erschienen in: spw 206
Die Schatten der Vergangenheit sollten lichte Zukunft nicht verdunkeln
GroKo heißt: großes Koma für profilierte Politik. Die Regierung ist blockiert und die Opposition auch. Soll dieses Koma nicht nochmals quälend verlängert werden, wird es Zeit, über Alternativen nachzudenken. Die Chancen für Rot-Rot-Grün haben sich aber seit 1998 permanent verschlechtert. Bei der letzten Wahl hat die SPD in Ostdeutschland gerade noch ein Direktmandat gewonnen. Sie ist beinahe zu einer Nordwestdeutschen Partei geworden. Eine reale Machtperspektive hat sie nur mit der LINKEN. Doch obwohl deren Unberührbaren-Stigma aufgehoben wurde, weist die SPD-Spitze Gesprächsangebote der LINKEN vorerst trotzig zurück, was bleibt ihr auch übrig, als Juniorpartner in der Regierungsräson.
Worüber dringlich zu reden wäre? Die Vergangenheitsdebatte liegt im Weg wie ein Fallstrick. Sie überschattet die noch wichtigere Zukunftsdebatte. Willy Brandt hatte 1991 die Latte noch einmal hoch gelegt: Die Bändigung des Kapitalismus hieße jetzt Sozialdemokratie. Die SPD, so konnte man das verstehen, solle als allein übrig Gebliebene zu ihrer Berufung zurückkehren. Glaubt sie noch an die Veränderbarkeit des Primats der Finanzwirtschaft? Oder hat sie sich damit abgefunden, dass der Kapitalismus gegen demokratische Einmischung immer immuner wird?
In seinem nicht nur für das schöne Geschlecht immer noch empfehlenswerten „Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus“ hat Literatur-Nobelpreisträger Bernhard Shaw in der 20er Jahren eigentlich auch für den intelligenten Mann verständlich gemacht: „Sozialismus ist eine Ansicht darüber, wie die Einkünfte eines Landes aufgeteilt werden sollen.“ Er begründet diese verkürzte Formel mit dem damaligen Zustand im Lande, „da ein Zehntel des englischen Volkes neun Zehntel des Gesamtvermögens besitzt, während die Mehrzahl der übrigen neun Zehntel kein Eigentum hat und von Woche zu Woche von Löhnen lebt, die kaum hinreichen.“ Das kommt einem mehr als bekannt vor. Shaw nennt die Teilung in „Herrenkaste“ und „gemeines Volk“ eine „sehr exklusive Oligarchie“.
Für 2016 hat die Entwicklungsorganisation Oxfam prognostiziert: Ein Prozent der Weltbevölkerung wird über mehr Eigentum verfügen, als der „Rest“ von 99 Prozent. Das kann man schon nicht mehr als Nord-Süd-Konflikt bezeichnen. Wir erleben einen globalen Palast-Hütten- Konflikt. Eine Oligarchie hat die Welt im Griff. Die einen im abgehobenen Finanz-Olymp, die anderen auf der staubigen Erde. Zwar ist der Wohlstand seit Shaws Zeiten in nie gekanntem Ausmaß gewachsen. Doch seit dem antiken Römischen Recht haben wir eine sich fortschreibende Gesetzgebung, die Vermögende auf himmelschreiende Weise bevorzugt. Die durch diese Ungleichheit sich ausbreitende Wut und Angst macht die Gesellschaften zusehends pegide.
Geschichte der Teilung zusammen aufarbeiten
Hätten da die beiden Parteien, die in ihren Programmen bis heute den demokratischen Sozialismus anstreben, nicht hinreichend Gesprächsstoff? Wie schwer und langwierig es ist, Strukturen zu ändern? Wie sehr die Erfahrung gelehrt hat, dass die Kräfte zu bündeln sind?
