Immer noch besteht das Grundmissverständnis zwischen Ost und West darin, dass eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte
Das Stück ist von so vorhersehbarer Dramaturgie, dass man ermüdet: Die einen, besonders die Verantwortlichen, erzählen die ökonomische Bilanz der Einheit als Erfolgsgeschichte, mit nur kleinen Schlaglöchern. Die anderen, gern als die Unverantwortlichen angesehen, sprechen von Desaster und Supergau. Weil im Osten mehr von Transfers leben als von Arbeit. Vieles ist dort doppelt so hoch: Die Zahl der Niedriglohnempfänger und der Hartz IV Aufstocker, der Leiharbeiter und der Arbeitslosen.
Viele schöne Chefs
Die einen verweisen auf den für die Mehrheit gestiegenen Lebensstandard, was sich in der Lebenserwartung zeige, im besseren Auto und an genutzten Reisemöglichkeiten, an der modernen Infrastruktur, und an Städten und Gemeinden, die nicht nur vor dem Verfall bewahrt wurden, sondern mit schmucken Fassaden und neuen Siedlungen auftrumpfen. Was die anderen nicht bestreiten, aber immer fragen: Wer ist Hausherr und wer Hausmeister in den neuen Villen? Die Restauration alter Besitzverhältnisse hat alte Machtstrukturen belebt. Die Befugnis, das Kommando zu übernehmen, wurde wieder an Geldbesitz gebunden. Die Kluft ist größer geworden, der Ton hierarchischer. Die Ostdeutschen sind heute die Bevölkerung in Europa, der am wenigsten von dem Grund und Boden gehört, auf dem sie lebt. Grundstücke, Betriebe, Bodenreformland, Wälder und Felder wurden zu Konditionen verkauft, von denen die einstigen DDR-Bürger weitgehend ausgeschlossen waren. Sogar westliche Politiker kritisieren, dass im Osten des Landes feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen wurden, wie sie selbst in Afrika und im Orient nach 1945 überwunden worden sind. Daran wird nun für Generationen nichts zu ändern sein. Die Ostdeutschen erleben einen Kapitalismus ohne einheimische Kapitalisten. Kein DAX-Unternehmen, in dem bemerkenswerte östliche Anteile stecken oder das auch nur von einem Ostdeutschen geleitet wird. Die Zahl der Millionäre stieg nach der Wende im Westen um 40 Prozent. Im Schnitt besitzt ein Westdeutscher heute dreimal so viel wie ein Ostdeutscher. Was vor dem Raubzug Ost nicht der Fall war. So viel staatliche Misswirtschaft, wie in der Zeit des Treuhandkommandos, hat es während der ganzen Planwirtschaft nicht gegeben.
Mehr Dankbarkeit wird dann angemahnt. Für das viele schöne Geld und die vielen schönen Chefs mit ihrem schönen Know how. Alles brauche seine Zeit, schließlich sei die DDR bankrott gewesen. Das Eingeständnis des legendären Schürer-Berichts darf in keiner Argumentationskette fehlen: die hohen Schulden, die drohende Zahlungsunfähigkeit, die nur durch eine unzumutbare Minderung des Lebensstandards aufzuhalten gewesen wäre. Also gar nicht. Die selektive Wahrnehmung, die man sich gegenseitig unterstellt. Vor über zehn Jahren stellte die Bundesbank in einer Abschlussrechnung fest, dass die Zahlungsbilanz weit weniger dramatisch war, als die politisch motivierten Selbstzeugnisse von Schürer und Schalk vorgaben. Den DDR-Verantwortlichen waren überhöhte Zahlen vorgelegt worden, um sie zu Reformen zu bewegen. (Oder gar zu mehr?) Den Schulden waren die Guthaben nicht gegengerechnet. „Die Auslandsverschuldung der DDR war um mehr als die Hälfte niedriger, als wir es ausweisen mussten“, korrigierte Schürer später sein Irritationspapier. Wobei die Wendung „ausweisen mussten“, auf beiden Seiten Fragen offen lässt. Immerhin war der ahnungslose Krenz mit dem gefälschten Papier sogar zum ahnungslosen Gorbatschow gereist, um Rat zu holen. Seit der Vereinigung muss jedenfalls jährlich etwa das Siebenfache der damaligen Schuld an den aus eigener Kraft nicht lebensfähigen Osten gezahlt werden – kein Desaster, fragen die anderen?
