Mehrholer Value
Arbeitsmarkt und Wachstum – ein vorläufiges Schlusswort zur Debatte: Geht die Marktwirtschaft wirklich unter, wenn sie nicht fortwährend akkumulieren kann?
Widerspruch in der Sache ist immer wünschenswert, deshalb danke ich Albrecht Müller für das Auslösen dieser Debatte. Zumal wir uns ja einig sind gegen den Marktradikalismus, nur uneinig über die Methoden seiner Überwindung.
Da die Massenarbeitslosigkeit unter der nie da gewesenen Kombination von enormer Produktivitätssteigerung, globalem Lohndumping, geschwächten Gewerkschaften und fehlender Systemkonkurrenz eine nie da gewesene Dimension angenommen hat, neige ich dazu, auch nie da gewesene Lösungen zu bevorzugen: eine radikale Umverteilung von Arbeit und Einkommen, die dazu führen würde, dass niemand überflüssig und jeder flüssig ist. Albrecht Müller vertraut den Stimulanzen aus den siebziger Jahren: Nachfrage, Konjunktur, Wachstum.
Er bezweifelt, dass es für die von mir vorgeschlagene radikale Arbeitszeitverkürzung, für internationale Steuerharmonisierung und Bürgergehalt Mehrheiten gäbe, obwohl er einräumen muss, dass auch sein Rezept seit 25 Jahren nicht beachtet wird. Das Wachstum habe nur deshalb die Arbeitslosigkeit nicht abgebaut, weil »keine die Nachfrage optimal steuernde Politik betrieben worden sei«. Da die Wirtschaft nicht auf uns hört, können wir auch nicht beweisen, dass wir Recht haben – in der misslichen Lage befinden wir uns wieder gemeinsam.
Albrecht Müller klammert sich als Beweis an die »kleine Ausnahme« zur Wendezeit, als (durch die weitgehende Liquidierung der ostdeutschen Industrie) im Westen vorübergehend ein Boom ausgelöst wurde und die Arbeitslosigkeit um ein Drittel gesenkt werden konnte. Merkwürdigerweise lässt er unerwähnt, dass im gleichen Zeitraum im Beitrittsgebiet zwei Millionen Arbeitsplätze wegbrachen, also die Arbeitslosigkeit von Null auf 30 Prozent stieg. Insofern beweist dieses Beispiel bestenfalls, dass die Eroberung von Märkten Arbeit und Wohlstand schafft – ein eher verhängnisvoller Zusammenhang, von dem Marx bekanntlich behauptet, er belege die dem Kapitalismus unabwendbar innewohnende Aggressivität.
Gänzlich uneinsichtig werde ich, wenn mir, mit starrem Blick auf die Statistik, die Mutterländer des Neokolonialismus, USA und Großbritannien, als Vorbilder für Reformen auf dem Arbeits-markt hingestellt werden. Wäre hier nicht zumindest auch zu fragen, welchen Anteil am Wachstum die gewaltsame Eroberung und feindliche Übernahme von Märkten hatte? Und in welcher Art Sozialstaat da gearbeitet wird?
Die in der Debatte gestellte Forderung, »herauszufinden, weshalb unsere derzeitige Wirtschaftsordnung so sehr von irgendeinem Wachstum abhängig ist«, scheint auch mir zentral. Geht die Marktwirtschaft wirklich unter, wenn sie nicht fortwährend akkumulieren kann? Zumal eben die Korrelation von Wachstum und Arbeit nicht nachweisbar ist. Seit 35 Jahren steigt die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik – bis auf die erwähnte »kleine Ausnahme« – stufenförmig an. Wachsende Effektivität zerstört Arbeitsplätze. Umgekehrt wies das Kölner Institut für deutsche Wirtschaft unlängst darauf hin, dass im Ausland häufig »Jobs« entstünden, obwohl die Wirtschaft schrumpfe. In Holland spricht man von Jobsharing, wenn man den Begriff radikale Arbeitszeitverkürzung vermeiden will.
