Die heutigen Drohgebärden Russlands sind das Ergebnis jahrelanger westlicher Demütigungen: Zeit für einen Neuanfang – erschienen in der Freitag 10. Februar 2022
Bewies der Kanzler bei seinem Besuch im Weißen Haus Männerstolz vor Königsthronen? Er hat weder zugesagt, Waffen in die Ukraine zu liefern, noch das Projekt Nord Stream 2 sofort abzublasen. Aber vielleicht hat das der smarte Joe vom dankbaren Olaf auch gar nicht verlangt. Nichts schien dem US-Präsidenten und dem deutschen Regierungschef wichtiger, als zu demonstrieren, dass sie ein Herz und eine Seele sind. Zu Hause musste sich Olaf Scholz von Hardlinern eben noch anhören, es sei unmoralisch, keine Waffen ins Krisengebiet zu liefern. Dabei waren die 5.000 Helme für Kiew doch die kongeniale Symbolpolitik, da eine militärische Option für alle Seiten desaströs wäre. Und SPD-Chef Lars Klingbeil beschwor, was alle denken sollen: Russland ist der Aggressor.
Die nicht überraschende Botschaft aus Washington: Es werde harte Sanktionen für Russland geben, wenn es in die Ukraine einmarschiert. Trifft das vermutlich nie Geplante auch nicht ein, wird man das der eigenen Konsequenz zugutehalten. Dagegen sagt der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja, bei dem Aufmarsch handle es sich um „ganz normale Truppenbewegungen innerhalb russischen Staatsgebietes“. Die USA schaffe eine weltweite Hysterie, die wir uns nicht leisten könnten. Selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beruhigt, im Frühjahr 2021 habe es schon einen vergleichbaren Aufmarsch gegeben – ohne weltweite Aufregung.
Aber „normal“ sind solche von russischer Seite nicht näher begründeten Manöver auch nicht. Alle Angaben dazu kennt man von ukrainischen oder westlichen Geheimdiensten. Russland sagt: Desinformation. Informiert aber nicht. Es errichtet seine Drohkulisse. Kennen doch die Hasstiraden gegen die russische Führung keine Schamgrenzen mehr. „Das Putin-Regime und seine Verbündeten sind eine Geißel der Menschheit geworden“, hieß es in der Welt. Das Blatt konnte nicht wissen, dass dieser Titel vergeben ist. Geißel der Menschheit, das vom britischen Hauptrechtsberater der Nürnberger Prozesse, Lord Russell of Liverpool, 1954 herausgegebene Buch mit Zeugenaussagen zu den monströsen Nazi-Kriegsverbrechen gerade in Russland und der Ukraine, ist in der Bundesrepublik unterdrückt und nur in Antifa-Kreisen zur Kenntnis genommen worden.
Ist es so schwer nachzuvollziehen, was von russischer Seite als Aggression empfunden wird? Ein halbes Dutzend führende Politiker, allen voran der damalige US-Außenminister James Baker, haben Michael Gorbatschow versichert: die NATO „nicht einen Zentimeter ostwärts“! Zusagen unter Politikern galten einst als Ehrenwort – nicht so in der westlichen Wertegemeinschaft. Die NATO-Osterweiterung einen „Jahrhundertfehler“ zu nennen, wie es Egon Bahr tat, war Konsens in der SPD.
Als aggressiv dürfte es empfunden werden, wenn die USA mehr als zehnmal so viel für Rüstung ausgeben wie Russland. Wenn kein Protest gegen die neuen Raketensysteme in Rumänien hilft. Wenn Russland dem NATO-Angriffskrieg gegen seinen Verbündeten Serbien zusehen muss. Wenn die Rotation von NATO-Truppen an seiner Grenze die NATO-Russland-Akte unterläuft.
Ja, Drohgebärden von allen Seiten. Aber jahrelang hatte Präsident Putin andere Wege beschritten: mit seiner um gute Beziehungen fast flehenden Rede im Bundestag 2001, mit der Aufrechterhaltung der Kommunikations-Pipeline zwischen beiden Ländern, mit dem schon schärfer formulierten Missbehagen gegen die fortschreitende NATO-Osterweiterung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Nur ein Jahr später ermunterte die NATO auch Georgien und die Ukraine, die Mitgliedschaft anzustreben. Der Maidan-Putsch sollte die Türen zum Westen endgültig öffnen, die historisch gewachsene Verflechtung mit Russland rückabwickeln.
Mit Putins Antwort auf der Krim beginnt die Stunde Null im westlichen Kampf um Deutungshoheit. Wie viel Geschichte darf man rückabwickeln? Hat doch der ukrainische Sowjetpräsident Chruschtschow bekanntlich aus einer Laune heraus, gegen jedes Recht, die Krim der Ukraine schlicht geschenkt. Die gegen den Willen der Ukrainer erfolgte Rücknahme der Krim war zweifellos ein schwerer Bruch des Budapester Abkommens. Aber wie viele Vertragsbrüche waren dem vorausgegangen?
Das heutige Großmachtverhalten der russischen Führung ist das erwartbare Ergebnis jahrelanger westlicher Provokationen und Demütigungen. Die NATO, der Logik des Kalten Krieges entsprungen, versteht noch keine andere Sprache. Plötzlich kommt Bewegung in die Debatte, nichtsahnend rätseln alle: Was will der Russe? Dabei steht der Vorschlag für einen Vertrag zwischen der Russischen Föderation und den USA seit Mitte Dezember vorigen Jahres auf der Seite des russischen Außenministeriums. Kennt hier nur keiner. Eine deutsche Übersetzung bietet nur das Ostinstitut Wismar. Westliche Ignoranz?
In Moskau wurde Olaf Scholz bestätigt: Es geht um rechtsverbindliche gegenseitige Sicherheitsgarantien. Ist es eine Maximalforderung, wenn Russland keine Atomraketen an seiner westlichen Grenze akzeptieren will, die bis Moskau nur fünf Minuten brauchen? Die Ukraine ist inzwischen das ärmste Land Europas und darauf angewiesen, sowohl zur EU wie zu Russland gute Beziehungen zu haben. Die Mehrheit ihrer Bürger lehnt einen NATO-Beitritt ab. Are you ready – Joe and Olaf?