„Wenn die Demokratie nicht die Wirtschaft erfasst, ist sie keine“
Daniela Dahn hat ein neues Buch geschrieben. Sein provokanter Titel „Demokratischer Abbruch“ ist ein Wortspiel im Zusammenhang mit dem „Demokratischen Aufbruch“, einer Partei der Wendezeit, deren Gründungsmitglied Daniela Dahn einst war, und die sie aus Protest gegen das Wahlbündnis mit der CDU Kohls verließ. Schon damals begann also der Abbau von Demokratie. Heute, fast fünfzehn Jahre nach der Vereinigung, hat er solche Ausmaße angenommen, dass man von einem Abbruch sprechen muß. Das Buch ist eine Sammlung von Vorträgen und Veröffentlichungen Daniela Dahns aus den Jahren 2003 und 2004.
Frau Dahn, Sie haben, wie Werner Mittenzwei schrieb, nach der Wende mutig
mit ihren Büchern die Einheitsfront der Medien aufgebrochen und brachten zur Sprache, was die Bürger im Osten durch die Wiedervereinigung verloren haben. Hat Sie dieser Mut nicht manchmal angesichts der ernüchternden Bilanz der Einheit verlassen?
Ich habe nicht erst nach der Wende beschrieben und bewertet, was ich um mich herum beobachtet habe. Vielleicht habe ich nach der Wende nur schneller hinter die Kulissen geschaut und das anhaltende Desaster früher auf uns zukommen sehen. Gelegentlich macht es keinen Spaß, Recht zu behalten. Heute ist die Ernüchterung über die angeblichen Selbstheilungskräfte des Marktes auch im Westen nicht mehr zu leugnen. Gerade ist in meinem Verlag, dem Rowohlt Verlag, ein Buch mit dem Titel „Supergau Deutsche Einheit“ erschienen. Heute kann die Kritik gar nicht reißerisch genug sein, wer vor zwölf Jahren die Fehler benannt hat, ist von allen Seiten geprügelt worden. So ist das immer – wenn die schlechte Nachricht zum Allgemeingut geworden ist, kann man sich getrost abwenden und die Themen aufgreifen, die heute verdrängt werden.
Worin sehen Sie zusammengefasst die wesentlichen Trümmer und Tabus der bundesdeutschen Demokratie?
In Trümmern liegen nicht nur große Teile des Sozialstaates. Auch die einstige Gewissheit der Menschen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ist weitgehend dahin. Ein nicht auszuschließender Absturz ins soziale Aus steht vor allen, die nicht verbeamtet sind oder kein Einkommen aus Finanz- oder Immobilienbesitz haben. Die also auf Arbeit angewiesen sind. In Trümmern liegt das Vertrauen in die Politik weil unübersehbar geworden ist: die Regierung regiert nicht mehr. Dennoch lautet das bestgehütete Tabu: Wenn die Demokratie nicht die Wirtschaft erfasst, ist sie keine. Die lebenswichtigen Entscheidungen fallen zunehmend in der demokratisch nicht legitimierten Wirtschaft. Daraus erklärt sich die historisch einmalige Reichtumsexplosion, die das zweitbestgehütete Tabu ist. Tabuisiert wird immer noch der kausale Zusammenhang zwischen arm und reich. Der Unwillen darüber wächst zur Zeit derart, dass einige Gehälter nicht etwa gekürzt, doch zumindest öffentlich gemacht werden sollen. Immerhin.
Eines Ihrer oft wiederholten Argumente ist, dass Schriftsteller nicht dazu da sind, Lösungen anzubieten. Dazu hätten wir schließlich die Politiker. Bleiben Sie dadurch nicht auf halben Wege stehen?
Es ist die Aufgabe von Schriftstellern und Intellektuellen, schonungslos auf die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Gesellschaft zu verweisen. Oder wie der unlängst verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu verlangte: „kritisch zugunsten universeller Werte zu intervenieren“, Wächter der Demokratie zu sein. Schriftsteller sind Sand im Getriebe der Verwurstung von Idealen, ihr Los ist es, zu stören. Diesen Weg müssen sie allerdings bis zu Ende gehen. Auch wenn an jenem Ende nur Angriffe, Spott und Ausgrenzung auf sie warten. Dieser Weg ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem bequemen: Hannemann, geh du voran. Jeder Bürger, ob nun sein Problembewusstsein durch Schriftsteller sensibilisiert und geschärft wurde oder nicht, hat gefälligst die Aufgabe, gemeinsam mit anderen über Lösungen und praktische Schritte dorthin
nachzudenken und dabei „nicht auf halbem Wege“ stehen zu bleiben. Ich werde ungehalten, wenn diese Bürde einfach delegiert wird.
