Interview Potsdamer Neueste Nachrichten vom 6.1.2010

Frau Dahn, wünschen Sie sich gelegentlich die DDR zurück?

Das kann man meinen Büchern wohl kaum entnehmen. Sonst wäre ich auch nicht in den „Demokratischen Aufbruch“ gegangen und hätte mich nicht für Veränderungen eingesetzt.

Aber in Ihrem Buch „Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen“, aus dem Sie heute in Potsdam lesen, schreiben Sie, dass nicht Demokratie und Marktwirtschaft, sondern soziale Marktwirtschaft und Sozialismus siamesischen Zwillinge seien. Das heißt dann doch im Umkehrschluss, dass die kapitalistische BRD auf Dauer ohne die sozialistische DDR nicht existieren kann?

Dieser Umkehrschluss ist nicht korrekt. Ich schreibe ja, dass es nicht darum geht, sich das alte Korrektiv zurückzuwünschen. Aber wir müssen darüber nachdenken, dass dieser Kapitalismus eines Korrektivs bedarf und dieses im Moment nicht existiert.

Und worin könnte dieses Korrektiv bestehen?

Es müsste der Globalisierung des Kapitals auch eine Globalisierung von unten, von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gegenüber stehen, die eine Art Gegenkraft sind. Ich weiß, dass das leichter gesagt als getan ist. Aber ich glaube, dass in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür langsam wächst.

Sie schreiben in Ihrem Buch von dem „emanzipatorischen Erbe“ der DDR, das im Zuge der Wiedervereinigung vom Westen ignoriert wurde. Was meinen Sie mit diesem „emanzipatorischen Erbe“?

Wenn dieser Pseudosozialismus, wie Rudolf Bahro ihn gern nannte, eine historische Leistung vollbracht hatte, dann die, dass Banken, Versicherungen und Konzerne nicht mehr den Ton angaben und die Politik bestimmten. In einem ganzen Kapitel zähle ich auf über 60 Seiten Beispiele auf, wie sich das bemerkbar machte. Also bestimmte Praktiken in der Arbeitswelt, in landwirtschaftlichen Genossenschaften, im Verkehrswesen, im Gesundheitswesen und im Bildungswesen, der Emanzipationsvorsprung von Frauen. Allein der Umstand, dass in der DDR über 90 Prozent der Frauen gearbeitet haben und gleichzeitig mindestens ein Kind hatten, spricht für sich. Vergleicht man das mit der bundesdeutschen Praxis, wo ein Drittel aller Frauen sich wegen des Berufes nicht leisten können, Kinder zu haben, empfinde ich das als eine ziemlich erschreckende, auch unmenschliche Alternative, vor die Frauen da gestellt wurden.

Dann hätte dieses „emanzipatorische Erbe“ also das von Ihnen geforderte Korrektiv sein können?

Wenn man es mit Demokratie verbunden hätte, hätte sich zumindest nicht eine solche soziale Schere aufgetan, ein solches Anwachsen von Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite, wie es heute der Fall ist. Und vielleicht hätte damit auch die aktuelle Krise wenn nicht vermieden, so doch wenigstens abgemildert werden können. Insofern hätte ich mir gewünscht, dass man damals über eine gezähmte Wirtschaftsordnung nachgedacht und nicht diesem Marktfundamentalismus den ganzen Raum überlassen hätte.

Aber letztendlich ist doch die DDR gerade auch deshalb gescheitert, weil die Wirtschaft die sozialen Ansprüche und Leistungen nicht mehr abdecken konnte und entsprechend die Katastrophe zwangsläufig war?

Da wird auch viel übertrieben. Die Wirtschaft war natürlich schwer angeschlagen, aber gerade nach Berechnungen der Bundesbank war sie nicht pleite. Es gab leistungsfähige Bereiche. Der Bankrott kam aus dem Mangel an Demokratie. Hier wurde Gemeineigentum nicht mit Demokratie verbunden. Trotz dieses Grundmangels muss man anerkennen, dass es im Detail richtige, emanzipatorische Ansätze gab. Und gerade weil die so total vom Tisch gewischt wurden und man überhaupt nicht überprüft hat, was davon brauchbar gewesen wäre, konnte das westliche System aus seinem Sieg letzten Endes nicht allzu viel machen und wir sind gemeinsam in der Krise gelandet.

