Sie war immer aufmüpfig.
Daniela Dahn
Geboren 1949 in Ostberlin. Ihr Vater war ein prominenter Wirtschaftsjournalist der DDR, die Mutter ist Kostümbildnerin und Malerin. Arbeit beim Fernsehen der DDR. 1981 Kündigung, um freie Schriftstellerin zu werden. 1989 Bürgerrechtlerin, obwohl auch Mitglied der SED. Verheiratet mit dem Schriftsteller Joochen Laabs. Eine elfjährige Tochter.
Gaus: Der Untertitel Ihres jüngsten Buches lautet »Vom Unbehagen in der Einheit«. Sie führen manche Gründe für Ihr Unbehagen an – vorab gefragt: Wenn Sie Ihr Unbehagen im vereinten Deutschland einer westdeutschen Frau Ihrer Generation gegenüber auf einen Generalnenner bringen wollten, was würden Sie ihr sagen?
Dahn: Dieses Unbehagen hat natürlich viele Komponenten. Aber wenn ich nach einem Generalnenner gefragt bin, würde ich wohl zunächst sagen, daß mir die Einheit manchmal wie ein Mißverständnis vorkommt, weil die eine Seite das Gefühl hat, sie gibt ihr Letztes, und die andere Seite meint, man nimmt ihr das Letzte. Und dieses Mißverständnis kommt daher, daß beide Seiten, die Leute auf beiden Seiten, tatsächlich einen ziemlich hohen Preis zu zahlen haben, während nur eine kleine Gruppe an der Einheit wirklich gewonnen hat. Und das Verrückteste ist, daß diese Gruppe es auch noch verstanden hat, ihre Methode des »Märkte schaffen ohne Waffen« als das Siegerideal hinzustellen. Dadurch sind auf beiden Seiten völlig verzerrte Bilder voneinander entstanden, und vor allem keine Chancengleichheit. Und das ist das, was ich – aber das weiß sie vielleicht selber – dieser Frau noch speziell sagen würde: daß wir Ostfrauen jetzt auf das gleiche Niveau gerutscht sind, wie die in ihren Chancen uns gegenüber doch benachteiligten Westfrauen.
Gaus: Worin bestand der Vorteil der Ostfrauen?
Dahn: Das läßt sich leider am leichtesten in Zahlen sagen: Neunzig Prozent waren berufstätig, im Westen sind es fünfundfünfzig Prozent. Und die Berufstätigkeit bringt eben doch Eigenständigkeit, Selbstbewußtsein, ein eigenes Leben.
Gaus: Nun sagen manche im Westen, vielleicht um sich ein bißchen zu rechtfertigen, daß das eigentlich eine erzwungene Frauenarbeit gewesen sei. Fast, als sei es Zwang gewesen.
Dahn: Damals konnte man das behaupten. Aber jetzt sieht man ganz eindeutig, daß fast alle nach wie vor und voll berufstätig sein wollen. Es ist nicht eingetreten, daß jetzt vierzig Prozent der Ostfrauen sagen: Endlich sind wir diesen Zwang los, wir wollen genau wie ihr viel lieber Hausfrauen sein. Sie wollen alle weiterarbeiten.
Gaus: Ganz hartgesottene Westler sagen dann: Ihr Ostfrauen seid eben durch vierzig Jahre sozialistische Erziehung verbogen. Ihr seid gar keine richtigen Frauen mehr.
Dahn: Was man als verbogen ansieht, ist natürlich immer eine Frage des Standpunktes. Wir haben manchmal Schwierigkeiten mit dieser verinnerlichten Hausfrauenmentalität, die dann auch noch als Lebensideal angesehen wird, und würden eher das als Verbogenheit ansehen.
Im übrigen zeigt sich jetzt: Obwohl es nicht selten frustrierend war, Berufstätigkeit mit Mutterschaft zu vereinen, so war es doch – scheint mir – der beste Frust, der für Frauen gegenwärtig möglich ist. Wenn ein Drittel der westdeutschen Frauen zugunsten der Karriere auf Kinder überhaupt verzichten muß, ist das aus unserer Perspektive auch eine Art Verbogenheit.
Gaus: Sie sagen, die Einheit als solche ist ja noch kein Glück, sondern allenfalls die Voraussetzung für gemeinsames Glück oder Unglück.
Dahn: So ist es. Die Einheit ist ja bisher eigentlich nur in der Währungsunion wirklich vollzogen. In allem anderen, ob mental, ob materiell, muß sie noch erreicht werden. Und es sieht im Moment eher danach aus, als ob die Gräben tiefer würden. Es war ein Anliegen von mir, diese verschiedenen Pole erst einmal zu beschreiben, ehe man sich annähern kann.