Wenn es nicht gelingt, Mehrheiten für neue Lösungen zu finden, ist den Arbeitslosen in absehbarer Zeit überhaupt nicht zu helfen. So, wie ihnen bisher nicht zu helfen war
Von der Nützlichkeit des von Albrecht Müller zurecht geforderten, qualitativen Wachstums bei ökologischen und sozialen Vorhaben braucht man wohl weder mich noch den angesprochenen Hermann Scheer zu überzeugen. Doch dieser zusätzliche Tätigkeitsbedarf gleicht doch bestenfalls den durch Produktivitätssteigerung und Abwanderung bedingten Arbeitsausfall aus. Wir haben uns anzustrengen, unsere hohe Wirtschaftsleistung zu halten und nicht ins Minus zu rutschen. Da wir 20 mal mehr verbrauchen, als die meisten Menschen der Welt, ist ein weiterer Anstieg, auch darauf wurde zurecht verwiesen, nicht nur unnötig, sondern auch unsolidarisch.
Wenn dem so sei, fragt Albrecht Müller zu Recht, wie wäre denn dann den Arbeitslosen in absehbarer Zeit zu helfen? Darauf gibt es eine nüchterne Antwort: Wenn es nicht gelingt, Mehrheiten für neue Lösungen zu finden, ist den Arbeitslosen in absehbarer Zeit überhaupt nicht zu helfen. So, wie ihnen schon bisher nicht zu helfen war. Das wiederum kann nicht hingenommen werden, es wirft enorme menschliche, gesellschaftliche, auch verfassungsrechtliche Probleme auf. Nicht umsonst heißt es im Grundgesetz, die Bundesrepublik sei (und zwar auf ewig) ein sozialer Staat. Und nicht ein soziales Unternehmen. Für die Erhaltung des Sozialstaates ist zu hundert Prozent die Politik zuständig und zu null Prozent die sich an die Gesetze haltende Wirtschaft. Sehr überzeugend hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, darauf verwiesen, dass ein Unternehmer nur die Pflichten erfüllen muss, die ihm das Gesetz auferlegt hat. Wenn er also sein Grundrecht wahrnimmt, alles zu tun, was nicht verboten ist, könne dies nicht unter Moralvorbehalt gestellt werden. Wenn die Gesellschaft Auswüchse erkenne, müsse der Souverän, zu dem auch die Gewerkschaften gehören, einen Riegel vorschieben.
Freiwillig wird sich ein Unternehmer auf soziale Erwägungen nur einlassen, wenn er darin langfristig eine Chance zur Gewinnsteigerung sieht, was im Einzelfall durchaus möglich ist. Darüber hinaus ist das ganze Gerede von Corporate Social Responsibility der Manager oder von Bündnissen für Arbeit nicht nur illusionär, sondern im Grunde sogar ein unsittliches Ansinnen der Politiker, die ihren sozialstaatlichen Verfassungsauftrag an die Unternehmer weiter delegieren, die sie unter moralischem Druck davon abhalten wollen, von ihren von eben diesen Politikern eingeräumten Rechten vollen Gebrauch zu machen. Moral, so sie greifen soll, gehört nicht in Appelle, sondern in Gesetze. Eigentum verpflichtet, die Gesetze einzuhalten.
Die vielgescholtenen Hedge-Fonds, deren Selbstvermehrungsanspruch oft über 40 Prozent Rendite liegt, die produktives Kapital durch Spekulation vernichten und so ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen, sind in Deutsch-land unter Rot-Grün, sekundiert von Schwarz-Gelb, zugelassen worden. Der Arbeitsplätze vernichtende Shareholder Value, den ich mit Mehrholer Value übersetze, wäre durch ein modifiziertes Börsengesetz zu beschränken. Spätestens hier wird aber auch klar: Der Sozialstaat ist letztlich nur in einer Sozialwelt zu retten. Die wiederum ist durch ein Vorgehen zu beschleunigen, bei dem Albrecht Müller, was die Reform-Lügen betrifft, recht erfolgreich ist: durch ökonomische Alphabetisierung der Massen.