Deutsche Einheit: Was sich im Osten tut, ist ein Seismograf des künftigen Westens

Daniela Dahn

Vor 34 Jahren wurde die DDR an die Bundesrepublik angeschlossen. Zerstören die renitenten Ostdeutschen gerade die Westbindung und damit das Erfolgsmodell Westdeutschlands – oder könnten sie vielmehr endlich zu dessen Reformierung beitragen?

Die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Deutschen Einheit sollten ein Höhepunkt sein, doch die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Die erhoffte „innere Einheit“ ist ein Phantom geblieben. Das war vorherzusehen und es ist auch vorhergesehen worden. Der damalige Mitherausgeber des Freitag, Günter Gaus, warnte: „Die Einheit als solche ist noch kein Glück, sondern Voraussetzung dafür, dass im vereinten Land die Mehrheiten die Chancen des gleiches Glücks und die Gefährdungen des gleichen Unglücks haben.“

Doch Glück und Unglück wurden seit 1990 sehr ungleich verteilt.

Zum 10. Jahrestag der formalen Einheit schrieb ich: „Einen Vereinigungsprozess, der gerecht verlief, hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Der Zusammenschluss verschieden starker Partner ist immer die Stunde der Lobbyisten. Wenn etwas Warmes und etwas Kaltes zusammenfließen, dann wird das Warme kälter und das Kalte wärmer. So ist die Natur. Wenn sich Reich und Arm vereinen, dann wird der Reiche reicher und der Arme ärmer. So ist der Mensch.“ Ein historisches Beispiel gefällig? Als sich die reichen Nordstaaten Amerikas nach dem gewonnenen Bürgerkrieg 1865 entschlossen, den armen Süden aufzubauen, nahm in einem Jahrzehnt der Wohlstand des Nordens um weitere 50 Prozent zu, während er im Süden um weitere 60 Prozent sank. So ist das Geld. Das auf Wachstum und Privateigentum angewiesene Geld im Kapitalismus.

Eine ökonomische Atombombe

Selbstverständlich gab es auch nicht wenige, meist jüngere östliche Glückspilze, die die Chancen der Zeit zu packen wussten. Aber so, wie die politische Vereinigung Deutschlands organisiert wurde, hat sie insgesamt die ökonomische Spaltung verstetigt. Und damit auch die mentale. Die „neuen Bundesländer“ sind nicht mehr neu, aber ihr Bruttosozialprodukt pro Kopf, Maßstab für wirtschaftliche Leistungskraft, liegt seit Jahren ziemlich konstant bei nur 76 Prozent des Westniveaus. Das heißt, der Osten ist immer noch auf Alimentierung angewiesen. Nur so ist der gewachsene Lebensstandard zu halten. Einer der Gründe, weshalb der Osten verunsichert ist und die Westeliten weiterhin mit einer gewissen Herablassung auf ihn blicken, obwohl sie selbst ihren Anteil an der Situation haben.

Verkürzt zur Erinnerung: Die überstürzte Währungsunion hatte die Wirkung einer „ökonomischen Atombombe“, wie der Guardian schrieb. Hätte man derart über Nacht in der Bundesrepublik den stärkeren Dollar eingeführt, wäre ihre Wirtschaft sofort zusammengebrochen, sagte mir damals Ex-Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl. Die genauso überstürzte Privatisierung der Filetstücke des Volkseigentums mitsamt des schuldenfreien Grund und Bodens und vieler Immobilien hat einen gigantischen Vermögensabfluss von Ost nach West ermöglicht. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ trug erheblich dazu bei. Die Ostdeutschen sind heute die Bevölkerungsgruppe in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt. Gerade Bodenvergabe ist immer Gesellschaftspolitik. Der erste Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom Mai 1990 enthielt Versprechungen, von denen beide Vertragsparteien wussten, dass sie niemals eingehalten werden: Erhalt und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen bei hohem Beschäftigungsstand sowie möglichst ein verbrieftes Anteilsrecht der DDR-Bürger am volkseigenen Vermögen.

Doch wären die Ostler an dem von ihnen Erarbeiteten beteiligt worden, wie der dann erschossene Treuhandchef Detlef Rohwedder es wollte, wäre für die Westler weniger zum Privatisieren übriggeblieben.