Gaus: Sie sind auch eine Bürgerrechtlerin gewesen. Obwohl seit 1972 Mitglied der SED, haben Sie im Oktober 1989 den Demokratischen Aufbruch, eine Bürgerrechtsgruppe, mitgegründet. Was haben Sie sich seinerzeit erhofft?
Dahn: Demokratischer Aufbruch war ja schon ein Motto. Es waren die Hoffnungen des Herbstes 1989, die man damals – zumindest noch im Herbst – auf die Kurzformel bringen konnte: Volkseigentum plus Demokratie. Das war das, was wir noch nie hatten, und was auszuprobieren wir nun wirklich neugierig waren. Und was auch alternativ und neu für die westliche Seite hätte sein können. Wir haben vollkommen unterschätzt, daß das von anderen als Gefahr erkannt wurde.
Und so ist in der Bundesbank ganz schnell – dreizehn Tage nachdem die Mauer gefallen war – ein Plan entwickelt und im Zentralrat der Bundesbank vorgestellt worden, der zum Inhalt hatte, jetzt schnellstens zu einer Währungsunion zu kommen. Denn das war klar: mit einer einheitlichen Währung sind eigene Vorstellungen nicht mehr möglich.
Gaus: Nun hat allerdings seinerzeit der damalige Bundesbankpräsident Pöhl zunächst – sogar öffentlich – von einer solchen schnellen und radikalen Währungsunion abgeraten. Er ist dann umgefallen. Das heißt, es muß ja auch Widerstand dagegen gegeben haben. Sie sagen, die herrschende Mehrheit im Westen war klug genug zu sagen: Das müssen wir schnell machen, sonst gibt es einen dritten Weg. Glauben Sie das?
Dahn: Das glaube ich ganz sicher. Es war ja nicht nur Pöhl. Pöhl hat mir gesagt – ich habe mich lange mit ihm darüber unterhalten –, daß er sich ärgert, nicht gleich zurückgetreten zu sein, als Zeichen. Es waren Sachverständige aus allen Wirtschaftsbereichen, die gesagt haben, das geht nicht gut, das wird sehr teuer für viele Jahre. Aber es war politisch so gewollt, um genau das zu vermeiden, was wir schon angedeutet haben. Und jetzt zahlen wir alle die Rechnung.
Gaus: Wenn ich mit Ostdeutschen spreche, stelle ich oft fest, daß sie viel schneller als ich an eine Art Meisterplan denken. An eine bewußte Absicht. Sie sind einer Verschwörungsvorstellung viel näher als ich. Ich kann nur für mich sprechen. Das, was ich sage, soll nicht für die Westdeutschen gelten. Ich befürchte, es ist viel schlimmer. Wenn es einen Interessenplan gibt, der für die Mehrheit nachteilig ist, kann man den Plan vielleicht aufdecken. Wenn er aufgedeckt ist, hat er schon die Hälfte seiner Kraft verloren. Ich befürchte, vieles geschieht, weil zum Beispiel viele im Westen seinerzeit tatsächlich geglaubt haben, die Marktwirtschaft würde das richten. Und zwar schnell und gut. Sie sind Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden? Sind auch Sie gelegentlich auf einen solchen Unterschied gekommen, daß Sie und andere aus dem Osten, die ich kenne und schätze, schneller als ich bei einer Verschwörungstheorie sind, bei einer Absicht?
Dahn: Ich würde das überhaupt nicht Verschwörung nennen. Ich empfinde es auch nicht so. Aber ich empfinde doch, daß diese Gesellschaft hier ganz stark eine Gesellschaft von organisierten Interessen ist. Und wer sich am besten organisiert, der setzt auch seine Interessen am besten durch. So war es auch bei der Einheit. Gerade in solchen Umbruchsituationen ist die Gefahr natürlich noch größer, daß sich Lobbyismus festmacht und durchsetzt. Sie sagen, man kann das aufdecken, man tut es ja auch, viele tun es. Ich habe ein Buch darüber geschrieben, viele andere ebenfalls. Das Aufgedeckte setzt sich im öffentlichen Bewußtsein aber nicht durch. Der Zeitgeist hat auch seine Interessenvertretung.
Gaus: Das glaube ich. Ich glaube, daß Fakten gegen den Zeitgeist fast ohnmächtig sind. Macht Sie das als Autorin bitter?
Dahn: Gelegentlich sehr, aber ich weiß keinen besseren Weg, diese Bitterkeit zu überwinden, als immer wieder dagegen anzuschreiben. Und gelegentlich habe ich dabei auch Erfolgserlebnisse. Ich muß wohl so weitermachen.