Hätten schon, aber die Empfindlichkeiten sind groß. Die Geschichte der Teilung der Arbeiterpartei ist bis heute nur geteilt aufgearbeitet worden. Daran kann hier nur spotlichtartig erinnert werden:
Die Arbeiterbewegung zerbrach angesichts der deutschen und russischen Novemberrevolution. Seither streiten die Flügel darüber, wer aus den besseren Gründen verloren hat. Die treueren Sozialdemokraten waren ursprünglich die Spartakisten, weil sie an den Parteibeschlüssen aus der Vorkriegszeit festhielten. Niemand will Treue im Irrtum, aber wäre 1916 der Ausschluss von Liebknecht und anderen Genossen aus der Fraktion nicht vermeidbar gewesen? Und vor allem: Wann wird sich die SPD endlich zur wissentlichen Billigung der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg durch führende Sozialdemokraten äußern? Wenn es stimmt, was Historiker mit Dokumenten vorgeben belegen zu können, so haben die Sozialisten gerade die einzigen umgebracht, die die spätere Stalinisierung der KPD nicht geduldet hätten. Der Publizist Sebastian Haffner sprach von einem Mord an überlegenem Mut, überlegenem Geist, einem Mord an der unwiderlegbaren Wahrheit. Er sei der Auftakt gewesen zu den tausendfachen Morden der Noske-Phase und den millionenfachen der Hitler-Zeit. „Und gerade er ist immer noch uneingestanden, immer noch ungesühnt und immer noch unbereut. Deswegen schickt er immer noch sein sengendes Licht in die deutsche Gegenwart wie ein tödlicher Laserstrahl.“ (Sebastian Haffner, Der Verrat. Berlin 1993, S. 150)
Wenige Jahre später erreicht die verhängnisvolle Sozialfaschismus-Theorie über Stalin und die Komintern auch die KPD. Die Sozialdemokratie wird als linker Flügel der Faschisten diffamiert, der vorrangig zu bekämpfen sei. So macht sich die KPD indirekt mitschuldig am Sieg der Nazis. Zwar mahnt Clara Zetkin, die Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages, im August 1932 in ihrer Eröffnungsrede: „Das Gebot der Stunde ist die Einheitsfront aller Werktätigen, um den Faschismus zurückzuwerfen… Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten.“ Aber da ist es schon zu spät. Nur Monate später beginnt der Mordfeldzug gegen Kommunisten und Sozialdemokraten.
Der Emigrationsvorstand der SPD beschwört 1934 in seinem Prager Manifest Kommunisten und Sozialdemokraten im Kampf gegen den diktatorischen Feind zum „gleichen sozialistischen Revolutionär“ zu werden. „Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt.“ Die SED ist Folge dieser Einsicht. Der eigentliche Zwang beginnt nach der Vereinigung: Die moskautreuen Kommunisten reißen die Macht an sich. Sozialdemokraten, die nicht auf Linie gehen, werden diskriminiert und inhaftiert. (Übrigens auch abweichlerische Kommunisten.) Das Gift des Stalinismus ergießt sich über alle Andersdenkenden. Auf dem Gebiet der politischen Strafjustiz bleibt die DDR, wenn auch mit abnehmender Intensität, bis zum Schluss ein Unrechtsregime.
Sozialdemokratische Grundsätze wie pluralistische Demokratie, Gewaltenteilung und Machtkontrolle haben keine Chance. Sicher, nicht alle SPD-Nachkriegsziele waren akzeptabel. Die bis zum Ende der 60er Jahre erhobene Forderung nach Rückgabe der einst deutschen Ostgebiete war uneinsichtig. Auch hatte der bundesdeutsche Pluralismus seine Grenzen. Wer seine freie Entfaltung über Gemeineigentum erreichen wollte und Demokratie als Mitwirkung der Werktätigen an der Gesellschaft verstand, wurde als Kommunist gejagt. Das 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1950 knüpfte zur Freude der Altlasten in der Justiz an das NS- Gesinnungsstrafrecht an: Um ins Gefängnis zu kommen bedurfte es keiner Tat – politische Meinung oder Mitgliedschaft genügte. Das für einen Rechtsstaat unwürdige Verbot der KPD rief bei den einst verbrüderten Sozialdemokraten keinen Protest hervor.
