KENIA * Step by step den Reichtum in Besitz nehmen
Anderthalb Autostunden von Nairobi entfernt, rund um den von prähistorischen Vulkanbergen malerisch umsäumten Naivasha-See, werden auf riesigen Arealen Blumen gezüchtet. Doch sie setzen keine Farbtupfer ans Ufer, moderne Gewächshausanlagen verunzieren die Landschaft. Vor einer Rosenfarm glaube ich den Duft der von dicken Planen verhüllten Pracht wahrnehmen zu können. Am eisernen Eingangstor wird mir von einer uniformierten Kenianerin klargemacht, dass Besuche nur mit vorheriger, schriftlicher Anmeldung möglich seien. Ich müsse heute schon weiter, sage ich, hätte am Weltsozialforum teilgenommen und wolle nun noch das Land etwas kennen lernen. Ihr Gesicht hellt sich auf. „Dann sind sie also hier, um uns zu helfen?“ – Ich nicke verlegen, denn ich habe keine Ahnung, wie mir das gelingen könnte.
Nach einem Telefonat öffnet sie das Tor und nimmt mein Fahrrad in Obhut. Während ich in der Anmeldung auf jemanden vom Management warte, habe ich Gelegenheit zu beobachten, wie sie die Tüten und Taschen aller Frauen und Männer kontrolliert, die das Gelände verlassen. Alle tragen auch einen kleinen Wasserkanister nach Hause, der unbeanstandet durchgeht. Neben mir kommen, gehen, plaudern Schwarze, alle sehr gelassen. Nach längerer Zeit werde ich abgeholt – von einer Weißen. Die Nachfahren der Kolonisatoren sind weiße Eingeborene, die die Chefstellen geerbt haben. Meine Begleiterin ist überaus freundlich, aber der gehetzte Blick auf die Uhr verrät europäische Prägung.
Hier schützen die Gewächshäuser vor der glühenden Sonne, alle 30 Minuten werden die Pflanzen mit kühlem Wasser besprenkelt. Immerhin, es gibt den Achtstundentag, Samstags werden fünf Stunden gearbeitet. Das bringt für die Angestellten der Farm laut Tarifvertrag im Monat einschließlich Wohngeld umgerechnet knapp 40 Euro. Allein die Miete für ein betriebseigenes Zimmer ohne Strom und Wasser beträgt zehn Euro. Zum Vergleich: Ein Universitätsdozent verdient knapp 500 Euro, ein Abgeordneter, manche sollen Analphabeten sein, dagegen etwa 13.000 Euro im Monat.
Wie jeden Tag durchquert ein Großtransporter das Gelände, mit der frischen Ernte auf dem Weg zum Flughafen, zu den zahlungsfähigen Kunden in Holland, aber auch in Deutschland. Unsereins findet einen solchen Flug strapaziös, die unter den Passagieren im Frachtraum in gekühlte Kartons gebetteten Rosen scheinen diese energieaufwendige Perversion nicht zu verübeln.
Als ich mein Fahrrad durchs Tor schiebe, wird meine Tasche nicht kontrolliert. Nicht bei allen Kenianern gelten weiße Teilnehmer des Weltsozialforums unnachgefragt als Verbündete. Ein Treffen, das fünf Euro Eintritt kostet und das Mittagessen noch mal soviel, ist für viele von einem G 8-Gipfel kaum zu unterscheiden. Es genügt nicht, dass auch wir uns dem Protest gegen das beabsichtigte Wirtschafts-Partnerschafts-Abkommen (EPA) vor den EU-Büros in Nairobi anschließen. Wenn wir die von den Interessen der großen europäischen Konzerne geprägten Vorgaben, die afrikanische Farmer noch mehr marginalisieren würden, nicht verhindern, machten wir uns der Ausbeutung mitschuldig, sagt man uns. Dem ist nicht zu widersprechen. Schon jetzt richten die subventionierten westlichen Agrarprodukte auf dem afrikanischen Markt einen Schaden an, der die Summe der Entwicklungshilfe um ein Vielfaches übersteigt.
War hier das Paradies?
Andererseits ist die Zeit, in der die Erklärung für das ganze Elend Afrikas in den Kolonialschoß gelegt wurde, längst vorbei. Ob Hoteliers, Farmer oder Akademiker, überall trifft man auf Menschen, die der eigenen schwarzen Elite äußerst kritisch gegenüberstehen. Sie seien brainwashed vom Kolonialgebaren, wirtschafteten alles in die eigene Tasche, benähmen sich wie Könige, ja Götter, ohne sich noch um die irdische Infrastruktur zu kümmern.
