erschienen in: der Freitag 19/15
8. Mai Statt zum 70. Jahrestag des Kriegsendes Moskau zu boykottieren, sollte es endlich eine europäische Sicherheitsstruktur mit Russland geben
Der Entzug von verdienter Würdigung ist eine Sanktion, die schlimmer schmerzt als der Entzug von Brot. Die Rote Armee hatte sich nicht nach Krieg gedrängt – der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion nötigte sie zu dieser übermenschlichen Kraftanstrengung. Das anzuerkennen, schmälert nicht die Leistungen der alliierten Soldaten aus fast der ganzen Welt. Jedes Opfer, jeder Soldat hat nur das einzige Leben und den einzigen Tod. Individuelles Leid ist statistisch nicht zu fassen. Und dennoch potenziert sich das Elend, wenn der deutsche Angriff auf die Sowjetvölker mehr als doppelt so viel Menschenleben ausgelöscht hat wie im ganzen übrigen Europa.
Dieser Schuld der Vorfahren sollte in Deutschland nach wie vor mit angemessener Demut begegnet werden. In den letzten Jahren war gemeinsames Gedenken an die Befreiung auf Regierungsebene üblich geworden. Zum 70. Jahrestag erleben wir, wie sich Regierungen kleinkariert nicht nur um den symbolischen Dank drücken, sondern ihren Boykott auch noch mit pädagogischem Eifer präsentieren: Benehmt euch gefälligst so, dass ihr unsere Wertschätzung verdient. Einst hatten die Westalliierten und die UdSSR eine Art antifaschistische Wertegemeinschaft gebildet – im Krieg, in der Moskauer Deklaration von 1943, wie auch danach im Londoner Statut, der Rechtsgrundlage für die Nürnberger Prozesse.
Doch bald führte die Konkurrenz der Systeme zum Kalten Kriegsdenken. Der Antikommunismus wurde zum „zentralen Organisationsprinzip nicht nur der Regierungspolitik, sondern der ganzen Gesellschaft“, wie US-Vizepräsident Al Gore in seinem Buch Wege zum Gleichgewicht ausführlich beschreibt. Auch die NATO sei allein deshalb gegründet worden. In der Bundesrepublik kam zum notorischen Antikommunismus noch eine gewisse Russo-Phobie hinzu, die den vorwiegend slawischen Völkern der Sowjetunion eigentlich nie verzieh, besiegt worden zu sein. An diese Grundstimmung kann jetzt offenbar nahtlos angeschlossen werden.
In der DDR dagegen war der 8. Mai als Tag der Befreiung seit 1950 – verordnet oder nicht – gesetzlicher Feier- oder Gedenktag. Schließlich hatte auch die 39. UN-Vollversammlung 1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, auf Vorschlag der DDR den 8. und 9. Mai zu Ehrentagen des Sieges über Nazismus und Faschismus im Zweiten Weltkrieg und des Kampfes gegen neofaschistische Erscheinungen erklärt. Allein letzteres wäre Grund genug, sich an diesen bis heute geltenden UN-Beschluss zu halten. Angesichts der aus immer mehr Löchern kriechenden Leute,
die sich ihrer fremdenfeindlichen, antisemitischen Bekundungen und Übergriffe nicht schämen, sagten neulich jüdische Freunde resigniert: Es stimmt wohl nicht, dass die Deutschen durch die Alliierten vom Faschismus befreit wurden. Er ist ihnen nur weggenommen worden.
Ein Kranz der Kanzlerin in Moskau nach den eigentlichen Feiern ist besser als nichts, aber schlechter als eine Geste an anwesende Befreier. 2,5 Millionen noch lebende Sowjet-Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg hätten wohl ein Zeichen der anhaltenden Versöhnung verdient. Nach einem oft entbehrungsreichen Leben ist dies für viele das Einzige, was ihr Selbstwertgefühl ausmacht. Stattdessen begeht die Bundesregierung am 9. Mai im Berliner Palais am Funkturm den Beitritt zur NATO vor 60 Jahren mit einem „Ball des Heeres“, jenes Bündnisses, das zusehends von einer Verteidigungsallianz zu einer Wirtschafts-NATO wird, die den Kampf um Einflusssphären als legitimes Motiv für Interventionen und gezielte Regimewechsel betrachtet.
Wladimir Grinin, russischer Botschafter in Berlin, bedauerte, dass die Kommunikation zwischen beiden Seiten gestört wäre, da sie Geiseln der unterschiedlichen Wahrnehmung des Ukraine-Konflikts seien. Dabei war der von schweigenden Panzern observierte, vielsagende Volksentscheid zur Wiedervereinigung der Krim mit Russland nur ein Beschleuniger von Konflikten, die vorher schon brodelten. Vielfältige Quellen, auch aus den USA, belegen Ausbildung und Finanzierung eines Teils der Aktivisten der „Orangenen Revolution“ von 2004 durch den Westen, der permanent versucht hat, die Ukraine in sein Lager zu ziehen. Ganz nach der Empfehlung von Zbigniew Breziński, wonach Russland ohne die Ukraine zur Regionalmacht würde.
Russland sah dem nicht tatenlos zu, aktivierte seine Beziehungen zur einstigen Sowjetrepublik. Die Ukraine, ein von der politischen, kulturellen und religiösen Herkunft seiner Bevölkerung zutiefst gespaltenes Land, neigte sich wieder zur pro-russischen Seite. Der Euromaidan war der zweite, diesmal erfolgreichere Versuch eines Regime Changes. Russlands Reaktion als Akt sicherheitspolitischer Notwehr anzusehen, mag eine Wahrnehmung sein, die viele nicht teilen. Die Unverletzlichkeit von Grenzen sei oberstes Gebot. Russland hat allerdings mit territorialen Korrekturen nicht angefangen. Das war die NATO mit ihrem Krieg gegen Jugoslawien. Wenn die Unverletzlichkeit von Grenzen das höchste Gut ist, darf Krieg ohne UN- Mandat kein Werkzeug angeblich höherer Werte sein. Eine dringende Lehre aus diesem Irrglauben wäre, in Europa eine Sicherheitsstruktur unter Einschluss Russlands aufzubauen. Eine NATO mit Russland als Mitglied wäre eine zweite Befreiung.