In Ihrem neuen Buch „Demokratischer Abbruch“ schreiben Sie im gleichnamigen Kapitel,, dass die Forderung Rousseaus nach einschränkenden Bestimmungen über das Eigentum bis heute nicht erfüllt ist. Welche konkreten Einschränkungen wären Ihrer Ansicht nach notwendig für die von Ihnen gewünschte neue Wirtschaftsordnung?
Das ist eine der schwierigsten Fragen und ich werde das Gefühl nicht los, Sie wollen mich immer noch voran schicken. So genau ich konnte, habe ich es ja beschrieben: Wenn es wahr ist, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht die Menschen für die Wirtschaft, muss die menschenfeindliche Profitmaximierung überwunden werden. Was zweifellos ein Eingriff in die unumschränkte Verwertungshoheit der Eigentümer wäre. Außerdem scheint es mir höchst zweifelhaft, dass die Massenarbeitslosigkeit bei fast ausschließlichem Privateigentum an Produktionsmitteln je überwunden werden könnte. Hier sehe ich keine systeminterne Lösung mehr – das ist auch so ein Tabu. Es ist Aufgabe von Unternehmen effizient zu wirtschaften, nicht aus altruistischen Gründen Arbeitsplätze zu schaffen. Das muss der Sozialstaat machen, was er aber nur kann, wenn er selbst Unternehmer ist. Wenn er also demokratisch legitimiert über Gemeineigentum verfügen kann, über Güter, die allen gehören sollten: Wasser, Energie, Bodenschätze, also ein Teil des Grund und Bodens, Verkehrswege usw.
Auch existentielle Dienstleistungen wie Bildung, große Medien, Gesundheitsfürsorge, Telekommunikation, Post und Bahn müssen nicht überwiegend privat sein. Dabei will ich selbstredend nicht zurück zu bereits gescheiterten Modellen. Aber „Gemeineigentum plus Demokratie“ ist für mich eine immer noch unerprobte Zauberformel.
Sie betonen, dass Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite in
Deutschland schneller wachsen, als die Wirtschaft. Noch schneller wachsen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Aber der Widerstand der Betroffenen
wächst nicht im gleichen Maße. Die Montagsdemos sind versickert. Ist das nur Resignation und Politikverdrossenheit der Leute oder muß es erst noch schlimmer kommen?
Die Proteste sind versickert, weil die Politiker aller Fraktionen klargemacht haben, dass sie ihren Sozialabbau unbeeindruckt durchziehen werden. Sie glaubten die Sorgen einer betroffenen Minderheit ignorieren zu können und haben nicht wahrhaben wollen, dass sie die gesamte Gesellschaft in eine Angstgesellschaft verwandeln. Das Ausbleiben weiterer Proteste ist gerade der Beweis, wie gut Hartz IV funktioniert: die Lohnabhängigen sind durch die aberwitzigen Verschärfungen der Zumutbarkeitsregeln noch abhängiger, noch eingeschüchterter geworden. Soviel aufgenötigte Minderwertigkeit bei gleichzeitiger Chancenlosigkeit ihr zu entkommen, treibt den Rechten demnächst womöglich scharenweise Sympathisanten zu. Diese Gefahr halte ich für wahrscheinlich.
Sie bezeichnen sich selbst als Radikaldemokratin. Man kann aus Ihrem Buch den Eindruck gewinnen, dass Sie auch radikaler sind als die demokratischen Sozialisten. Worin unterscheiden Sie sich von diesen?
Radikaldemokraten sind für mich Leute, die sich mit den Gefährdungen und Verletzungen der Demokratie nicht abfinden, sondern Lügen und Heuchelei kompromisslos aufdecken und anprangern. Für sie ist die Nichteinhaltung von Programm- und Wahlversprechen kein Kavaliersdelikt. So gesehen sind zumindest die mitregierenden demokratischen Sozialisten alles andere als radikal. Kein Abgeordneter kann heute ernsthaft behaupten, nur seinem Gewissen verpflichtet zu sein. Ich kann das behaupten. Politiker müssen Kompromisse machen um als Abgeordnete zu überleben, für Schriftsteller verbieten sich Kompromisse bei Strafe ihres Unterganges.
Zu etwas anderem. Sie haben in ihrem Buch eine sehr erbauliche, zweiflerisch –
ironische Deutung der Schöpfungsgeschichte versucht. Kann man in Zukunft weitere solcher Köstlichkeiten erwarten?
Erwarten kann man immer.
Das Interview führte MANFRED BOLS