Falsche Heilsversprechen – Eliten sind unfähig zur Selbstkritik

1990 hätte es die Chance auf eine Erneuerung der Demokratie gegeben. Stattdessen schlug die Stunde der Skrupellosen. Gibt es Hoffnung? Nur dann, wenn die Eliten ihre Privilegien aufgeben

DANIELA DAHN, DIETER KLEIN

erschienen in Berliner Zeitung, Nr.37, 13.Februar 2021 – Originalartikel als pdf

Im Jahr 1990 eröffnete das Ende des Staatssozialismus in Europa die historische Chance eines Neubeginns jenseits der Defizite von Plan und Markt, dafür diesseits partizipatorischer Demokratie und internationaler Friedensordnung. Sie blieb ungenutzt. Die Hybris des Westens hat sie verhindert, wie Antje Vollmer brillant belegt. Ihre überzeugende Analyse provoziert dennoch Nachfragen.
Warum hätte das vermeintlich siegreiche System einen Plan haben sollen, wie es weitergeht? Westlicher Triumphalismus verkannte das Übriggebliebene als das Bewährte, ging mit anmaßender Selbstverständlichkeit davon aus, dass mit dem Versprechen von Freiheit, Demokratie plus Marktwirtschaft der Höhepunkt gesell- schaftlicher Entwicklung erreicht sei. Andere Ordnungen würden nichts sehnlicher wünschen, als sich in das westliche Lebensmodell zu integrieren. Besser geht nicht – es sei denn, besser verdienen.
Die Stunde der Cleversten und nicht selten auch Skrupellosesten hatte geschlagen. Sie fanden sich im Washington Consensus: Deregulieren, Privatisieren, Spekulieren mit toxischen Fonds. Wehe dem Sieger, dessen Hochmut ihn blendet, die dunklen Wolken am Horizont wahrzunehmen.
Der tiefere Grund für diese blinde Unlust war die berechtigte Befürchtung der Herrschenden, dass zukunftsfähige Veränderungen ihre Besitzstände bedrohen würden. Denn zu fragen ist, welche Strukturen den Fortschritt blockieren. Solcher Ansatz mag old-fashioned anmuten. Aber er hat alle großen Umwälzungen in der Geschichte eingeleitet. Wie dringlich es ist, an die Wurzeln zu gehen, wird in der Corona- Bedrängnis tödlich sichtbar. Gesundheit und Leben sind das höchste Gut, weshalb es sich verbietet, sie global gewinnträchtiger Rentabilität unterzuordnen. Die für ein menschenwürdiges Leben fundamentale Daseinsfürsorge bleibt weit hinter dem zurück, was ihr in einer zivilisierten Welt zukommen sollte.
Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Sicherheit – Artikel 22 der UN-Charta ist für die meisten Menschen im In- und Ausland das wichtigste Grundrecht. Für westliche Eliten eher ererbte oder erworbene Selbstverständlichkeit, die hinreichendes Mitgefühl für die mit dem Pflichtteil Abgespeisten vermissen lässt. Ganz zu schweigen von der Ignoranz gegenüber dem Elend der Welt. Viele von uns Wohlhabenden haben nie verinnerlicht, dass die für uns so existenziellen politischen Grundrechte wie Rede- und Meinungsfreiheit nur denen zuteilwerden, die „frei von Furcht und Not“ sind.

