Mein erster Angriffskrieg – Der Westen hat seine Unschuld verloren

aus dem Buch „Wehe dem Sieger“, Kapitel 5 – Rowohlt 2009

Kriege, was auch immer ihr Ziel sein mag,

schaden der ganzen Menschheit; sie schaden auch

den Völkern, die Sieger bleiben.

Henri de Saint-Simon

Wenn ich mir bewusst mache, was mein Grundvertrauen in das System der Bundesrepublik Deutschland erschüttert hat, dann war es nicht das koloniale Gebaren gegenüber den Ostdeutschen – das wäre unter uns gesagt im umgekehrten Fall wohl nicht besser gewesen. Es war auch nicht der Umstand, dass der Kapitalismus von Tag zu Tag kapitalistischer wurde. Sprachlogisch ist diese Steigerung gar nicht erlaubt, systemlogisch allemal. Nach Marx’scher Analyse hätte nichts anderes passieren dürfen.  

Worauf ich nicht vorbereitet war und woran ich mich auch niemals gewöhnen werde, ist, in einem Land zu leben, das Angriffskriege führt. Das mich zwingt, mit anzusehen, wie es sich daran beteiligt, aus sicherer Höhe Menschen mit Bomben zu überziehen. Was meine Erwartung an einen Rechtsstaat nachhaltig erschüttert hat, war die Sicherheit im Fehlgehen, mit der sich die politische Klasse nach propagandistischem Furor in den völkerrechtswidrigen und auch im Ergebnis unheilvollen Krieg gegen Serbien gestürzt hat, ohne diesen Irrtum jemals einzuräumen. Bei all den 2009 anstehenden Jubiläen werden die zehn Jahre nach dem Ende dieses Krieges wohl eher übergangen werden. Ein Grund mehr, daran zu erinnern und eine Bilanz zu ziehen.

Die Ablehnung der harmlos «Luftoperationen» genannten Bombardements war in Ostdeutschland deutlich stärker ausgeprägt. Das mag damit zusammenhängen, dass man für das jugoslawische Experiment aus der DDR-Perspektive einen Schuss Bewunderung übrighatte. Auch wenn durch meine frühe Lektüre von Milovan Djilas «Die neue Klasse» ohne Illusionen, so zeigte mir die spätere Praxis doch wohltuend abweichende Praktiken vom sowjetischen Modell: Gemeineigentum der großen Industrien und Experimente mit Arbeiterselbstverwaltung bei gleichzeitiger Grenz- und Marktöffnung zum Westen. Das und die Duldung von privatem Gewerbe brachte ein besseres Warenangebot, die herrliche Landschaft wurde für florierenden Tourismus genutzt. Reisefreiheit für die eigenen Bürger und mehr Spielräume für oppositionelle Nischen waren zumindest für realsozialistische Gepflogenheiten bemerkenswert. Eine Art Dritter Weg, der schneller zerbombt war als analysiert. Vielleicht war das der eigentliche Zweck dieses Krieges.

Gegen Ende der 80er Jahre einmal zu einem Literaturfestival eingeladen, staunte ich nicht schlecht, dass Busfahrer Zeitungsbilder von Tito, meist in völlig verschossenen Farben, hinter ihre Spiegel geklemmt hatten. Von so viel freiwilliger Verehrung hätten Honecker und die anderen nur träumen können. Niemals wäre mir in diesen Tagen die Idee gekommen, meine Gesprächspartner zu fragen, ob sie wohl Serbe, Kroate oder Bosnier seien. Vielleicht hätten sie selbst es nicht einmal immer gewusst, denn Eltern und Großeltern waren oft alles durcheinander. Insofern war das Gerede von Ethnien, das dann anhub, auch kaum nachvollziehbar, die Unterschiede sind religiöser Art. Sind die Vorfahren aufgewachsen im von den Römern eingenommenen, katholischen Küstenstreifen, sind sie unter türkischer Herrschaft zum muslimischen Glauben bekehrte Orthodoxe gewesen, oder sind sie dem orthodoxen Glauben der griechischen Mönchsbrüder Kyrill und Methodius treu geblieben?