Gibt es dann überhaupt einen Sieger?

Tja, ich kippe das auch bewusst in meinem Buchtitel „Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen“. Zunächst schien es ja so, dass das westliche System der Sieger ist und das bis zum Ende der Geschichte. Nach nur 20 Jahren kann man schon den Eindruck gewinnen, wenn man westlichen Umfragen glauben darf, dass sich im Westen mehr Menschen als Verlierer betrachten als im Osten.

Entspricht das wirklich einem Verlierergefühl oder vielleicht nicht doch eher einem gewissen Trotz, weil die Wiedervereinigung im Westen Deutschlands mehr Anstrengungen und Opfer gekostet haben als ursprünglich angenommen?

Nein, ich glaube nicht, dass das nur Westtrotz ist. Viele Westdeutsche sagen, dass ihre eigene Gesellschaft seit der Einheit leider nicht dazu gewonnen, sondern an Attraktivität verloren hat. Das betrifft sowohl Sozial- und Kulturleistungen als auch Freiheitsrechte. Und auch die Nostalgie vieler DDR-Bürger ist nicht rückwärtsgewandt auf Ostdeutschland, sondern eine Sehnsucht nach einem Westen, den sie erhofft hatten, der dann aber nie eingetreten ist.

Also waren wir zu gutgläubig bei den großmundigen Versprechungen vor 20 Jahren?

Sie meinen die blühenden Landschaften?

Ja.

Das kommt sicher dazu. Aber im Laufe der Zeit hatte sich in der DDR ein sehr idealisiertes Westbild entwickelt. Auch weil viele den Westteil ja nicht persönlich, sondern nur eine Art Reklamewelt des Fernsehens kannten und bei Familienbesuchen eigentlich immer nur die Schokoladenseiten erwähnt wurden. Da folgte dann doch ein ernüchtertes Erwachen.

Sie führen zu Recht viele Fehler im Zuge der Wiedervereinigung an, wie beispielsweise den Ausverkauf durch die Treuhand. Aber solche Fehler gehören doch zu einem solchen Prozess. Es wäre doch äußerst naiv zu glauben, dass dabei alles glatt und gut abläuft?

Also, ich finde das Wort Fehler schon eine heftige Untertreibung. Denn das war eine ziemliche Katastrophe, was damals passiert ist. Nicht für eine profitierende Minderheit, sondern für die Mehrheit. Auf einen Schlag vier Millionen Arbeitslose, 71 Prozent der Industrieproduktion Ostdeutschlands sind zusammengebrochen. Das hat es nicht einmal nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Damals hat es zehn Jahre gedauert, bis wieder das Vorkriegsniveau erreicht war. Wir haben bis 2007 gebraucht, um im verarbeitenden Gewerbe auch nur das DDR-Niveau wieder zu haben. Gefällige Wirtschaftsinstitute kommen nur deshalb immer auf ansehnliche Wachstumsraten, weil sie nicht vom Stand 1989 rechnen, sondern von 1991, als alles am Boden lag. Selbst die Geburtenrate ist um die Hälfte eingebrochen. Das hat es nicht einmal nach dem Dreißigjährigen Krieg gegeben. Das war eine Interessen gesteuerte Misswirtschaft, bei der mancher sehr gut gefahren ist. Es gab durchaus alternative Konzepte, die aber nicht gewollt worden sind. Beteiligung der Belegschaften an den Betrieben, keine Schocktherapie und Radikalprivatisierung sondern behutsame Sanierung. Der Verfassungsentwurf und andere Beschlüsse des Runden Tisches haben das beschrieben. Und deshalb muss man immer wieder einmal daran erinnern, dass es auch anders gegangen wäre.

Das Gespräch führte Dirk Becker