Aber wer hört zu? Zwölf Jahre lang haben die Filmemacher Helga Storck und Peter Goedel an dieser überraschenden filmischen Rekonstruktion eines sehr speziellen Stückes Zeitgeschichte gearbeitet. Ermöglicht wurde die Fertigstellung schließlich durch die Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk, kein anderer Fernsehsender wagte sich an diese quer zum Zeitgeist liegende Dokumentation heran. Auch nicht der Mitteldeutsche Rundfunk, in dessen Sendegebiet der Film »An der Saale hellem Strande« gehört. Darf es in der DDR immer noch nichts Erinnernswertes gegeben haben?
Es geht um die Geschichte des Kulturhauses der einstigen Bunawerke in Schkopau bei Halle. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als überall Wohnungen fehlten, wurde dieser Kulturpalast unter sowjetischer Leitung gebaut – mit modern ausgestattetem Theater für 800 Besucher und über hundert Räumen für Zirkel und Feste aller Art. Die Arbeiterbewegung hatte von Beginn an einen kulturellen Ersatz für die Kirche gesucht, eine neue Feierkultur, Kunst galt als zentraler Vermittler der Volksbildung. Anknüpfend an die Volks- und Gewerkschaftshäuser der Weimarer Republik hat sich die DDR nach den auch geistigen Verheerungen der Nazi-Herrschaft die Idee der »allseits gebildeten Persönlichkeit« etwas kosten lassen. Im Laufe der Jahre entstanden mehr als tausend Kulturhäuser und 6.000 Dorfklubs – ein beinahe flächendeckendes Netz.
Beide Filmemacher haben die DDR als Jugendliche verlassen, sie haben keinen Grund zu irgendeiner Nostalgie. Aber das Erlebnis eines künstlerischen Angebots schon in der Kindheit hat beider Berufswege geprägt und war Anlaß genug, nach hartnäckigem Suchen bislang unveröffentlichtes Archivmaterial aufzustöbern und einstige Besucher und Mitwirkende nach ihren Erinnerungen zu befragen. Sie fördern dabei Details zutage, die vermutlich nicht nur die Zuschauer, die nie von solchen Einrichtungen gehört haben, in Erstaunen versetzen, sondern auch in der DDR Aufgewachsenen Neues erzählen.
So auch mir, die ich doch als junge Autorin zu den Heerscharen von Schriftstellern gehörte, die jährlich zu den »Tagen der Literatur« im riesigen Kulturhaus des Chemiekombinates Bitterfeld vor Brigaden gelesen haben. In einer Mischung aus Rührung und Befremden setzte ich junges Ding mich vor gestandene Werktätige, also Ingenieure, Facharbeiter, Angestellte aus der Verwaltung oder auch betriebseigene Kindergärtnerinnen, und las ihnen aus meinen unmaßgeblichen Geschichten vor. Da solche Lesungen grundsätzlich während der Arbeitszeit stattfanden, waren sie als Abwechslung willkommen, selbst wenn die Zuhörer keine geübten Leser waren. Von den anschließenden Diskussionen sollten beide Seiten etwas haben, denn sie führten meist mit der Offenheit, die aus den Texten herausgehört wurde, zu den naheliegenden Problemen des täglichen Lebens.
Dabei war der Anspruch dieses sozialistischen Bildungskonzeptes durchaus an Hochkultur orientiert. Ich wußte, daß schon in den 1950er Jahren in Bitterfeld die Meistersinger von Nürnberg aufgeführt wurden und Gastspiele der Moskauer Philharmonie oder des Leningrader Operntheaters auf dem Programm standen. Der Eintrittspreis betrug generell 2,20 Mark. Daß aber dieser Anspruch von dem Kulturpalast (auch die Proletarier sollten Paläste haben) in Buna noch weit übertroffen wurde, habe ich erst durch den Film erfahren.