Wenn etwas die unbeschwerten Gespräche beeinträchtigte, dann waren es als schroffe Riffe aufragende Nebensätze. Wenn man ein Ohr dafür hatte, war es nicht sonderlich behaglich, als Deutsche im Land der einstigen Partisanen zu sein. Ohne dass jemand einen Vorwurf erhob, stieß man auf Spuren. Im April 1941 hatte die deutsche Luftwaffe die Nationalbibliothek in Belgrad in Schutt und Asche gelegt. Und mit ihr große Teile der Stadt. Zum Terror der vierjährigen Wehrmachtsokkupation gehörte die Erschießung von 7300 Bewohnern aus Kragujevac am 21. 10. 1941. Das war die Vergeltung für einen Partisanenangriff, bei dem zehn Wehrmachtsoldaten umkamen. Unter den Opfern dieses Massakers auch dreihundert Schüler des örtlichen Gymnasiums. Ihre achtzehn Lehrer hätten der Hinrichtung entgehen können, entschlossen sich aber, das Schicksal ihrer Schüler zu teilen. Durch dieses eingebrannte Leid ist die Stadt zu einem der aktivsten Vorkämpfer für friedliches Zusammenleben geworden. 1986 wurde Kragujevac dafür von der UNO ausgezeichnet, zwei Jahre später erhielt es die Friedensmedaille der Stadt Verdun.

Bei einem NATO-Bombardement sind 1999 in dem weitläufigen Gedenkpark mit seinen 33 Gräberfeldern die 33 Glaskuppeln des Museumsdaches zerborsten, und eine Skulptur ist beschädigt worden, die den Titel trägt: «Der Faschismus ist überwunden».

In den Jugoslawien-Krieg hineingelogen

Die abermalige schuldhafte Verstrickung Deutschlands war von Anfang an augenfällig. Egon Bahr erzählte mir, Anfang der 90er Jahre habe ihn Cyrus Vance, der einstige Außenminister unter Jimmy Carter, der zu dieser Zeit in EU-Missionen auf dem Balkan war, inständig und dringend gebeten: «Tun Sie alles Ihnen Mögliche, damit es in Deutschland nicht zu einer vorfristigen, separaten Anerkennung von Slowenien und Kroatien kommt. Das einzige Ergebnis werden ethnische Säuberungen und Krieg sein.» Bekanntlich fruchteten weder Bemühungen noch Mahnungen, und das von Vance Prophezeite traf ein. Unmittelbar nach seiner Anerkennung der abtrünnigen Teilrepubliken trat Außenminister Genscher ohne Erklärung zurück. Vielleicht ist ihm die Tragweite seines Handelns bewusst geworden, oder auch nur die Peinlichkeit, dass Kroatien zuvor nur ein einziges Mal ein separater Staat gewesen ist, zwischen 1941 und 1945, unter der Ustascha-Armee, die eine Marionette der Nationalsozialisten war.

Das zusammengebrochene Gleichgewicht des Schreckens entfesselte prompt den Schrecken. Der NATO war mit dem Untergang des kommunistischen Gegners ihre Daseinsberechtigung abhandengekommen. Da bot das Konstrukt der «humanitären Intervention» in Gegenden, die man zuvor durch Waffenlieferungen wie auch durch geheimdienstliche und finanzielle Unterstützung von Oppositionsgruppen kräftig aufgemischt hatte, neue Aufgaben. Wer weiß – vielleicht wäre es ohne die vom Westen beförderten Separationen und Feindschaft schürenden Aktivitäten nie zum Bürgerkrieg gekommen. Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten empfahl sich nur, solange es einen hochgerüsteten Systemkonkurrenten gab. Sobald dieser aber verschwunden war, lag das sich widersetzende Objekt ungeschützt und zugriffsbereit da. Der Zwang, aus Rücksicht auf die andere Supermacht sein Pulver trocken zu halten, war entfallen – eine wenig reflektierte Konsequenz aus der Kapitulation der Sowjetunion. Was jetzt gebraucht wurde, war eine Krise, die militärisches Eingreifen plausibel machte.