Gaus: Ich unterstelle, daß ein Bündel von Gefühlen Sie bewegt, und ich denke, daß es gemischte Gefühle waren, die Sie hatten, als die Berliner Mauer am 9. November 1989 fiel. Können und mögen Sie sich erinnern, was Sie seinerzeit, als die Mauer keine mehr war, empfunden haben?
Dahn: Es war Irritation, Verwirrung. Der 4. November lag erst fünf Tage zurück …
Gaus: Das war der Versuch, Volkseigentum und Demokratie …
Dahn: Genau. Das war der Höhepunkt unserer Hoffnungen. Und fünf Tage später – es war ja eigentlich sehr schön, ich habe mich gleich unter die Massen gemischt, es war eine Euphorie und eine Freude auf beiden Seiten, der man sich gefühlsmäßig nicht entziehen konnte. Und trotzdem war schon eine dunkle Ahnung dabei, daß es so überstürzt eigentlich nicht gutgehen kann.
Gaus: Sind Sie den Menschen gram, die Ihrem dritten Weg nicht folgen, sondern so schnell wie möglich im Westen konsumieren wollten?
Dahn: Ich bin ihnen nicht gram, aber eine gewisse Inkonsequenz muß man den Ostdeutschen schon vorwerfen: Erst wählen sie mit großer Mehrheit jene Parteien in die Volkskammer, die den schnellen Beitritt beschließen werden, und jetzt, wo der Beitritt geschehen ist, sind Umfragen zufolge zwei Drittel der Ostdeutschen gegen diese Ordnung. Die manchmal von Westdeutschen geäußerte Frage, ob wir uns das, was gekommen ist, vorher nicht vorgestellt hätten, kann ich nicht so ganz von der Hand weisen.
Gaus: Sind Sie von den Menschen enttäuscht?
Dahn: Das paßt nicht in mein Menschenbild.
Gaus: Die Enttäuschung?
Dahn: Ja. Diese Art Resignation über Menschen, daß ich sie aufgebe. Wenn ich enttäuscht wäre, könnte ich nicht mehr schreiben.
Warum?
Dahn: Weil ich doch beim Schreiben jemanden als Adressaten brauche. Wenn man von allen enttäuscht ist, hat man keinen Grund mehr zum Schreiben. Man kann nur sagen, ich sehe es anders, und ich will euch jetzt das erzählen, was ich beobachtet habe. Leuten, die man abgeschrieben hat, erzählt man nichts mehr.
Gaus: Ich wollte Sie das eigentlich nicht fragen, Sie sind noch so jung. Aber nun kommt die Gaussche Standardfrage doch: Wird es je etwas anderes geben als den alten Adam und die alte Eva?
Dahn: Es gibt den jungen Adam und die junge Eva.
Gaus: Die sind anders – außer jung?
Dahn: Die sind offener. Jetzt, wo es mit der DDR vorbei ist, merken wir doch, daß die beiden Bevölkerungen tatsächlich anders sind. Ich will nicht behaupten, daß man Menschen generell und andauernd verändern kann, aber daß sie zu prägen sind durch andere Erfahrungen, ist doch jetzt bewiesen. Sonst wäre man sich nach sechs Jahren nicht immer noch so fremd. Und gerade junge Leute sind für solche Prägungen offener, ich glaube durch Erfahrungen und, wenn Sie so wollen, durch Aufklärung beeinflußbarer. Wenn man nicht zumindest Hoffnung in diesen Gedanken hätte, wäre Schreiben auch relativ sinnlos.
Gaus: Bürgerrechtlerin, Frau Dahn. Beim Demokratischen Aufbruch waren Sie mit Herrn Eppelmann zusammen, der im Bundestag bei der CDU untergekommen ist. Andere sind bei anderen mehr oder weniger etablierten Parteien, wieder andere scheinen verbittert, versuchen aus ihrer Vergangenheit, ihren großen Tagen in der Wendezeit eine immerwährende Gegenwart zu machen. Es ist so verständlich wie unmöglich. Riskieren Sie ein Urteil über diese Verbitterten?
Dahn: Ich weiß nur, daß alle jene, die am Anfang im Demokratischen Aufbruch sehr einig und unzertrennlich waren, plötzlich sehr unterschiedliche Wege gegangen sind. Am Anfang haben wir uns auf eine Formel geeinigt, die in etwa lautete: Wir verwahren uns gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen. Unterschrift: Eppelmann.
Dann hat sich sehr schnell gezeigt, daß wir eigentlich alle etwas anderes meinen. Ein Urteil über Verbitterte: Es tut mir leid, aber früher war unser Umgang miteinander lockerer. Jetzt hat sich zwischen Autoren, Künstlern, Bürgerrechtlern eine Verkrampftheit hergestellt, die damals nicht da war. Ich glaube, Bärbel Bohley hat einmal gesagt: Die Künstler waren eigentlich immer nur Salonoppositionelle. Ich muß sagen, ich kann mit diesem Begriff ganz gut leben.