Die Eigentumsfrage

Welche Politiker erwägen heute noch ernsthaft, statt Flucht Fluchtursachen zu bekämpfen? Die Digitalisierung wird als Herausforderung begriffen, die Alphabetisierung nicht. Beeindruckend, wie reiner Wasserstoff als Energie der Zukunft gewonnen wird, beschämend, dass gleichzeitig Milliarden Menschen nicht genug sauberes Wasser haben.
Der Fortschrittsglaube musste herbe Rückschläge hinnehmen. Das Ende von Fukushima war auch das Ende der Heilslehre von Fukuyama. Auf die Agenda weiterdenkender Kräfte gerät immer öfter die Forderung, die soziale Infrastruktur von Wasser, Strom, Heizung, Transport, Gesundheit, Pflege und Bildung nicht im zwingend Profit maximierenden Privateigentum zu belassen. Die Eigentumsgarantie müsse dort ihre Grenze finden, wo sie auf Kosten der Mehrheit zu abnormem Reichtum und dazu führt, dass wenige die Geschicke aller bestimmen. Die Daseinsvorsorge als Fundament der Gesellschaft müsse ein öffentliches Gut sein, ein Commons, ein Gemeinwohlsektor, der folgerichtig auf Gemeineigentum gegründet ist. Einem Eigentum, über das im Gegensatz zum Staatseigentum nicht separate Gruppen verfügen, sondern tatsächlich alle. Das durch keine feindliche Übernahme und keinen Politikerwechsel entzogen werden kann.
Eine Gesellschaft, in der ein solches Eigentum dominant ist, wäre die einzige, die gemeinschaftlich erwirtschaftete Überschüsse aus freiem, demokratisch ermitteltem Willen in einen Topf werfen kann, aus dem ein Luxus anderer Art subventioniert würde: heilig nicht Geld, sondern Gattung, nicht Profit, sondern Gesundheit von Mensch und Tier in unbeschadeter Natur.
Doch die in Art. 15 GG als Option angebotene Gemeinwirtschaft ist verfassungsrechtlich und erst recht in der Praxis Terra incognita. Gemeineigentum ist als Einfallstor für Demokratisierung der Wirtschaft unerwünscht. Es hat angeblich in der Kommandowirtschaft seine Untauglichkeit bewiesen. Doch eine Idee wird nicht durch ihre Verfälschung widerlegt. Die Verfälschung kann sich vielmehr an ihre Stelle setzen und sie auslöschen. So ist die Eigentumsfrage die verwundbare Stelle der kapitalistischen Gesellschaft geblieben. Wer die Systemfrage stellt, kommt an diesem Tabu nicht vorbei. Ein Verbot, das der Leitidee der „Geldwesten“ entspricht.
Warum hat die Sogwirkung der westlichen Demokratien so nachgelassen? Antje Vollmer verweist auf den zunehmenden Zweifel an der Einlösbarkeit der westlichen Heilsversprechen. Zwar hat sich vieles in den Lebensverhältnissen großer Teile der Bevölkerung in Ost und West verbessert, selbst einige Entwicklungsländer haben der Erwartung entsprochen, sich zu entwickeln. Gleichzeitig ist die obszöne Kluft zwischen Reichen und Armen fast überall ins Unermessliche gestiegen und droht selbst die Mittelschichten in den Abgrund zu reißen. Viele Menschen spüren, wie ihnen unter dem Druck der Konkurrenz (und nun noch der Pandemie) die Kontrolle über ihr Leben entgleitet. Ihre Kinder werden es einmal nicht besser haben, so befürchten diese schon selbst. Nie war nach dem Ende des Kalten Krieges die Gefahr eines heißen, nämlich atomaren Krieges so groß.
Die Kontrollmacht der Konzerne nimmt ständig zu. Wenige IT-Giganten bauen ihre digital gestützte Fähigkeit aus, von den Nutzern ihrer Plattformen Millionen Daten herauszufiltern, nicht nur um Voraussagen über deren Verhalten zu machen, sondern dieses in die gewünschte Richtung zu lenken. Lobbyisten vereinen das Eindringen in Märkte mit dem in die Seele der Menschen. Reguliert werden nicht mehr nur Volkswirtschaften, reguliert wird das Volk selbst. Massenhafte Persönlichkeitsprofile werden zu hochprofitablen Waren, gefragt bei Produzenten, Werbeagenturen, Wahlmanagern und Geheimdiensten. Ungezählte Kameras, Sensoren oder Fitnessgeräte erfassen rund um die Uhr Gespräche, Bewegungen, Vorlieben.
Diese Kehrseite einer zweifellos auch grandiosen Digitalisierung schafft einen alles überschattenden Überwachungskapitalismus, der den ungelenken Menschen zu einem gelenkten macht. Diese neue Machtfülle geben die Herrschenden nicht auf – doch warum sollten ihre Untergebenen das auf Dauer für Freiheit halten?
Ist die strukturelle Gewalt des Kapitalismus durch Selbstkritik der Eliten zu heilen? Antje Vollmer hofft darauf. Immerhin waren einzelne Vertreter der politischen oder medialen Eliten scharfe Kritiker des zerstörerischen Wachstums – fast ohne Erfolg allerdings. Man denke nur an die jahrzehntealten Warnungen des Club of Rome, deren düstere Prognosen dennoch überboten wurden. Kann man gewachsene Strukturen aus den Angeln heben wollen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, den Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu verlassen, wenn nicht gar die westliche Wertegemeinschaft?
Der der Rebellion unverdächtige einstige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde vertrat die Ansicht, dass der Kapitalismus nicht nur krank sei, sondern „seinen inhumanen Charakter“ offenbare. Sein einziges Ziel sei unbegrenztes Wachstum und Bereicherung. Das Gebrechen des Kapitalismus sei nicht in seinen Auswüchsen zu sehen, sondern in seiner Leitidee und deren systembildender Kraft. Deshalb könne die Krankheit nicht mit „Heilmitteln am Rand“ beseitigt werden, sondern nur mit „Umkehrung des Ausgangspunktes“. Daraus ist zu schließen, dass der Kapitalismus nur zu retten ist, wenn er so lange reformiert wird, bis er keiner mehr ist. Revolutioniert, nicht zuletzt durch Eroberung der Gesetz- und Verfassungsgebung.
Böckenförde fragte auch, wie das Volk als Gesetzgeber beschaffen sein muss. Sachkundig offenbar, nicht entpolitisiert von purer Unterhaltung dienenden Fernsehprogrammen, abgelenkt durch die Verführung sozialer Medien. Im Unklaren gelassen etwa darüber, dass der Kapitalismus sich mit Gesetzen und Verträgen gegen demokratische Einmischung weitgehend immunisiert hat. Soziale Bewegungen wie zuletzt die Fridays for Future werden ins Geschäft integriert. In die inhumane Funktionslogik der gesetzlich geschützten Privatwirtschaft.
Menschenrechte verteidigt man am besten, indem man sie selbst einhält. Das kritische Bewusstsein der Eliten wäre besonders gefragt gewesen, als begonnen wurde, den westlichen Lebensstil gewaltsam zu exportieren. Staaten, die es wagten, ihre Natur-Ressourcen privaten Eigentümern entziehen zu wollen, wurden früher oder später zu Schurkenstaaten erklärt und mit dem selbstmandadierten Recht zu Gewalt angegriffen. Mit Krieg, mit inszenierten Umstürzen oder lebensbedrohenden Wirtschaftssanktionen. Das ist viele Male geschehen.