Doch der Bosnien-Krieg, in dem UN-Blauhelme hilflos das Massaker von Srebrenica mit seinen vermutlich bis zu 8000 Toten geschehen ließen, lag vier Jahre zurück. Seit dem Friedensabkommen vom Dezember 1995 in Dayton, das die drei Präsidenten Izetbegović, Milošević und Tudman unterzeichnet hatten, deutete im Kosovo des Jahres 1999 trotz einzelner Feuergefechte nichts darauf hin, dass sich ähnlich Dramatisches wiederholen könnte.

Die angeführten Gründe, die einen Bombenkrieg rechtfertigen sollten, waren genauso erlogen wie später die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak. «Nur einen legitimen Grund gibt es für die Bomben auf Jugoslawien: die Verhinderung eines Völkermordes», schrieb die FAZ seinerzeit. «Ich habe als einer der Ersten von der drohenden Gefahr des Völkermordes gesprochen», brüstete sich Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Spiegel.1

Dass diese Gräuelgeschichte Propaganda war, bewies die noch während des Krieges veröffentlichte Anklageschrift des Haager Tribunals, die der Regierung unter Slobodan Miloševic´ zum Ärger so mancher Politiker keinen Völkermord im Kosovo zur Last legte. «Als Chefanklägerin Carla del Ponte von Le Monde gefragt wurde, warum dieser Anklagepunkt fehle, musste sie zugeben: ‹Weil es keine Beweise dafür gibt.›»2 Damit war die Legitimation des Angriffs schon Wochen vor Ende des Bombardements entfallen.

Das war nicht überraschend, alle internen Berichte hatten darauf hingewiesen, dass nichts anderes als ein grausamer, mit einseitigen Schuldzuweisungen nicht zu beschreibender Bürgerkrieg im Gange war. Ein Bericht des Auswärtigen Amtes vom November 19983 gibt für sein Entstehen folgende Erklärung: Seit Ende 1995 wurden insgesamt 200 000 serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien (die der NATO nie ein Grund zur Sorge waren) auf Jugoslawien verteilt, zehntausend auch im Kosovo, weniger als anderswo. Dies werteten die Kosovo-Albaner in ihren Medien als erneuten Versuch der Kolonialisierung. (Seit Entstehung der kosovarischen UÇK 1996 wurde diese Kampfgruppe eng vom BND betreut, der eine seiner größten Regionalvertretungen in Tirana einrichtete. Das ARD-Magazin Monitor sendete am 9.6.1998 ein Interview mit einem MAD-Mitarbeiter, der die Lieferung von Waffen im Wert von zwei Millionen Mark an die Albaner als «von ganz oben» erwünscht bezeichnete. Trotz des UN-Waffenembargos rüsteten auch die USA die albanische UC¸K mit illegal nächtlich eingeflogenen Waffen auf.) Seit April 1998 häuften sich Anschläge der UC¸K auf Polizeistationen. Da mancherorts die Polizei floh und auch Verwaltungsämter und Post ihre Arbeit einstellten, konnten die Freischärler die dortige serbische Zivilbevölkerung angreifen und «befreite Gebiete» ausrufen. Erst da begannnen die jugoslawische Armee und paramilitärische Einheiten mit exzessiver Gewalt zurückzuschlagen. «Politisch aktive albanische Volkszugehörige werden nicht wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, sondern als ‹Separatisten› verfolgt», so der Bericht des Auswärtigen Amtes.

Das bestätigten auch die OSZE-Beobachter vor Ort.4 Ende 1998 habe es keine größeren Kämpfe zwischen den Parteien mehr gegeben, sondern einzelne Überfälle und Feuergefechte, für die man sich gegenseitig verantwortlich machte. Es gäbe keine Flüchtlinge mehr im Freien, die Rückkehr sei gestiegen, wenn auch regional unterschiedlich. Noch zwei Tage vor Kriegsbeginn hieß es im Lagebericht der Bundeswehr: «Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen.»