Ich erinnere mich, als wir – wir sind in dem Falle einige Schriftstellerkollegen – beim Schriftstellerkongreß 1987 gegen die Zensur gesprochen haben, das war, wenn ich mich recht entsinne, im Roten Salon in der Kongreßhalle am Alexanderplatz. Ich meine, man soll Opposition da machen, wo man gerade ist, Hauptsache, man macht sie. Und ich habe manchmal den Eindruck, einige dieser Bürgerrechtler sind heute nicht einmal Salonoppositionelle, sondern nur noch Salon. Das ist schon schade.
Gaus: Ich gehe ein paar Fragen zurück. Meine Frage nach Ihrer Mitbegründung des Demokratischen Aufbruch habe ich eingeleitet mit dem Hinweis, Sie seien Mitgründerin gewesen, obwohl Sie Mitglied der SED gewesen waren. Die Formulierung unterstellt, das eine schließe das andere aus, war aber absichtlich so von mir formuliert. Ich wollte Sie provozieren. Sie haben es auf sich beruhen lassen, aber nun frage ich: Ärgert Sie ein solches pauschales Urteil über die SED?
Dahn: Ja, das ärgert mich schon, weil es auch eines aus dem Nachhinein ist. Ich erinnere mich genau: Als wir damals am Gründungsabend in dieser Runde bei Pfarrer Neubert saßen, da habe ich es – vielleicht sogar zum ersten Mal im Leben – für nötig befunden, zu sagen, daß ich in der SED sei. Das zu erwähnen, war früher nicht nötig. Es war deshalb nicht so wichtig, weil wichtig war, wie man sich verhielt, nicht, wo man organisiert war. Da haben die Leute ziemlich genau unterschieden, glaube ich. An dem Abend dachte ich plötzlich, jetzt sage ich es nun mal gerade. Und es wurde mit Sonderbeifall aufgenommen, daß man von allen Seiten her zusammenhält und versucht, einen demokratischen Aufbruch zu finden. Es ist dann erst später wieder umgekippt, als man geglaubt hat, jetzt müsse man mal sauber sortieren, wo die Bösen waren und wo die Guten. Das ist natürlich eins von diesen vielen Klischees, gegen die zu schreiben ich auch versuche.
Gaus: Wie erklären Sie sich, daß heute das vorherrschende westdeutsche Urteil über die DDR-Realität der Nach-Stalin-Zeit so undifferenziert ist, eher grobschlächtig?
Dahn: Auch grobschlächtiger als es schon mal war, als die Mauer noch stand. Es ist schwer zu erklären. Sie leben mehr unter Westdeutschen als ich, wissen es sicher besser. Offenbar geht es um das Gefühl, jetzt ganz eindeutig unter den Siegern zu sein und die anderen kleinreden zu können. Endlich die gefunden zu haben, die alles falsch gemacht haben, muß doch sehr schön sein.
Gaus: Ich biete Ihnen eine andere Erklärung an, und Sie sollen sagen, ob Sie sie für möglich halten oder für ganz und gar falsch: Manches ist schiefgelaufen. Wir sprechen darüber, Sie haben darüber nicht das erste Mal ein Buch geschrieben. Diese Vergröberung der DDR-Realität im nachhinein vom Westen aus läßt die Fehler, die man gemacht hat, und von denen man allmählich sieht, daß man sie gemacht hat, eher erträglich erscheinen. Kann das sein?
Dahn: Sie meinen jetzt die westdeutschen Fehler? Das hängt – glaube ich – zusammen mit dem, was ich meinte. Die Fehler, die man gemacht hat, und die man weiter macht. Denn es läuft ja nicht so ganz besonders gut im Moment. Insofern ist es natürlich viel schöner, über die Fehler der anderen zu reden und sie als einzige Ursache für das, was im Moment nicht glatt läuft, darzustellen, als sich selbst zu befragen, ob man nicht möglicherweise auch das eine oder andere hätte verändern können in dem Moment, als alles offen war.
Gaus: Aber es war nicht alles offen, sagen Sie.
Dahn: Weil Leute es nicht offen wollten. Es hätte offen sein können.
Gaus: Haben Sie Erinnerung an diese wirren Zeiten der Wende, der unmittelbaren Wende? Halten Sie es für möglich, daß Sie und ich, Ihre Generation und meine Generation, etwas vergleichbar Freies nie wieder erleben?
Dahn: Ich fürchte es fast.