Wildfremd
Wenn er einmal Nein sagt, dann wird es für immer sein
Ein Besuch bei den Massai in Südkenia
Selbst wer nie in Afrika war – von den Massai-Kriegern hat jeder schon gehört. Sie sind Legende, bekannt, wie die Appachen unter den Indianern. Doch dann werden die eigenen Auskünfte schon ungewiss.
Die mehrfach beschriebene, versuchte Annäherung von Weißen an die Massai, oft mit besten Absichten romantisch aufgeladen, war immer zwiespältig. Sie hat den unnahbaren Mythos eher noch rätselhafter gemacht.
„Die Massai konnte niemand kolonialisieren“, behauptet unser katholischer Busfahrer David aus Nairobi. „Sie sind die einzigen, die die afrikanische Tradition des Gleich- und Solidarisch-Seins aufrecht erhalten haben. Ohne Kolonialgeschichte hätten wir vielleicht weniger moderne Errungenschaften, aber es gäbe nicht diese explosive Kluft zwischen den wenigen kriminell Reichen und den vielen kriminell Armen.“
Vom Auto aus sind sie unübersehbar: rotkarierte Tücher um den Laib geschlungen, die langen, dünnen Beine nackt, an den Füßen Ledersandalen, bewaffnet mit einer Art langen Lanze, so hüten die Massai-Männer in der Savanne Südkenias und Nordtansanias Rinder und Ziegen. Dieser Aufzug, den ich bislang für Festkleidung bei Initiationsriten oder für Foto-Folklore gehalten hatte, gehört also zum alltäglichen Leben. Nachvollziehbar wenn man weiß, dass die rote Farbe die Löwen verschrecken soll, die, wer hätte daran gezweifelt, andere Vorlieben als Stiere haben, schon weil sie jederzeit im Busch lauern.
Niemand wisse genau, wie viele Massai in der Savanne leben, meint unser belesene Fahrer, denn sie seien nicht bereit, sich erfassen zu lassen. Nach ihrem Glauben stirbt, wer gezählt wurde. Manche schätzen, es gebe eine Million dieser Halbnomaden, andere vermuten, nur einige hunderttausend. Ohne Papiere wechseln sie über die grüne Grenze. „Ich würde dafür verhaftet werden“, meint David. Aber auf der Hut sein müssten sie auch, denn wer mit der Lanze nicht schnell und geschickt genug sei, den hole der Geier. Solche Geschichten verschlucke dann das hüfthohe, löwenfarbige Steppengras.
Lange nicht so viel Geheimnisvolles gehört – man müsste schon sehr abgeklärt sein, um nicht neugierig zu werden. Um mehr zu erfragen, passe ich Momente ab, in denen David nicht völlig in Anspruch genommen ist durch den Zustand des Weges. Das Wort Straße wäre angesichts der Ansammlung tiefer Schlaglöcher oder furchenreicher, unbefestigter, staubiger Feldwege ein Euphemismus.
„Die Kolonisatoren einigten sich mit den Massai auf Verträge über ge-schlossene Gebiete, in denen sie unbehelligt von anderen Menschen leben konnten, allerdings ohne diese Territorien verlassen zu dürfen. In den Reservaten konnte sich Traditionelles gegen Neues behaupten. Erst die Unabhängigkeit hat dann die Abgeschiedenheit des als hochmütig geltenden Hirtenvolkes nach und nach eingeschränkt.“ Die Zersiedelung der Landschaft, die durch Abholzung verursachte Wasserknappheit und die Einrichtung der großen Naturreservate, in denen Viehzucht nicht zugelassen ist, habe ihre Bewegungsfreiheit eingeengt. Und damit ihre Einkünfte. Das zwinge sie heute, vermutlich gegen ihren Stolz, ihre Kultur vor Touristen zu vermarkten.
„Heute drohen die Massai Opfer der Modernisierung zu werden“, lese ich in meinem Reiseführer. Die knappen Auskünfte zur Religion deuten jedoch eher auf archaisches Beharrungsvermögen: Nach mündlicher Überlieferung glauben die Massai, das vom Regengott Ngai auserwählte Volk zu sein. Ein schwarzer Gott, der auf dem Gipfel des Mount Kenia thront und ihnen alle Rinder dieser Erde überlassen hat. Ein lohnender Glaube, der folgerichtig alle anderen „Cowboys“ als Viehdiebe ansieht und somit das Recht begründet, anderen Völkern gewaltsam die Rinder wegzunehmen. Kein Wunder, wenn es immer wieder zu bewaffneten Kämpfen kam, die ihnen das Image als Krieger eingebracht haben.