Die größten Feinde Kenias seien die einheimischen Wirtschaftsverbrecher, die von der Unabhängigkeit bis heute für Vertreibungen und Morde, für das Schüren von Stammeskämpfen, die Vernichtung öffentlichen Eigentums und illegales Gelddrucken verantwortlich sind, sagt der Rechtswissenschaftler Dr. Lumumba von der Universität Nairobi. Auf den für alle zugänglichen Debatten im Jeevanjee Garden im Zentrum der Stadt fordert er unter dem Beifall der Anwesenden, dass es zur Abschreckung endlich zu der seit Jahren geplanten Wahrheits- und Versöhnungskommission kommen müsse, die alles unter den Tisch Gekehrte untersuche. „Es ist schlecht für ein Land, seine Vergangenheit in kollektiver Amnesie zu vergessen.“ Déjà vu – jedenfalls schon mal gehört.
Bisher nie gehört – das morgendliche Gebrüll der Flusspferde. Die ab- und auftauchen wie U-Boote. Wie lange halten sie es unter Wasser aus? 30 Minuten, sagt der Fahrer unseres schmalen Motorbootes, mit dem wir uns vorsichtig einem ausgelassen prustenden und planschenden Rudel nähern. Eine Minute hatte am Vortag die Köchin gesagt. Nicht immer liegt die Wahrheit über widersprüchliche Auskünfte zu Fremdem in der Mitte und nicht immer ist sie so leicht zu ermitteln, wie beim Chef des Naturparks, der verbindlich weiß, dass es drei Minuten sind. Doch jetzt scheint sich ein Hippobulle in seinem Spiel durch uns belästigt zu fühlen und taucht mit einem Angriffsschrei in unsere Richtung ab. Hektisch reißt unser Führer das Ruder herum (one bite – two pieces) und fährt mit Vollgas durch die lila Wasser-Hyazinthen. Hin zu den zwischen bunten Vögeln friedlich grasenden Zebras und Gazellen auf der kleinen Insel im See. War hier das Paradies? Kenia, gesegnet von Naturschönheit, hätte alle Voraussetzungen, eins zu sein.
Später frage ich den Architekten M. Bulli, Neffe eines einst bekannten sudanesischen Rebellenführers, der in Süddeutschland und Kanada studiert hat, ob er sich hier eine Versöhnungskommission nach südafrikanischem Muster vorstellen könne. Nicht ahnend, welch wunden Punkt ich damit bei dem Dozenten anspreche, der an Politiker sehr eigene, nämlich strenge Maßstäbe setzt: „Die Versöhnung dort basiert für mich auf Unrecht, Mandela ist ein Feigling, der sich nicht traut, die Kernfrage zu stellen. Das größte Problem in Afrika ist die anhaltende Akzeptanz der kolonialen Vertreibung der einheimischen Bevölkerung von ihrem angestammten Land. Es kann keine Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen geben, wenn dieses Unrecht tabuisiert wird.“
Dieser Vorwurf ist so evident, dass man sich fragt, weshalb man nicht längst selbst darauf gekommen ist. „Es hat nur einen Politiker in Afrika gegeben, der den Mut hatte, dieses Tabu zu brechen: Robert Mugabe aus Simbabwe. Dieser einstige Held des Unabhängigkeitskampfes, der unter der weißen Minderheitsregierung mit anderen revolutionären Denkern zehn Jahre im Gefängnis saß, galt anfangs als einer der fähigsten Staatsmänner auf unserem Kontinent“, meint Mister Bulli.
Bis 1990 habe es in Simbabwe eine Art Planwirtschaft gegeben. Als die Hilfe des nunmehrigen Irrealsozialismus ausblieb, zwang der IWF zu Liberalisierung und Anpassung, was die Probleme verschlimmerte. „In dieser Lage war die vom Parlament zum Gesetz erhobene und in die Verfassung aufgenommene Idee einer Landreform naheliegend: Enteignen kann man nur jemanden, dem etwas gehört. Da sich die Großagrarier das Land einst gewaltsam angeeignet und später manchmal trickreich für Peanuts erworben hatten, was als nichtig anzusehen ist, mussten sie bei der Beschlagnahme dieses ihnen nicht gehörenden Landes auch nicht entschädigt werden.“ Geld erhielten sie für Gebäude und Investitionen. Derart ausgezahlt, hatten etwa 3.000 weiße Farmer das Feld zu räumen – ihr Land wurde unter 150.000 schwarze Neufarmer aufgeteilt.
Der Westen wollte kein unliebsames Exempel, sprach von Aushöhlung rechtsstaatlicher Grundsätze, verhängte eine Wirtschaftsblockade und setzte auch afrikanische Verbündete Simbabwes unter Druck, Mugabe zu isolieren. 2002 wurde die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eingestellt und dank Tony Blair Simbabwe 2003 aus dem Commonwealth of Nations ausgeschlossen. Die Inflationsrate stieg auf 1.200 – die Arbeitslosigkeit auf 80 Prozent. Unlängst hat der Satellitenbetreiber Intelsat wegen fehlender Devisen für die Gebühren, das Land praktisch vom Internet abgehängt – ein Drama nicht nur für die Tabak- und Getreidebauern, die ihre Produkte exportieren wollen.