Der beginnt mit einer Szene, in der Ernst Busch vom Berliner Ensemble auf der Bühne Arbeiterlieder singt, und der ganze Saal stimmt ein. Helene Weigel, Ekkehard Schall und Manfred Wekwerth waren mit ihrem Ensemble regelmäßig zu Gastspielen hier. Auch das Maxim Gorki Theater, etwa 1960, zur Eröffnung der Arbeiterfestspiele, mit Heiner Müllers »Lohndrücker«. Das Nationaltheater Weimar, Peter Schreier von der Staatsoper Berlin oder das Landestheater Halle mit seinen Händel-Opern wurden ebenso begeistert gefeiert wie die Mailänder Skala, das königlich-schwedische Ballett oder die Geiger Igor und David Oistrach.
Höhepunkt aber war die Entscheidung des damaligen Intendanten der Komischen Oper Berlin, Walter Felsenstein, während des Umbaus seines Hauses die Spielzeiten von 1965 und 1966 in das Kulturhaus Buna zu verlegen. Drei seiner Opern hatten hier Premiere: »Hoffmanns Erzählungen«, »Der Barbier von Sevilla« und die »Bettleroper«. Am Ende wurde ein Großteil der Belegschaft in die wiedereröffnete Komische Oper nach Berlin eingeladen, was den Betrieb in Buna beinahe lahmgelegt hätte. Gab es denn in dieser Provinz überhaupt genügend interessiertes Publikum? Das Kombinat hatte 18.000 Beschäftigte. Um sie ansiedeln zu können, sind eigens Halle-Neustadt und Halle-Silberhöhe gebaut worden. Da der Betriebsplan nur als erfüllt galt, wenn auch der Kulturplan abgeleistet war, und erst dann auf Prämien zu hoffen war, gab es schon einen Druck, die Angebote wahrzunehmen. Aber lieber verordnete Kultur als geduldete Unkultur.
Und zu den vielen Dutzend Zirkeln malender, filmender, tanzender, laienspielender, nähender, schreibender und komponierender Arbeiter, auch Kinder und Jugendlicher, gingen alle freiwillig. Die Bedingungen waren großzügig, erzählen einstige Teilnehmer. Man hatte Zugriff auf den Kostüm- und Requisitenfundus des Landestheaters Halle, und der Chor wurde zweimal im Jahr für neun Tage von der Arbeit freigestellt, um sich in einem Trainingscamp für die Arbeiterfestspiele fit zu machen. Es soll etwa eine Million Laienkünstler in der DDR gegeben haben, erfährt man.
Die Filmemacher stellen dem Wirtschaftswunder im Westen das Kulturwunder im Osten gegenüber. Nie zuvor sind die ernstzunehmenden Erfolge, wie auch die partielle Komik und die versuchte Instrumentalisierung der DDR-Kulturrevolution mit so viel Einfühlsamkeit und Sachkenntnis dokumentiert worden. Dabei werden auch die bitteren Seiten nicht ausgespart. Etwa, wie der Schöpfer der gefeierten Losung »Greif zur Feder, Kumpel«, der Schriftsteller Werner Bräunig, selbst mit seinem Anspruch verleumdet wurde und daran zerbrach. Oder wie die Schkopauer trotz all dem Gesinge und Getanze aufgebracht waren über den ständigen weißen Carbid-Staub über ihrer Stadt.
War alles umsonst, alles Schall und Rauch? Immerhin: Das Bildungsprivileg war entzogen, die Barriere zwischen Künstlern und denjenigen, die sie durch Wertschöpfung finanzieren, abgesenkt. Vielleicht haben die Arbeiter es falsch verstanden, aber von all den Bühnen wurde ihnen gesagt: »Wenn die Herrschenden gesprochen haben, werden die Beherrschten sprechen.« Spätestens 1989 haben sie gesprochen – mit Humor und einer, von vielen im Westen unerwarteten, politischen Reife.
Heute ist der Palast in Buna dem Verfall preisgegeben, die Fenster sind eingeschlagen, die weißen Wände ein Paradies für Sprayer. Im Kulturhaus Bitterfeld, das nun der Firmengruppe Preiss-Daimler gehört, überwiegen Firmengalen, Comedy-Lesungen, Musikantenstadl oder Travestieshows. Kultur und Kunst sind wieder etwas für Eliten. Das ist nur eine andere Spielart des Lobbyismus, der die Demokratie langsam zu zersetzen scheint. »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?« Der Film erinnert nicht nur an ein vergessenes Kapitel Kulturgeschichte, sondern hilft auch, unsere Lage zu erkennen.