Am flimmernden Horizont taucht plötzlich ein großer roter Klecks auf. Als wir näher kommen, geht er in ein Gewusel über, das sich schließlich als ein von mehreren hundert Massai besuchter Markt entpuppt. Gern würde ich anhalten, aber unser Fahrer hält nichts von der Idee. Mit den Massai sei nicht zu spaßen. Es empfehle sich nicht, unangemeldet bei ihnen aufzutauchen. Er tröstet mich aber mit der Aussicht, in der Nähe des Wildtierparks Massai Mara ein Dorf namens Narok zu kennen, in dem er einen Besuch organisieren könne.
Nein, auch jetzt will ich mir keinen Vorwurf machen, dass da affektartig meine weiße Zivilisation in Position geht: Naturvölker sind schützenswert wie vom Aussterben bedrohte Orchideen. Wenn ich etwas von Gleichheit und Solidarität vernehme, will ich mir das nicht entgehen lassen. Diese Kultur gilt es zu verteidigen, das will man, wenn man sonst schon nichts tun kann, durch einen Besuch zum Ausdruck bringen.
In der Nachbarschaft des berühmten Nationalparks sind Reisende bekannt und als Käufer für selbstgefertigte Schnitzereien und bunte Glasperlenkolliers willkommen. Für einen Eintritt von 500 Schilling erkaufe ich mir das zweifelhafte Recht, das von einer dichten Dornenhecke geschützte Runddorf betreten zu dürfen, mich mit den Einwohnern zu unterhalten. Doch die meisten dieser hochgewachsenen, beinahe ganz Schwarzen in ihren rotbunten Gewändern sprechen nur die eigene Maa-Sprache, einige auch Swahili. Wir mustern uns gegenseitig.
Ein junger Massai stellt sich mir vor, Ole Pesi, 25 Jahre. Er gehört zu den wenigen hier, die fließend Englisch sprechen, jedenfalls besser als ich. 14 Jahre lang will er die Dorfschule besucht haben. Englisch ist Amtssprache in Kenia, wird von der ersten Klasse an gelehrt. Doch stolz ist er eher auf die 24 Kühe, die er bereits besitzt. Ein guter Massai müsse aber 50 haben. (Eines Tages wird eine Braut die schönsten Tiere des Schwiegervaters als Mitgift mitbringen, soviel weiß ich schon.)
Im übrigen würde immer ein Fest mit Honigbier gefeiert, wenn es wieder gelungen sei, einem anderen Clan Rinder wegzunehmen. Mein erstaunter Blick ruft nur die Beschwichtigung hervor, dass es so doch alle machen würden, das sei normal, wie auch die Entführung von Frauen. Allerdings dürften sich die Räuber nicht erwischen lassen, dann würden sie sofort erstochen werden. Einen Moment bilde ich mir ein, er flunkere nur, um sich über mein Entsetzen zu belustigen, aber er hat die gelangweilte Mine desjenigen, der es leid ist, immer wieder Selbstverständlichkeiten erklären zu müssen.
Dann führt mich Ole in die Lehmhütte seiner Mutter. Aus der äqua-torialen Sonne kommend, taste ich mich in der fensterlosen Dunkelheit hilf-los voran. Mein Gastgeber lässt den schwachen Schein einer Besuchertaschenlampe aufleuchten, das einzige technische Gerät in diesem Einraumhaus. Ich setze mich in einer der drei offenen Schlafbuchten auf ein mit Lederhäuten und Decken belegtes Gestell aus Ästen. In der Mitte das Drahtgeflecht der offenen Feuerstelle, zwei niedrige Holzschemel sind die einzigen Möbel. In einer vierten Buchte nichts als sauber gestampfter Lehmboden, die Leere lässt sie größer als die anderen erscheinen. Hier werden nachts die Kälber hineingetrieben, zum Schutz vor Dieben und Kälte, erklärt er mir.