Wurde danach gegen Aufrüstungsgegner oder Gewerkschafter ermittelt, las man im SED-Blatt Neues Deutschland Geschichten aus dem Bonner Unrechtsstaat. Eine untaugliche Vokabel, wenn sie im Kalten Krieg propagandistisch instrumentalisiert wird. Unrecht gibt es in jedem Staat. Ab wie viel Unrecht ist ein Staat ein Unrechtsstaat? Der sozialdemokratische Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hatte darauf eine klare Antwort, hinter die man nicht mehr zurückfallen sollte. Es genüge dafür nicht, wenn Herrscher Recht brechen, um ihre Macht zu sichern. (Wenn Vergehen wie Rechtsbeugung, Gewalttaten oder unterlassene Hilfe an der Grenze, Wahlfälschung, Misshandlung Gefangener, Amtsanmaßung und Korruption, Doping und Kontrolle von privater Kommunikation für dieses Verdikt genügen, dann haben wir auf der Welt nur noch Unrechtsstaaten.) Das NS-Regime war für Radbruch ausschließlich deshalb ein Unrechtsstaat, weil da Schwerstverbrechen wie Angriffskrieg, Völkermord, Zwang zu Sklavenarbeit und Plünderung besetzter Gebiete, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Anmaßung einer „Herrenrasse“ mit dem Recht, andere auszurotten, staatlich geboten waren – das Unrecht also das eigentliche Staatsziel war. Wer NS- und DDR-Herrschaft mit dem gleichen Begriff charakterisiert, verharmlost oder dämonisiert auf unstatthafte Weise. Beide Diktaturen haben keinen einzigen identischen Anklagepunkt hinterlassen.
Wie sozialdemokratisch war die DDR?
Nach Jahren des Wandels durch Annähe- rung war die wohl größte Bereitschaft zur Verständigung die Arbeit am heute verfemten SPD-SED Grundsatzpapier von 1987. Kurz vor dem noch nicht vorhergesehenen Ende des Realsozialismus war man auf beiden Seiten bereit, eine Bilanz der Systeme zu ziehen. Misslungenes sollte verworfen, Gelungenes fest- gehalten und gegebenenfalls übernommen und weiterentwickelt werden. Doch plötzlich und unerwartet stand die SPD auf Seiten des Siegers der Geschichte. Etwas, das wert gewesen wäre, übernommen zu werden, mochte sie nicht mehr erkennen.
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler, jahrzehntelang Unterstützer sozialdemokratischer Programmatik, klagte: „Die kurzlebige Existenz der DDR hat in jeder Hinsicht in eine Sackgasse geführt … Alle falschen Weichenstellungen, die in Ostdeutschland vorgenommen worden sind, müssen nach dem Vorbild des westdeutschen Modells in einem mühseligen Prozess korrigiert werden. Das ist die Bürde der neuen Bundesre- publik nach 1990.“ (Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 5; München 2008,Vorwort S.XV)
Nicht nur Wehler ist blind dafür, dass wesentliche SPD-Ziele aus den 1990er Jahren nur in der DDR eine Chance gehabt hatten. Wörtlich hieß es im Berliner Programm: Mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen, Beteiligung aller am Produktivvermögen, Verhinderung von Bodenspekulation, Vergesellschaftung als demokratisches Element und Förderung des Genossenschaftsgedankens, Zurückdrängung des Einflusses von Banken und Versicherungen auf Grundentscheidungen der Wirtschaft, Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, elternunabhängige Bildungschancen, Zu- gang zu Sport und Kultur für alle, Abbau der Klassenvorrechte. Erstmalig war die Logik des Maximalprofits durchbrochen und die Kapitalmacht in ihre Schranken gewiesen worden. Wenn es überhaupt eine historisch zu nennende Leistung des Pseudosozialismus gegeben hat, dann war es diese. Doch für die Wahrung der sozialen Grundrechte sind die politischen weitgehend geopfert worden. Nun bedürfte es einer Diskussionskultur, die die schweren Irrtümer und Versäumnisse auf diesem Weg benennt, ohne die andere Position zu karikieren. Die neuen Herausforderungen sind wiederum so gewaltig, dass ein Nichtbesinnen auf die letztlich immer noch sehr ähnlichen Ziele schon wieder das nächste Versäumnis wäre.