Eindeutig auch die im Kosovo eingesetzte US-Diplomatin Norma Brown: «Bis zum Beginn der NATO-Luftangriffe gab es keine humanitäre Krise. Sicher, es gab humanitäre Probleme, und es gab viele Vertriebene durch den Bürgerkrieg. Aber das spielte sich so ab: Die Leute verließen ihre Dörfer, wenn die Serben eine Aktion gegen die UC¸K durchführten – und kamen danach wieder zurück. Tatsache ist: Jeder wusste, dass es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, wenn die NATO bombardiert.»5

Es kam so, weiß das heute jeder? Es liegt mir fern, den Anteil der Serben an dem Konflikt zu verharmlosen. Offensichtlich haben sie ihren Antiguerillakampf gegen die UC¸K brutal auf dem Rücken der albanischen Bevölkerung im Kosovo geführt. Verfehlungen hat selbst Miloševic´, während des Krieges, am 30. 4. 1999 in einem UPI gegebenen Interview eingeräumt: «Wir sind keine Engel. Aber wir sind auch nicht die Teufel, die zu sein ihr uns auserkoren habt. Unsere regulären Streitkräfte sind überaus diszipliniert. Anders verhält es sich mit den irregulären paramilitärischen Einheiten. Es sind schlimme Dinge passiert. Wir haben solche irregulären, selbsternannten Führer verhaftet. Einige von ihnen sind bereits angeklagt und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden.» Sicherlich ist es längst nicht immer so rechtsstaatlich zugegangen. Miloševic´ wollte die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo um jeden Preis vermeiden. Deshalb ließ er vermutlich die anarchischen Paramilitärs, dieses Pendant zur UC¸K, auch Rache an der Zivilbevölkerung nehmen.

Es ist bitter genug, auch zehn Jahre nach dem Krieg noch auf Vermutungen angewiesen zu sein. Wann immer ich glaubte, mir anhand der Geschehnisse im Kosovo endlich ein wahrhaftiges Diktator-Bild von Miloševic´ machen zu können, erwiesen sich die Fakten später als unbewiesen oder gefälscht. Angefangen bei Miloševic´s Rede im Juni 1989 auf dem Amselfeld, die als Beleg seines Nationalismus galt und aus der vor Kriegsbeginn abschreckende Zitate in deutschen Zeitungen kursierten.  Daraus bastelte Rudolf Scharping in seinem umgehend erschienenen Buch „Wir dürfen nicht wegsehen“ die Unterstellung: „An diesem Tag sprach Milošević von ´Großserbien´ und davon, dass dieses Land ein ethnisch reines sein solle.“ Die FAZ behauptete am 28.6. 99, Milošević habe mit dieser „von Chauvinismus durchwirkten Rede eine für den Balkan verhängnisvolle Entwicklung in Gang gesetzt“. Nach dem Krieg hat der Ermittler Greg Ehrlich eine US-Regierungsniederschrift dieser Rede veröffentlicht, die all jene Zitate als frei erfunden auswies. Weder kam „Großserbien“ vor, noch Chauvinismus, im Gegenteil. Plötzlich klang sie recht vernünftig. Einige von der FAZ unterschlagene Passagen: „Es gibt keinen geeigneteren Ort als das Amselfeld um zu sagen, dass die Einigkeit Serbiens den Serben und jedem Bürger Serbiens Wohlstand bringen wird, unabhängig von seiner nationalen und religiösen Zugehörigkeit. … In diesem Sinne ändert sich die nationale Zusammensetzung fast aller und besonders der entwickelten Länder der gegenwärtigen Welt. Immer mehr und immer erfolgreicher leben Bürger verschiedener Nationalitäten, unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Rassen in einem gemeinsamen Land zusammen. … Die Krise, die Jugoslawien getroffen hat, hat sowohl nationale als auch soziale, kulturelle und religiöse Zwietracht hervorgebracht. Dabei ist der Nationalismus das schlimmste Problem. Ihn zu überwinden ist die Voraussetzung dafür, die anderen Missstände zu beseitigen und die Konsequenzen zu mildern, die der Nationalismus hervorgebracht hat. … Gleichberechtigte und harmonische Beziehungen unter den jugoslawischen Völkern sind die unabdingbare Voraussetzung für das Überleben Jugoslawiens, die einzige Möglichkeit, aus der gegenwärtigen Krise einen Ausweg zu finden.“   