Drei kleine Kinder kommen herein, die Jungs mustern mich neugierig verlegen, das Mädchen schöpft sogleich aus einem Blechtopf eine rosa Flüssigkeit in ein verbeultes Henkeltöpfchen und gibt den Brüdern zu trinken. Milch mit Rinderblut verquirlt – ob ich auch etwas möchte? Saroi, Rinderblut, sei sehr erfrischend und kräftigend, werde ich aufgeklärt. Jeden Tag wird einem Tier die Halsvene angeritzt und zwei Liter abgezapft, ein Teil auch direkt aus dem Schnitt geschlürft, dann die Wunde abgebunden. Ich solle doch bitte kosten. Dankend lehne ich ab, eine Beleidigung für die Gastgeber.
Zum Glück sehe ich nichts, was auf Essensvorräte deutet – wie auch bei der Hitze. Also kann ich fragen. Alle drei Tage wird geschlachtet und sofort am offenen Feuer zubereitet. Kuh, Ziege oder Schaf. Eine andere Nahrung gibt es nicht. Wenn das Fleisch gar ist, machen sich die Männer darüber her. Frauen haben sich fernzuhalten und dürfen sich erst nähern, wenn die Männer satt und meist nur noch die Innereien übrig sind. Manchmal werden die abgenagten Knochen mit Wurzeln und Rinden gekocht – kein Suppengrün. Nomaden lehnen Gärten und Ackerbau ab. Kein Obst und Gemüse, kein Brot oder Maisbrei, kein Saft, kein Tee.
Strom und Wasser gibt es nicht im Dorf, wozu auch, nach vier Jahren haben die Termiten die Hütten morsch genagt, das Dorf muss aufgegeben, in der Nähe des Flüsschens ein anderes errichtet werden. Der Hausbau, das Verschmieren geflochtener Äste mit Lehm und Kuhdung, ist ebenso Frauenarbeit, wie das Schleppen von Brennholz und Wasser.
Ich wage nicht zu fragen, wie viele Menschen auf diesen Gestellen schla-fen. Oles Mutter ist die Erstfrau seines inzwischen angeblich 93 jährigen Vaters, der 10 Frauen hat. Ein besonderes Prestige, gewöhnlich können Männer sich bis zu 5 Frauen leisten. Jede Frau wohnt mit ihren Kindern in einer eigenen Hütte. Wenn in der Dunkelheit die Tiere im inneren Schutzbereich des Dornenzauns von jungen Kriegern und Hunden bewacht lagern, wählt das Familienoberhaupt jede Nacht reihum ein anderes Bett.
Ich frage, vermutlich deplaziert, ob Ole eine Freundin habe, wie immer er das verstehen mag. Im Nachbardorf gebe es ein Mädchen, das ihm gefällt, er spricht erstaunlich offen mit mir. „Aber die Entscheidung fällt allein der Vater, den ich sehr respektiere.“ Ich sah den alten Mann bei meiner Ankunft in eine Decke gewickelt in der prallen Sonne schlafen. Ob er dem Vater denn von dem Mädchen erzählt habe, will ich wissen. „Oh nein, so kann ich mit meinem Vater nicht reden.“ Ich verstehe nicht, weshalb ein junger Massai einer wildfremden Weißen Dinge erzählt, die sein Vater nicht wissen darf. „Ich habe es bei meiner Mutter durchblicken lassen und sie wird einen günstigen Moment abpassen, es ihm sehr vorsichtig anzudeuten. Man muss geschickt sein, denn wenn er einmal Nein sagt, dann wird es für immer sein.“
Wo die Mutter denn sei, will ich wissen. Ole will mich mit ihr bekannt machen, steckt schnell noch einen Schein zwischen Bettgestrüpp und Lederhaut, vielleicht mein Eintrittsgeld. Wer keinen Pass hat, hat auch kein Konto, klar doch. Naturvolk eben.
Kommt man aus dunkler Hütte, schlägt einen die Sonne mit Blindheit. Als erstes erkenne ich, wie ein etwa zehnjähriges, leidend aussehendes Mädchen in Tippelschritten an uns vorbeiläuft, Blutspuren an ihren Beinen. Das ist ganz und gar unnatürlich. Ich kann nur ahnen, was hier, gestern vielleicht, passiert ist. Habe ich nicht unlängst erst vollmundig verlangt, ein Land, in dem die Genitalverstümmelung nicht bestraft würde, dürfte keine Entwicklungshilfe mehr bekommen? Bald wird das Mädchen verheiratet werden. Dann wechselt sie vom Eigentum des Vaters in das Eigentum des Mannes. Gleichheit? Eine Schule wird sie nie sehen. Ich habe noch eine Flasche Wasser im Rucksack, reiche sie ihm, lächerliche Geste von mir, die das Kind nur noch mehr verschreckt.
