Über die Trennung von Eigentum und Staat
In Europa soll die Kluft zwischen Arm und Reich derzeit ähnlich groß sein wie vor der
Französischen Revolution. Neun von zehn Deutschen wollen eine andere Wirtschaftsordnung – aber wissen sie, was sie wollen? Sicher, Gerechtigkeit, demokratische Kontrolle von Eigentum.
Dabei werden Begriffe wie Gemeineigentum, gesellschaftliches Eigentum oder
Staatseigentum oft gleichbedeutend benutzt. Das ist unscharf, ja verwirrend. Aber nicht leicht aufzuklären. Ich suche unter den 4200 Stichwörtern von Becks Wirtschaftslexikon den durchaus gebräuchlichen Ausdruck Staatseigentum. Gibt es nicht. Genauso wenig wie im Juristischen Lexikon. Wiki? Fehlanzeige. Im ganzen Internet gelingt es mir nicht, eine einzige brauchbare Definition dafür zu finden, was Staatseigentum im bürgerlichen Staat bedeutet. Bei einem Professor finde ich immerhin, dass Wald im Staatseigentum den Einkommenswünschen des Finanzministers ausgesetzt ist und es daher zu hohen Abholzraten kommt. Indiz für fragwürdige Verfügungsmacht in dieser Eigentumskonstruktion.
Anlässlich einer schweren Absatzkrise forderte die IG-Metall 1985 die »Vergesellschaftung der Stahlindustrie«. Eine reine Änderung der Eigentumsverhältnisse sei nicht ausreichend, vielmehr müsse die Verfügungsmacht über die Produktionsmittel verändert werden, um tatsächlich Vergesellschaftung zu erreichen. Diese müsste dann für gesellschaftliche Ziele genutzt werden, also für die Sicherung des Stahlstandortes und damit der Beschäftigung und des sozialen Status der Arbeiter.
Erstaunlich. Staatseigentum plus Verfügungsmacht gleich Vergesellschaftung? Als
ob man das Staatseigentum durch politische Auflagen in vergesellschaftetes Eigentum
überführen könnte. Das ist überraschend rechtsfern gedacht. Eigentum wechselt
durch Verkauf, durch Insolvenz, durch Enteignung … durch alles mögliche, nur
nicht durch politische Ziele. Sicher, Eigentum ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Die
Verfügungen kommen und gehen mit der politischen Wetterlage, der Eigentümer aber
bleibt. Die Art der Eingriffsrechte ändert nichts daran, wem etwas gehört. Wenn das existierende Staatseigentum plus die existierende gewerkschaftliche Verfügungsmacht auch nur ansatzweise etwas mit Vergesellschaftung zu tun hätte, wie könnte dann dieses Staatseigentum gegen den eindeutigen Mehrheitswillen der Gesellschaft permanent privatisiert werden? Da genügt ein Vorschlag des Wirtschaftsministers plus die Mehrheit der Regierungskoalition im Parlament – die sich im Besitz von Verfügungsmacht Glaubenden müssen nicht einmal benachrichtigt werden. Die erste Frage muss immer sein: Wem gehört es? Gemeineigentum gehört allen Staatsbürgern.
Die Verfügungsgewalt ist gesetzlich zu regeln. Das Privateigentum gehört einer natürlichen oder juristischen Person, die über die Verfügung selbst bestimmt. Das
Grundgesetz kennt nur diese beiden Formen. Die bundesdeutsche Praxis kennt nur
eine Form: Privateigentum. Eigentum ist laut BGB §903 immer ein Herrschaftsrecht
über eine Sache. Staatseigentum ist das Herrschaftsrecht der juristischen Person
Staat. Eigentum juristischer Personen ist Privateigentum, auch wenn es kollektiven
Verfügungsrechten unterliegt – in dem Fall wahrgenommen durch die Regierung.
Diese Verfügungsmöglichkeit macht das Staatseigentum zweifellos zu einem einmaligen, schwer durchschaubaren, Begehrlichkeiten weckenden Konstrukt, was aber nichts an seiner grundlegenden Rechtsform ändert: Staatseigentum ist Privateigentum des Staates. Kommunales Eigentum ist das Privateigentum der Kommune. Genossenschaftliches Eigentum ist das gemeinschaftlich genutzte Privateigentum der Genossenschaftler. Belegschaftseigentum ist das gemeinschaftlich genutzte Privateigentum der Belegschaft. Aktionärseigentum ist übrigens auch gemeinschaftlich genutztes Privateigentum von Anlegern in einem Unternehmen.
Können wir davon ausgehen, dass Staatseigentum in jedem Fall ans Allgemeinwohl
gebunden ist – Eigentum verpflichtet, Staatseigentum erst recht? Wie ist das mit den 25 Prozent staatlichen Anteilen an der Commerzbank? Sind die zweckgebunden an
das Gemeinwohl, oder ist das stinknormales unternehmerisches Privateigentum
einer umfassend rechtsfähigen juristischen Person? Mit den üblichen Geschäftsgeheimnissen des privaten Rechts? Unterliegen alle staatlichen Beteiligungen
und Unternehmen den gleichen Zwängen der Gewinnmaximierung, wie jedes privatwirtschaftliche Unternehmen? Hat man als Lohnabhängiger überhaupt irgendeinen Vorteil, wenn man in einem staatlichen Betrieb arbeitet? Zahlt der Staat für seine Gewinne Steuern? Zahlt er Boni? Wer kocht den Siegesschmaus? Wer bezahlt die Spesen? Wer prüft die Haushaltsbücher? Wer kontrolliert Gott? So viele Fragen, die als Fragen einer lesenden Arbeiterin unbeantwortet stehen bleiben dürften. Soweit ich sehe, haben sich auch linke Gewerkschafter, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker mit diesen offenbar für juristische Spitzfindigkeiten gehaltenen Zusammenhängen nicht weiter aufgehalten. Sie
wollen Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung, und zwar nicht auf dem Papier sondern im Alltag, nicht nach der nächsten Revolution, sondern heute. Das ist
nicht nur legitim, sondern bitter nötig. Als Pragmatiker haben sie die Erfahrung gemacht, dass die Verfügungsgewalt bei dem, was sie unter öffentlichem Eigentum
verstehen, günstiger ist als bei dem, was sie unter Privateigentum verstehen.
