Vom revolutionären Schwung zum restaurativen Schwank
Wie der Wandel immer wieder verhindert wird
So wie wir heute demonstrieren, werden wir morgen leben. Eine weitsichtige Reaktion auf den schwarz-gelben Koalitionsvertrag? Weit gefehlt. Derart souveräne Einsichten bedürfen einer Gesellschaft in Bewegung, eines politisierten Volkes, das seine Ohnmacht abgeschüttelt hat. Dieses Glücksgefühl war im Herbst 89 nicht vom Himmel gefallen, sondern hatte sich vorbereitet, in den Jahren der anschwellenden Unzufriedenheit darüber, wie Glasnost und Perestroika verhindert und Freiheitsrechte weiter mit Füßen getreten wurden. Der unangepasste Teil der DDR-Kunst hatte das Individuum gestärkt und wie eine Graswurzel bildeten sich in den 80er Jahren halbprivate Gesprächskreise, oft unter dem Dach der Kirche. Es waren nicht gänzlich Unvorbereitete, die vor zwanzig Jahren die Chance zur großen Einmischung ergriffen.
Wer damals etwas forderte, wurde in die praktische Pflicht genommen. Ich erfuhr dies als Mitinitiatorin einer Resolution des Schriftstellerverbandes, die einen sofortigen demokratischen Dialog über die angestauten Probleme verlangte. Sie sickerte zeitgleich mit den ersten Aufrufen vom Neuen Forum und von Demokratie Jetzt in die Öffentlichkeit und ermöglichte mir, in einer kleinen Gruppe von Autoren einen Entwurf für ein neues Pressegesetz zu erarbeiten. Die Moderation einer Kirchenlesung fast aller namhaften DDR-Autoren in der überfüllten Berliner Erlöserkirche brachte mir den Vize-Vorsitz in der ersten unabhängigen Untersuchungskommission ein. Wegen der gewaltsamen Übergriffe auf Demonstranten forderten wir dort den Rücktritt des Polizeipräsidenten von Berlin, der wenig später, trotz des Sicherheitsvakuums in der maueroffenen Stadt, auch erfolgte.
Eine ganz neue Bürger-Erfahrung griff um sich: man kann als Einzelner etwas verändern. Da demonstrierten 12 000 Handwerker in Halle gegen die Ungleichbehandlung von genossenschaftlichem und privatem Handwerk und schon am nächsten Tag wurde unbürokratisch begonnen, ihre Forderungen umzusetzen. Millionen waren in derartige Straßen-Dialoge einbezogen. Später verlagerten sich die Gespräche an die Runden Tische. Fernsehen und Zeitungen warteten unser neues Pressegesetz nicht ab sondern wurden von selbst interessanter. Viele Ostdeutsche erinnern sich dieser Zeit als ihrer aufregendsten, intensivsten, schönsten. Einige Wochen dauerte das Gefühl, Subjekt der Geschichte zu sein. Einige Wochen, in denen die Westmächte und ihre Geheimdienste nicht sicher sein konnten, ob der Hase so läuft, dass sie am Ende der Furche rufen konnten: Ich bin allhier.
Bei all dem flog kein Stein, keine Fensterscheibe klirrte, kein Reifen brannte. Lediglich eine Blumenrabatte vor dem Staatsratsgebäude hat am 4. November unter dem Versuch gelitten, die schweigende Führung als Pantomime darzustellen. An diesem Tag hatte der Erneuerungswille einer Million Demonstranten seinen Kulminationspunkt erreicht. Das Fernsehen übertrug, weil massenhaftes, heiteres Selbstbewusstsein nicht mehr übergangen werden konnte. Fünf Tage später zerbarst der zeitliche und räumliche Rahmen für Alternativen und es ging fortan ums Fittmachen für den Beitritt. Die friedliche Revolution startete als kultureller Aufbruch. Und endete als was?
Die Macht geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?, die damals gestellte Frage trifft bis heute den Nerv. Freie Wahlen waren eine der Hauptsehnsüchte der Umstürzler; inzwischen hält die Mitbegründerin des Neuen Forums, Bärbel Bohley, diese Prozedur für „Kasperltheater“ und preist das Nichtwählen als passiven Widerstand. Der vom ernüchterten Osten längst angeführt wird. Der Wille zu radikaler Veränderung würde nicht dauerhaft akzeptiert werden, das war klar. Nieder mit dem Schweizer Bankgeheimnis – sobald sich die Losungen vom Alexanderplatz am Westen vergriffen, zeigte sich aber, dass der Demokratisierungsdruck aus dem Osten total abgeblockt wurde. Stattdessen galt seit der Einheit die Devise: mehr Markt wagen.
Die Krise hat die politischen Spielräume nochmals verengt. Indem der Staat sich wie nie zuvor verschuldete um die Banken zu retten, wurden diese mehr denn je zu seinem Vormund. Damit ist es fast egal, welche Parteien-Koalition unter der Wirtschaft Regieren simuliert. Egal, wer an Merkels Seite Profil verliert. Es gab keine regierungsfähige Alternative für einen Wechsel in den existentiellen Streitfragen Krise, Klima, Krieg. Die neue Regierungspro-gramm bestätigt nur, was alle wussten oder hätten wissen können: Schatten-sprünge von einem Schuldenloch ins andere. Von den Kommunen an die Familien, denen andere das bisschen Geld wieder aus der Tasche ziehen wer-den. Die Wähler hatten keine Wahl.
Abermals für vier Jahre ihrer Stimme entledigt, werden Mehrheitswünsche wie Mindestlöhne nicht erhört werden. Der Verdruss bei Wählern und Nichtwählern dürfte wachsen. Denn sie wollen nicht, was sie tun. Aber die Kommunikation zwischen Oben und Unten ist gestört. Wie vor 20 Jahren. Der Diskurs ist diesmal wegen ungünstiger Witterung ins Feuilleton verlegt. Eine Initiative von Wohlhabenden fordert eine Vermögensabgabe für Reiche und der Vatikan mahnt eine Rückbesinnung auf Karl Marx an. Alles schön folgenlos. Die Welt steht Kopf, und das erstaunlich ausdauernd. Oder nicht? So wie wir heute bloggen, werden wir morgen leben? Kann die von Brecht beschriebene „Unlust der Massen, sich zu empören“ in der Tradition von 89 überwunden werden?