Die Zahl der westdeutschen Millionäre verdoppelte sich, während sich im Osten die Geburtenrate halbierte

Daran hatten der neue Vorstand und Verwaltungsrat der Treuhand kein Interesse. Sie waren zum „Außerachtlassen einfachster und nächstliegender Überlegungen“ beim Umgang mit dem Volkseigentum ermächtigt und hatten die Zusage zu „Haftfreistellung bei leichter Fahrlässigkeit“. Alles war leicht. Das Tempo der Privatisierung sollte dem Tempo der Desillusionierung nicht hinterherhinken. 70 Prozent der DDR-Industrie verschwand, mit ihr fast vier Millionen Arbeitsplätze, 95 Prozent des einst volkseigenen Wirtschaftsvermögens ging in westliche Hände über, statt Anteilsscheinen nichts als Schulden. 1990 war das beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer 100-jährigen Geschichte. Die Zahl der westdeutschen Millionäre verdoppelte sich, während sich im Osten die Geburtenrate halbierte. Fast zwei Millionen gut ausgebildete, oft junge, weibliche Arbeitskräfte siedelten nach der Vereinigung in den Westen, wovon dieser enorm profitierte. Haben wir all das schon vergessen?

Durch diese Strategie wurden die finanziellen Mittel für den „Aufbau Ost“ in den 90er-Jahren „mehr als kompensiert“, sagt heute das Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Im Osten blieb ein europaweit einmaliger Männerüberschuss zurück. Es hat 18 Jahre gedauert, bis in Ostdeutschland auch nur die angeschlagene Wirtschaftskraft vom Ende der DDR wiedererreicht wurde. Das war eine lange, von Ängsten und Demütigungen erfüllte, prägende Zeit. Kein Wunder, wenn noch für Generationen im Osten nichts zu vererben ist. Welches Gericht ist eigentlich zuständig, wenn Politiker ihre Staatsverträge nicht einhalten? Auch wenn sich Konsumversprechen und bessere Wohnbedingungen für viele erfüllt haben, bestätigt sich heute: Die Eigentumsregelung war der genetische Defekt der Vereinigung. Sie war ein Schutzgesetz für Westeigentümer. Nach repräsentativen Erhebungen demonstrierten zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland drei Millionen Menschen gegen Entlassungen und Ungleichbehandlung – doppelt so viele wie bei der „friedlichen Revolution“. Doch sie wurden allesamt ignoriert.

Die ungehörten 83 Prozent

Zwar ist die heruntergekommene östliche Infrastruktur durch enorme staatliche Subventionen auf Westniveau gebracht worden, aber all die schönen Straßen und Glasfaserkabel dienten vor allem dazu, westliche Waren reibungslos ins Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne Waffen.

Was im Osten mehrheitlich infrage gestellt wird, ist nicht die Demokratie, sondern die viel gescholtene „Fassadendemokratie“.

Zu den Mythen gehört, dass eine langsamere und damit durchdachtere Gangart bei der Vereinigung nicht durchsetzbar gewesen wäre. So werden die ersten formal freien, aber psychologisch unter extremem Propaganda- und Erpressungsdruck stehenden Wahlen im März 1990 anhaltend fehlinterpretiert. Sie waren auch frei von Sachkenntnis. Doch der Lernprozess ging schnell – bevor das neue DDR-Parlament seine Arbeit aufnahm, stellten Meinungsforscher in einer breit angelegten, repräsentativen Umfrage Ende April klar, was nun sein Regierungsauftrag ist. Die Einheit als solche stand nicht mehr zur Disposition. Der Realsozialismus mit seiner Gängelung und Einschränkung der Bewegungs- und Meinungsfreiheit hatte vor allem moralisch abgewirtschaftet. Aber 83 Prozent der DDR-Bürger lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Gar 95 Prozent wollten, dass beide Regierungen als gleichberechtigte Partner auf das „Wie“ der Einheit Einfluss nehmen.