Unter schweren Repressionen machte Mugabe schwere Fehler. Vergab das Land an politische Anhänger und versäumte es, Ersatz für die von den Weißen mitgenommenen Maschinen zu beschaffen, vernachlässigte die landwirtschaftliche Ausbildung der Neufarmer, die heute oft herzlich wenig ernten. Inzwischen wird über die Rückkehr der weißen Farmer auf der Basis einer 99-Jahres-Pacht nachgedacht. Ein demütigendes Armutszeugnis. „Heute ist Mugabe ein gewöhnlicher, uneinsichtiger, seniler Herrscher“, meint Mister Bulli. Es sei schon bitter, wenn zu den politischen noch die menschlichen Enttäuschungen kämen. Denn vor der Weltöffentlichkeit hat sich nun eine vermeintliche Wahrheit eingeprägt, die zu beweisen war: Wer es wagt, die herrschenden Eigentümer anzutasten, wird sein blühendes Land unweigerlich in ein Armenhaus verwandeln.
Starr vor Schreck
Wenn die ererbten, kolonialen Eigentumsstrukturen das Kernproblem Afrikas sind, erhebt sich die dringliche Frage, weshalb sich nicht mehr NGOs, Juristen und Regierungen für eine gemeinsame Lösung verbünden. So etwas lässt sich offensichtlich nicht in einem Land durchziehen. Ließe sich dafür nicht ausnahmsweise von den religiösen, ethnischen, stammesgeschichtlichen, sprachlichen und kulturellen Differenzen absehen?
„In Kenia gibt es keine linke Partei. Wer hier gegen etwas Grundsätzliches protestiert, wird sofort als Kommunist verschrien, wird verfolgt und riskiert sein Leben. Nach 40 Jahren Kapitalismus sind die Leute eingeschüchtert und desinformiert“, meint der Architekt, der übrigens nicht Villen sondern Sozialeinrichtungen baut. „Wir hatten einmal einen sehr fähigen Präsidentschaftskandidaten, Raila Odinga Oginga, der hatte in der DDR studiert und war deshalb als Marxist verschrien. Hinter vorgehaltner Hand hat mir damals ein britischer Teefarmer erzählt, wie sich alle Geschäftsleute und Grundbesitzer zusammengetan haben, um Wähler zu kaufen, zu bestechen und zu drohen: Wenn ihr den wählt, ziehen wir unser Kapital ab. Nein, wer links ist, hat politisch keine Chance. Ich hätte mich als Student auch für ein DDR-Stipendium bewerben können, aber mir war klar, dass mir danach keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr geblieben wären.“
So gesehen, müssen den Sicherheitskräften auf dem Weltsozialforum in Nairobi ob all der subversiven, westliches Rechtsverständnis ablehnenden Reden die Ohren geklungen haben. Und doch sind die kolonialen Eigentumsstrukturen letztlich nicht ernsthaft in Frage gestellt worden. Bischof Tutu durfte eine neue Weltordnung fordern. Ob es die ohne die Rückabwicklung skandalöser Privatisierungen und feindlicher Übernahmen, ohne gesetzlich legitimierte Enteignungen je geben wird, wagte niemand zu fragen. Solange das WSF hierzu keine Position bezieht, wird es im Unverbindlichen stecken bleiben. Und letztlich in Davos, beim Weltwirtschaftsforum, niemanden stören.
„We will make it step by step“, sagt der Anführer der 40köpfigen boysgang ganz cool. Dann stürmen die Kinder aus dem Slum die Vitrine mit den Vorspeisen. Roher Schinken, gekochte Eier, gefüllte Tomaten. Die Angestellten des dem Sicherheitsminister gehörenden Lokals Windsor, stehen starr vor Schreck. Fotografen springen auf die Theke und halten fest, wie sich die Jungs nun aus den Alupfannen mit den Hühnerbeinen und Würsten versorgen. In Ermangelung von Papptellern wandern Lammkoteletts in Trinkbecher, Nudelaufläufe werden auf ausgebreitete Zeitungen gekippt. Wenn seine Catering-Firma nicht zum Zuge käme, würde der Zugang zum Tagungsort des Forums verweigert, soll der Minister gesagt haben, der für einen rüden Umgang mit Andersdenkenden bekannt ist und eben im Namen der nationalen Sicherheit die Redaktionsräume der wichtigsten kenianischen Zeitung The Standard durchsuchen ließ. Nun stehen die Polizisten neben den hungrigen Rebellen und können angesichts der anwesenden Weltöffentlichkeit nichts machen. Sie scheinen sich nur noch zu fragen, was mit den Desserts geschehen wird. Doch schon greifen kleine schwarze Hände ins Sahneeis.
Wer diese Szene erlebt hat, weiß, was kommen wird. Die dritte Welt wird uns step by step aufrollen. Und sie wird alles moralische Recht dazu haben. Es ist nur eine Frage der Zeit.