftler und Militärs den Rechtsstaat nicht vorgestellt. Dem Ostberliner Ehepaar K. und einigen Mitstreitern war es immerhin gelungen, vor dem Landgericht Bonn im Namen der Opfer von Varvarin eine Klage auf Schadenersatz und Schmerzensgeld als zulässig durchzukriegen. Die Klage berief sich darauf, dass die Beteiligung Deutschlands gegen die UN-Charta und das Grundgesetz verstoße und sich die Verantwortlichen nicht nur durch ihre Zustimmung zu den Ziellisten, die zivile Anlagen der Infrastruktur erfasst haben, strafbar gemacht hätten, sondern zusätzlich dadurch, dass die Bundeswehrtornados Beihilfe durch Aufklären von Zieldetails geleistet und die Bomber-Angriffsgruppe durch Luftabwehr gesichert hätten.
Die Ansprüche wurden zwar als unbegründet abgelehnt, gingen aber mit Revisionen bis zum Bundesgerichtshof. Der Prozess wurde tatsächlich in allen großen Zeitungen als ein „Verfahren für die Rechtsgeschichte“ mit Spannung verfolgt. Fand er doch in einer Umbruchphase des Völkerrechts statt, in der einzelne Täter verantwortlich gemacht und Opfer individuell geschützt werden. Wenn Individuen verklagt werden dürfen, müssten sie doch folgerichtig auch das Recht haben, selbst zu klagen – so die herausfordernde neue Frage.
Doch so mutig wollte der BGH nicht sein. Er blieb bei der alten Regel, wonach Ansprüche nicht geschädigte Personen, sondern nur deren Heimatstaaten hätten. Aber Restjugoslawien war als im Zerfall befindlich von der UNO als Mitglied kurzerhand ausgeschlossen worden, es war damit als Rechtssubjekt bedauerlicherweise untergegangen. Die noch während des Krieges von der Belgrader Regierung beim IGH eingereichte Klage gegen alle beteiligten Nato-Staaten wegen des Führens eines Angriffskrieges wurde abgewiesen, die Vorwürfe in der Sache mussten gar nicht erst untersucht werden. Das Gericht wies vorsichtshalber dennoch darauf hin, dass den staatlichen Stellen bei der Auswahl der Bombenziele ein umfangreicher, wegen der Geheimhaltung „gerichtlich nicht nachprüfbarer Beurteilungsspielraum“ zustünde. Gerichtlich nicht nachprüfbarer Spielraum – also rechtsfreier Raum –, wer von uns könnte sich wohl auf ein solches Privileg berufen? Was die Prozesskosten betraf, sah das Gericht keinerlei Spielraum, den mittellosen Klägern weiteres Leid zu ersparen. Es drohte ihnen mit Pfändung, falls sie die 16 000 Euro nicht pünktlich aufbringen. Hier musste offenbar ein Präzedenzfall für weitere Klageflut vermieden werden. Wie staatstragend darf Justiz sein?
Die ostdeutschen Initiatoren, von ihrer Gerechtigkeitsmission und solidarischen Pflicht überzeugt, wollten sich dennoch nicht geschlagen geben, und reichten im Namen der serbischen Opfer von Varvarin Verfassungsbeschwerde beim BVG ein. Sie sahen mit der Ablehnung der Entschädigung zwölf Grundgesetzartikel verletzt, darunter 2/1; 14; 19/4; 25; 26 und 100/2. Das BVG ließ sich sechs Jahre Zeit. Den Entscheidungsvorschlag machte schließlich als Berichterstatter Richter Peter Müller, der als CDU-Ministerpräsident die „humanitäre Intervention“ einst begrüßt hatte. Das muss nichts heißen, muss aber auch nicht unerwähnt bleiben. Am 13. 8. 2013 begründete das Gericht seinen Entschluss, die Verfassungsbeschwerde mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung anzunehmen. Für die Medien hatte sich der Fall längst erledigt, dabei war die Begründung doch noch sehr aufschlussreich.