Nein, sagen die einen, denn jenseits aller Statistik war das wirtschaftliche Hauptproblem eben, dass die Leute die offensichtliche Kluft im Lebensstandard nicht mehr akzeptieren wollten. Sie hatten es satt in ätzender Luft und hinter bröckelnden Fassaden zu leben. Hinzu kam die Verbitterung darüber, dass der permanente Mangel an Waren und an Glaubwürdigkeit von der Unterdrückung beinahe aller kreativen Ansätze, der Gängelung und Bevormundung Andersdenkender gekommen war. Mehrheiten haben den Beitritt so gewollt, das muss man in einer Demokratie akzeptieren lernen.
Moment, sagen die anderen. Warum haben dann zwei Millionen Kreative seit der Wende das Weite gesucht? In Ostdeutschland stehen 15 Prozent der Wohnungen leer. Die Umwelt hat sich erholt, seit die Schlote nicht mehr rauchen. Die Versorgungsmängel haben sich aus den Kaufhäusern verlagert in die Zweiklassen-Versorgung in Medizin, Bildung und Kultur. Selbst im Osten stammen 60 Prozent der Elite aus dem Westen. In den Geisteswissenschaften und den Medien sind es 95 Prozent. Keine Bevormundung? Ja, fast alle wollten die Einheit. Aber nicht den bedingungslosen Beitritt. Noch im April 1990 lehnten den 83 Prozent der DDR-Bürger ab. Der von der Volkskammer dennoch verkündete stand im Widerspruch zum Mehrheitswillen. Angesteckt durch die revolutionäre Stimmung, verlangten drei Viertel in West und Ost, das Verhandlungsergebnis der Ministerialbürokratie, den Einigungsvertrag, durch eine Volksabstimmung überprüfen zu können. Wozu schließlich nicht einmal die Abgeordneten in den Parlamenten Gelegenheit hatten, die nur mit Ja oder Nein stimmen konnten, ohne auf irgend ein Gesetz Einfluss nehmen zu können. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) beklagte vor der Volkskammer, dass damit dem Parlament Würde und Sinn genommen sei. Im Bundestag weigerte sich Günter Müller (CDU) mit diesem „Ermächtigungsgesetz“ Blankoschecks auszustellen. 40 SPD-Abgeordnete befanden es in einer Erklärung als kein gutes Omen, dass aus dem Motto Wir sind das Volk nun eine Schwächung der Volksvertretung werde. Eine Sternstunde der Demokratie war der Beitritt nicht.
Lob der Desinformation
Immer noch besteht das Grundmissverständnis zwischen Ost und West darin, dass eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. Nirgends sonst gibt es so viele Mythen, Vorurteile und wohl auch Aggressionen wie bei den Besitzständen. Für Vernebelung wurde gesorgt. In den neunziger Jahren lief am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ein Projekt, das an Umrechnungsformeln zur Vergleichbarkeit der DDR-Wirtschaftskraft arbeitete. Als sich abzeichnete, dass sich das Bild der bankrotten Zonenwirtschaft schwerlich aufrecht erhalten lassen wird, sondern der Lebensstandard etwa dem Spaniens entsprochen hat, wurde die Fortsetzung der laufenden Forschung vom Wirtschaftsministerium durch Streichung der bereits eingeplanten Mittel verhindert. An unseren Vergleichszahlen war die Politik nicht interessiert, hörte man hinter vorgehaltener Hand frustrierte Wissenschaftler.
Die neuen Bundesländer brauchten nach der Schocktherapie bis 2003, um auch nur die Wirtschaftskraft vom Ende der DDR wiederzuerlangen. Alle ostdeutschen Städte und Gemeinden liegen heute unter der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung der EU. Nach Bedarf kann man dafür noch jahrzehntelang die marode DDR verantwortlich machen.
Die Einheit ist nicht als Glück verstanden worden, sondern als Geschäft. Das Stück, das darüber seither unermüdlich gespielt wird, heißt „Lob der Desinformation“. Immerhin – welche Rolle einem in diesem Stück zugedacht ist, darauf hat man doch einen gewissen Einfluss. Das ist nicht zu unterschätzen. Pünktlich zum Jahrestag lernen die Ostmetaller, was Warnstreiks sind.