Das ist zweifellos richtig. Daraus ziehen sie aber den Schluss, das eine müsse das Gegenteil von dem anderen sein. Und wenn man die staatliche Seite durch politische Forderungen und soziale Bewegungen nur nachhaltig verbessere, dann werde man schon da ankommen, wo man hin will, nämlich bei der Vergesellschaftung. Das ist zweifellos falsch.
Überführung in Staatseigentum hat nichts mit Enteignung zugunsten der Gemeinschaft zu tun, sondern ist rechtlich gesehen die Umwandlung von einer Form privaten Eigentums in eine andere. Eigentlich wechselt nur der Verwalter. Was maroden Banken, wie der Hypo Real Estate, mitunter sehr recht ist, denn mit dem Verwalter von Staatseigentum lassen sich Verluste noch besser sozialisieren. Wenn die Bank sich auf Kosten der Bürger erholt hat, gibt der Staat sie den privaten Anlegern dann gern zurück. Dafür gibt es sogar einen Begriff: Notverstaatlichung. 2008 musste der weltgrößte Autohersteller General Motors mit 100 Milliarden Dollar Schulden Insolvenz anmelden.
Der Konzern wurde mehrheitlich verstaatlicht, mit der Folge, dass der Steuerzahler die Schulden ausglich, auch für das Tochterunternehmen Opel, und weltweit 47 000 Stellen gestrichen wurden. Nach nur sechzehn Monaten derartiger Rekonstruktion gab der Staat dieses Eigentum nicht etwa der Kommune oder der verbliebenen Belegschaft, sondern Privatanlegern zurück. Der Wiedereinstieg an der Börse war hochprofitabel. Das Gegenteil von Privateigentum ist nicht Staatseigentum sondern Gemeineigentum. Ein im Grundgesetz als Option angebotener Begriff, den keine Partei aufgreift. Im Godesberger und Berliner Programm der SPD taucht er noch in verunklarender Weise auf. Im aktuellen Programm nicht mehr. Eben so wenig wie im Grundsatzprogramm der Grünen. Dass auch die LINKE glaubt, in ihrem Programm die heiße Kartoffel Gemeineigentum zugunsten nebliger Umschreibungen fallen lassen zu können, ist ein besonderes Zeugnis von gedanklicher Drückebergerei.
Hat diese Unschärfe praktische Konsequenzen? Ich fürchte ja. Wenn eine Bewegung den juristischen Geheim-Code auf dem sie operiert nicht gedanklich knackt, werden ihre politischen Forderungen nicht zielgenau genug sein. Staats- oder Kommunaleigentum ist durch die auf wenige Leute beschränkte Verfügungsmacht besonders anfällig für die Vereinnahmung durch private Interessen, also für Korruption. Deshalb ist darüber nachzudenken, ob dieses Eigentum überhaupt dafür geeignet ist, die Bürger über die Art der Nutzung bestimmen zu lassen und über das von ihnen geschaffene Vermögen zu verfügen.
Auf politisch links Engagierte dürfte die Eröffnung, das erstrebte Staatseigentum sei in seiner Rechtsform auch nur das verachtete Privateigentum, verstörend wirken. Deshalb sei zu Besänftigung der alte Engels zu Hilfe geholt: Alle Funktionen des Kapitalisten werden nach der Verstaatlichung von »besoldeten Angestellten versehen«, meinte er. Je mehr Produktivkräfte der Staat in sein Eigentum nimmt, »desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus«.
Staatseigentum sei nicht die Lösung des Konflikts, so Engels, aber es berge in sich »die Handhabe der Lösung«. Wenn nämlich die Gesellschaft Besitz ergreift von den Produktivkräften. Besitz ergreifen – nicht Mitbestimmung erbitten. Vergesellschaftung bedeutete für ihn, dass »nicht die Bürokratenklasse entscheidet, sondern die Produzenten«.
Damit befindet sich Engels übrigens vollkommen in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, dass sich in Artikel 15 Vergesellschaftung auch nur auf der Basis von Gemeineigentum und Gemeinwirtschaft vorstellen kann. Erst wenn das Königsrecht bei allen Bürgern angekommen ist, sind wir ökonomisch souverän. Der Wohlfahrtsstaat wird nur kommen, wenn wir unser Wohl nicht fahren lassen.
Gemeineigentum lässt sich verfassungsmäßig vor Privatisierung schützen, das der privaten Verfügung wechselnder Politiker unterliegende Staatseigentum nicht. Vergesellschaftung bedeutet die von den Bürgern genutzte Möglichkeit, über ihr Gemeineigentum zu verfügen. Staatseigentum verhindert Vergesellschaftung. So wie sich einst die Trennung von Kirche und Staat als Emanzipation erwies, muss heute die Trennung von Eigentum und Staat vorbereitet werden.