Oles Mutter, angeblich 86, sitzt mit jüngeren Frauen und Kindern im Schatten einer anderen Hütte. Sie hat etwas Brennholz in der Hand und will sich meinetwegen mühsam erheben. Schnell setze ich mich zu ihr auf die Erde. Sie ist sehr hager, fast zahnlos, die kurzgeschorenen Haare weiß. Markant das aufgeschlitzte und zu einer langen Schlaufe gezogene Ohrläppchen – ihr schönster Schmuck. Gern hätte ich gewusst, wie alt sie wirklich ist, vielleicht gar jünger als ich? Sie lächelt mich an. Die Netzhaut ihrer Augen ist von einem weißlichen Schleier überzogen. Sie ist fast blind, sagt Ole. Ich bitte ihn zu übersetzen, dass meine Mutter auch sehr schlecht sieht – als ob das ein Trost wäre.
Die Frage nach einem Augenarzt hätte ich mir verkneifen können. „Wir haben einen Medizinmann.“ Von wem der ausgebildet sei? „Er hat es von seinem Vater gelernt und der von seinem.“ Die Kunst dieser Medizinmänner ist nicht zu unterschätzen. Mit dem Blut hochfiebrig Sterbender werden kleine Kinder geimpft, die so Antikörper entwickeln. Doch Aids kommt in der Überlieferung nicht vor. Wer diese Krankheit hat, und es sind nicht wenige, gilt deshalb als verflucht und verhext. Und wird entsprechend behandelt. Solidarität?
Dieser Besuch ist ein Desaster. Die gastfreundlichen Wilden sind wild und die Weiße mit dem Helfersyndrom ist weiß, wer hätte das gedacht. Was, um alles in der Welt, will ich hier bewahren? Ich, die ich alles Missionieren verachte, frage: Müsste sich nicht der Himmel auftun und die angeblich bedrohliche Modernisierung wie ein Donnerblitz einschlagen? Ratlos trete ich vor die Dornenhecke, aber David ist noch nicht zurück. Der in die Decke gehüllte Alte liegt immer noch reglos in der Sonne.
Plötzlich geschieht etwas Unerwartetes. Ich begreife nicht gleich, was das bedeutet. Ole Pesi beginnt, mir Fragen zu stellen. Wo ich herkäme, was ich eigentlich hier mache und wie lange ich bliebe. Nein, dass in Nairobi ein Weltsozialforum stattgefunden hat, hat er nicht gehört. In der Dorfschule gebe es zwar ein kleines Radio und eine Lokalzeitung, aber von so was, nein. Was ein Film ist, weiß er nicht so genau. „Zu diesem Forum sind viele Menschen aus allen Erdteilen angereist, um zu helfen, die Welt gerechter zu machen.“ Einen Moment blickt Ole verblüfft, dann fängt er sich blitzschnell und sagt: „Sie wollen helfen? Das ist ganz einfach. Ich brauche 35000 Schil-ling als Schulgeld für mein letztes Jahr. Ich möchte Dorfschullehrer werden.“
Mit einer solchen Herausforderung hatte ich nicht gerechnet. Ich sehe mich Briefe an den DAAD oder das Goethe-Institut schreiben, verwerfe es aber gleich wieder. Hilflos bitte ich Ole, seine Adresse zu notieren, ich würde nachdenken. Er kritzelt eine Postbox-Nummer auf meinen Zettel.
Erst zu Hause, aber wie erlöst, wird mir klar, dass Ole Pesi Anspruch auf das Honorar für diesen Beitrag hat. Nun muss ich nur noch die IBAN-Nummer seines Bettkontos ausfindig machen. Oder seinen Lehrer oder jemanden, der mal eben nach Narok reist. Nicht wirklich eine Hürde. Dann kann Ole seine Lehrerausbildung abschließen. Er wird den Blick über die Dornenhecke heben, täglich Zeitung lesen, Radio hören und in andere Welten eintreten. Er wird unterscheiden lernen, verstehen, dass es eine Wahl gibt, die andere Gefahren einschließt. Wenn er einmal Nein sagt, dann wird es für immer sein.