Zwar gäbe es vereinzelt Fälle, in denen Geschädigte von „bewaffneten Auseinandersetzungen“ eine Entschädigung durch den verantwortlichen Staat zugebilligt worden sei. Eine „Verdichtung“ dieser Fälle zu einer gewohnheitsrechtlichen Regel „lässt sich jedoch – jedenfalls derzeit – nicht feststellen“. Nun hätte das BVG ja mutig zu einer solchen, zweifellos der Gerechtigkeit dienenden, „Verdichtung“ beitragen und damit Rechtsgeschichte schreiben können. Aber dazu hätte es Männerstolz vor Königsthronen bedurft.
Der wiederum hätte zu einem anderen Umgang von nationalen (und internationalen) Gerichten mit der Nato geführt. Dort gilt das Prinzip des „need to know“, nach der es militärischer Praxis entspricht, dass nur die unmittelbar an dem Angriff Beteiligten die dafür notwendigen Informationen erhalten. Eine alte Geheimdienst-Regel. Die auch rückwirkend gilt. Das heißt, es war weder den Klägern noch den Gerichten möglich, zu ermitteln, was genau die Rolle der deutschen Aufklärungsflugzeuge war, ob sie den Angriff direkt abgesichert haben oder „Fahrlässigkeit“ schon allein durch die Zielauswahl nachzuweisen ist. Sicher habe es sich bei der Brücke „nicht um einen Hauptverkehrsweg“ gehandelt, so das BVG, aber sie vorsorglich in „völkerrechtskonformer Weise zu zerstören“ hätte dennoch dazu beitragen können, „das Ziel der Abwendung einer humanitären Katastrophe zu erreichen“. Du lieber Himmel!
Der Streit darüber, bei wem die Beweislast gelegen habe, war völlig überflüssig, weil beide Seiten nichts beweisen konnten. Militär kann sich offenbar bei Anklagen hinter Geheimhaltungsgeboten verstecken, Verantwortliche als Zeugen vorzuladen, ist nicht vorgesehen. In hoheitlichen Bereichen, also in allem wirklich Lebenswichtigen, haben Politiker und Militärs Spielräume, die nur sehr eingeschränkt auf sachliche Richtigkeit zu überprüfen sind. Das Gericht muss in derartiger Unkenntnis zurückhaltend entscheiden. Sicherlich haben die Richter bei diesem heißen Thema nicht gewagt, ihren Ermessensspielraum auszuschöpfen. Sie sind andererseits aber an eine Rechtsprechung und an ein nationales und internationales Recht gebunden, mit denen sich die Macht gegen Angreifbarkeit abgesichert hat. Das ist die eigentliche Crux.
Auf eine allgemeiner gehaltene Klage gegen die Nato bekam Rechtsanwalt Fiand von Oberstaatsanwalt Hemberger am 26. 8. 1999 die Antwort, der Krieg könne schon deshalb kein Völkermord gewesen sein, da sich „die militärischen Maßnahmen nicht gegen das in Restjugoslawien lebende Staatsvolk“ der Serben gerichtet hätten, „sondern vielmehr gegen die Führung der Föderativen Republik Jugoslawien, insbesondere Slobodan Milosevic“. Wer also meint, eine zu stürzende Regierung so unter Druck setzen zu müssen, dass die gesamte Infrastruktur des Landes bombardiert werden darf, ist juristisch abgesichert?
Ist die Nato überhaupt ein verklagbares Rechtssubjekt? Zumindest ist sie trotz zahlloser Aktionen, die sich dem sogenannten gesunden Menschverstand als klare Kriegsverbrechen darstellen, noch nie verklagt worden. Die Mächtigen haben es trotz Weltrechtsprinzip verstanden, sich weitgehend politische Immunität zu verschaffen und so vor Strafverfolgung zu schützen. Verfolgt werden vorerst nur die politischen Gegner. Wie reagierte doch die Chefanklägerin des Internationalen Gerichtshofs, Carla Del Ponte, am 30. 12. 1999 auf die Frage der New York Times, warum die Klage Jugoslawiens zurückgewiesen wird? „Das Tribunal hat wichtigere Aufgaben, als Ermittlungen gegen westliche Führungen, die die besten Stützen des Gerichtshofes sind.“