Es gibt keine Ewigkeitsklausel für die repräsentative Demokratie

Das ganze Volk hatte verstanden, dass der Osten eine eigene Interessenvertretung braucht. Schließlich wollten immer noch 68 Prozent das Volkseigentum erhalten und nur daneben andere Formen zulassen. Sie begannen zu begreifen, dass sie nichts zu verschenken haben, aber ihren Repräsentanten nicht zu trauen ist. Die eben erst erprobte Basisdemokratie stand daher noch hoch im Kurs, 77 Prozent hielten es für erforderlich, das Verhandlungsergebnis ihrer Abgeordneten durch eine Volksabstimmung überprüfen zu lassen. Stattdessen hatten nicht mal die Abgeordneten die Zeit, den über tausendseitigen Einigungsvertrag mit seinen versteckten, verhängnisvollen Anlagen (Regelung offener Vermögensfragen) ganz zu lesen und zu verstehen, geschweige denn ein Wort zu ändern. Sie konnten nur mit „Ja“ oder „Nein“ stimmen, was ihnen bekannt vorgekommen sein muss.

Nein, der Vollzug des schnellen Beitritts war keine Sternstunde der Demokratie.

„Der Osten wird nie an das Westniveau herankommen“, schrieb der Ökonom Joachim Ragnitz unlängst in der FAZ. Das läge an der Kleinteiligkeit seiner Wirtschaft, die keine „Größenvorteile“ habe. „Da muss man sich wahrscheinlich mit abfinden, dass es die Ungleichheit für ewige Zeiten geben wird.“ Und es klingt, als habe sich zumindest der West-Professor schon schweren Herzens damit abgefunden.

„Die AfD ist die Rache des Ostens“, sagt Kultregisseur Frank Castorf. Ja, aber es ist die denkbar untauglichste und kontraproduktivste Heimzahlung. Erschreckend genug, wenn immer vorhandener nationalistischer und rassistischer Bodensatz aktiviert werden muss, um sich gemeinsam stark zu fühlen, gehört, ja gefürchtet zu werden.

„Einheit rückgängig machen“

Vergleichbare Wirkmacht konnten die Linken mit ihrem Demokratisierungsdruck aus der frühen Bundesrepublik oder der Wendezeit nicht entfalten. Dabei wird doch immer offensichtlicher: Die Idee, den eigenen Willen an Repräsentanten der alteingesessenen Parteien zu delegieren, die es dann schon richten werden, wird den gewachsenen Ansprüchen an demokratische Teilhabe nicht mehr gerecht. Es droht Unregierbarkeit, wie die jüngsten Landtagswahlen im Osten zeigen. Erst recht die Ampel mit ihrer Zerstrittenheit, die sich nur noch auf transatlantische Nibelungentreue einigen kann und dabei auf nationales und europäisches Eigeninteresse pflichtvergessen verzichtet.

Was jetzt erodiert, ist eine regelbasierte Unordnung. Darin liegt auch eine Chance.

Der einstige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat, wohl vom Frust übermannt, schon 2010 im ZDF die kapitalistische Demokratie aufs Trefflichste beschrieben: „Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt. Und diejenigen, die gewählt sind, haben nichts zu entscheiden.“ Das Grundgesetz enthält einige Ewigkeitsklauseln – die Demokratie gehört dazu. Aber nicht ausdrücklich und ausschließlich die repräsentative. Nur was sich ändert, bleibt sich treu. Das Potenzial des Ostens, mit seinen partizipativen Erfahrungen, sollte da von dem diesbezüglich eher selbstgenügsam beharrenden Westen als Avantgarde beachtet werden. Ist doch vieles, was sich im Osten tut, nur Seismograf des künftigen Westens.

Stattdessen erwecken 35 Jahre nach Mauerfall die renitenten Ostdeutschen jenseits der etablierten Parteien nun die Sorge, sie könnten „mit der Westbindung das Erfolgsmodell der Bundesrepublik zerstören“. So formuliert es Marcus Bensmann, Journalist bei Correctiv, der in einem Tweet auf X vorschlägt, deshalb die Wiedervereinigung rückgängig zu machen. Nicht auszuschließen, dass die Idee auf beiden Seiten Anhänger findet.

 

erschienen in: der Freitag Ausgabe 40/2024