Eine zerfallende Weltordnung

Staaten, die verstaatlichen wollen oder nicht schnell genug privatisieren, setzten ihre Bürger einem großen Risiko aus. Nach der vom Westen letztlich aufgekauften 89er-Revolution folgte bald die völkerrechtswidrige und unter falschen Behauptungen erfolgte Nato-Bombardierung Serbiens – ein überflüssiger Krieg mitten in Europa, um letzte Überbleibsel sozialistischer Wirtschaftsstrukturen zu zerschlagen. Mit „humanitären Interventionen“ hatte die Nato sich ein neues Betätigungsfeld geschaffen. Sie wurden begleitet mit vom Westen gestützten Farbrevolutionen, von denen keine so hoffnungsfroh endete, wie sie begonnen hatte. Und vom Krieg gegen den Terror, der vorgab, den Menschen Befreiung vom Islamismus im Tausch gegen Freiheit und Demokratie zu bringen. Die Lesart Einzelner, wonach Krieg der Terror der Reichen ist, Terror dagegen der Krieg der Armen, wurde geflissentlich überhört.
Wir stehen wieder an einer Zeitenwende. So wie es ist, bleibt es nicht. Noch sind Optionen offen. Es gibt Grund zu Hoffnung, aber auch zu der Angst, dass ein nationalistisches Bündnis von Teilen der Begünstigten mit Deklassierten in prä- oder offen faschistische Zustände mündet. Dennoch ist kaum zu erwarten, dass die privilegierten Eliten, von Ausnahmen abgesehen, zu einer Selbstkritik fähig sein werden, die über moralische Appelle hinaus auf Veränderung der ökonomischen und politischen Machtstrukturen zielt. Es sei denn, sie hätten den Mut, einzugestehen, dass ihre Privilegien nicht in einer vom Klima bedrohten, sich bekämpfenden, zerfallenden Weltordnung zu halten sind.
Sie hätten dann zu akzeptieren, dass die große Mehrheit der Menschen es vorzieht, in Ordnungen mit eigenen Wertvorstellungen zu leben. Und dass die Hybris des Westens aufhören sollte, sie allein deshalb als „Regime“ zu disqualifizieren. Soziale, fortschrittliche Bewegungen hier wie dort wären gleichermaßen als Verbündete zu akzeptieren. Die zu bewältigenden Schwierigkeiten haben Ausmaße angenommen, die ein Tabuisieren der hinderlichen Strukturen nicht mehr erlauben und statt Vormachtsfantasien friedlichen Wettstreit gebieten.