ZWEITES DEUTSCHES SOZIALFORUM IN COTTBUS*
Zwischen gewerkschaftlicher Offensive und mangelndem demokratischem Eigensinn
Es ist ermutigend zu hören, dass in Umfragen die Wertschätzung für Gewerkschaften wieder wächst, und es ist angenehm zu sehen, dass sie auf diesem Sozialforum Ende Oktober in Cottbus mehr Präsenz zeigen als beim ersten Treffen dieser Art in Erfurt im Juli 2005. Die privilegierte Partnerschaft mit der SPD sei vom Tisch, hörte man von IG-Metallern. Es würden nun Zweckkoalitionen mit denen eingegangen, die in Einzelfragen gleiche Ziele vertreten. Die größte Schnittmenge ergibt sich derzeit offensichtlich mit der Linken, aber bestimmte Forderungen seien auch mit ein paar Wackeren aus der SPD oder aus den Sozialverbänden der CDU zu erreichen, und soziale Bewegungen wie attac immer willkommen.
Langsam, aber hoffentlich sicher erwachen jetzt Gewerkschaften aus ihrer Duldungsstarre, in die sie angesichts ihres Funktionswandels im so genannten Turbo-Kapitalismus verfallen waren. Wenn ihre Machtbasis im Betrieb erodiert, dann muss die gewerkschaftliche Mitbestimmung über den Betrieb hinaus reichen. Deshalb denken die Gewerkschaften über Strategien nach, Kernfelder früherer Regelungsmacht zurück zu gewinnen. Zumindest die IG-Metall, aber auch verdi setzen darauf, ihren Einfluss auf die Politik zu erhöhen und wieder stärker Teil der Zivilgesellschaft zu werden. Der DGB hat die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitssuchende lange vor dem SPD-Vorsitzenden verlangt. Gewerkschaft als Trendsetter – das haben wir lange nicht gehabt. Dies wird natürlich nur gelingen, wenn mehr und mehr Mitglieder darin ihre Chance erkennen.
In meiner Rede zur Eröffnung des Sozialforums war ich der Frage nachgegangen, wie belastbar die Fundamente der Demokratie angesichts all der besorgniserregenden Verwerfungen im Sozialen sind. In diesem Zusammenhang kann man das grundgesetzliche Ewigkeitsgebot zum Sozialstaatsprinzip gar nicht oft genug in Erinnerung rufen: Nach Artikel 20 ist die Bundesrepublik „ein demokratischer und sozialer“ Staat, und diese Festlegung darf nach Artikel 79 GG durch keine Zweidrittelmehrheit und keine Dreidrittelmehrheit jemals verändert werden.
Ich fragte: Haben wir noch einen Sozialstaat? Leider gibt es dafür keine verbindliche Definition. Es handelt sich wohl eher um einen gesellschaftlichen Pakt, der ständig neu ausgehandelt werden muss. Aus der Sicht vieler Menschen in armen Ländern – und das ist uns bewusst – sind die Lebensbedingungen in Deutschland immer noch beneidenswert gut. Noch nie war soviel Wohlstand zu verteilen wie heute. Da man dies weiß und sich gleichzeitig erinnert, welche Sozialleistungen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts dank starker Gewerkschaften und einer lebhaften Systemkonkurrenz schon einmal möglich waren, ist Genügsamkeit fehl am Platze. Schließlich haben sich die Durchschnittsnettolöhne in den vergangenen 20 Jahren nicht erhöht, während die Preise, nicht zuletzt durch die Euro-Einführung, heftig gestiegen sind. Zugleich ist aber die Arbeitsproduktivität um fast ein Viertel gewachsen. Warum kam von dem Gewinn an der Basis nichts an? Weil der Gesetzgeber nicht gerecht verteilt. Wessen Interessen vertritt er also?
Der Charakter eines Systems offenbart sich bekanntlich darin, wie es mit den Schwachen umgeht. Und wie mit den Starken. Wie viel Reichtum und Rendite angesichts sozialer Not Bestandsschutz hat. Wenn Millionen Beschäftigte im Niedriglohnbereich mit ihrer Vollzeitarbeit das Leben der Familie nicht mehr finanzieren können, so ist dies kein Kennzeichen eines Sozialstaates. Wenn es Großbetriebe gibt, in denen bis zu 40 Prozent der Beschäftigten Leiharbeiter sind, die nur halb soviel verdienen wie die Stammbelegschaft, so spricht dieses Lohndumping sozialer Gerechtigkeit Hohn. Wenn immer noch 3,5 Millionen erfasste und geschätzte weitere 1,5 Millionen nicht gezählte Arbeitslose von der staatlichen Zuwendung ihre Kinder nicht mehr gesund ernähren können, so hat dies mit Sozialstaat auch nichts zu tun. Wenn in Deutschland inzwischen die Hälfte der Kinder an oder knapp oberhalb der Armutsgrenze leben und Bildung von der sozialen Herkunft abhängt, was soll daran sozial sein?
Wenn in privatisierten Krankenhäusern Patienten nur noch ein Kostenfaktor sind und Behandlung und Entlassung nach Punktsystem durchkalkuliert werden, ist dies nicht nur unsozial, sondern auch unmenschlich. Ebenso wenn Altersarmut um sich greift und die Verhältnisse in vielen Pflegeheimen zum Himmel schreien. Der gefühlte Staat ist nicht mehr sozial.
In Heiligendamm, konfrontiert mit den dafür Verantwortlichen dieser Erde, waren junge Leute eine ganze Woche lang mit einfallsreichen Aktionen unterwegs. Wenn es aber wie in Cottbus darum geht, in „Workshops“ aus konkreten Fakten und analytischen Theorien Strategie zu entwickeln, so waren für die 150 brisanten und oft hochkompetenten Veranstaltungen zu wenig Betroffene bereit, für ihre eigenen Interessen etwas „work“ auf sich zu nehmen. Die Hoffnung, angesichts des Kräfteverhältnisses noch etwas bewegen zu können, stirbt bei vielen Ausgegrenzten offenbar zuerst. Die zaghafte Besinnung auf Gewerkschaften ist zwar erfreulich, ersetzt aber nicht demokratischen Eigensinn.