Kaum glaubte ich verstanden zu haben, dass die NATO wegen des serbischen Massakers an 44 albanischen Zivilisten in Racak eingreifen musste, legten die Untersuchungen der finnischen Pathologin Helen Ranta nahe, dass es sich um eine arrangierte Szene handelte. Als deren Urheber brandmarkte Miloševic´s Pflichtverteidiger später die CIA. Überhaupt Den Haag … Die Hauptbelastungszeugen sind umgekippt oder haben sich erhängt. 40 Stunden vor Ende der vierjährigen Beweisaufnahme ist Miloševic´ (vermutlich wegen der Einnahme falscher Tabletten) gestorben. Der britische Chefankläger Geoffrey Nice schien erleichtert: «Das Ende der Verhandlungen wäre eine Katastrophe geworden. Ein Urteil, das keinen Bestand gehabt hätte.»6 Auf einen Abschlussbericht des Gerichts wartet man vergeblich.

Was sicher keinen Bestand hat, das sind die angeblich einzig legitimen Gründe für das Bombardement – zumindest wird Völkermord und Krise des Humanitären heute als Vorwand nicht mehr bemüht. «Die NATO führte im Kosovo Krieg, um die Vertreibung der Albaner zu verhindern», behauptete mit ihrem netten Augenaufschlag Caren Miosga noch am 17. 2. 2008 in den ARD-Tagesthemen. Bomben gegen eine nicht näher belegte Vertreibung? Wo leben wir denn?

So hätte man den am 24. März 1999 begonnenen Krieg nicht rechtfertigen können. Doch für eine Gleichschaltung der öffentlichen Meinung war gesorgt. Die Buchautoren Mira Beham und Jörg Becker7 haben 31 PR-Agenturen erfasst, die für alle nichtserbischen Kriegsparteien tätig waren. Allein Kroatien gab mehr als fünf Millionen Dollar an US-Agenturen, um die öffentliche Meinung in seinem Sinn zu beeinflussen. Propaganda-Ziele dieser Agenturen waren u. a.: Darstellung der Serben als Unterdrücker und Aggressor, wobei sie mit den Nazis gleichzusetzen und entsprechend emotional geladene Begriffe zu etablieren sind; Darstellung der Kroaten und Bosnier als unschuldige Opfer, wobei die Eroberung der serbischen Krajina als legal hinzustellen ist; Völkermordanklage gegen Jugoslawien und Miloševic´ in Den Haag; günstige Verhandlungsergebnisse für die albanische Seite in Rambouillet und Sezession Montenegros.

Besonders hervorgetan hat sich die PR-Agentur Ruder Finn aus Washington, D. C. Ihr Direktor James Harff prahlte im französischen Fernsehen, wie professionell sie einen Artikel aus dem New York Newsday über serbische Lager aufgegriffen hätten: «Es gehört nicht zu unserer Arbeit, den Wahrheitsgehalt von Informationen zu prüfen. Unsere Aufgabe ist es, uns dienliche Informationen schneller zu verbreiten. Wir überlisteten drei große jüdische Organisationen und schlugen vor, dass diese eine Annonce in der New York Times veröffentlichen und eine Demonstration vor der UNO organisieren. Das war ein großartiger Coup. Als die jüdischen Organisationen in das Spiel auf Seiten der muslimischen Bosnier eingriffen, konnten wir sofort in der öffentlichen Meinung die Serben mit den Nazis gleichsetzen. Niemand verstand, was in Jugoslawien los war. Mit einem einzigen Schlag konnten wir die einfache Story von den guten und den bösen Jungs präsentieren, die sich ganz von allein weiterspielte. Niemand konnte sich mehr dagegen wenden, ohne des Revisionismus angeklagt zu werden. Wir hatten hundert Prozent Erfolg.»8

Auch in Deutschland. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Verantwortlichen hätten sich die Totschlagworte brüderlich untereinander aufgeteilt. Dem expazifistischen Außenminister Fischer war die Lehre «Nie wieder Krieg» plötzlich nicht mehr so dringlich wie «Nie wieder Auschwitz». Kanzler Schröder wollte nicht in die Situation der Generation seiner Eltern kommen, deren Kinder sie gefragt haben, warum sie in der NS-Zeit nichts getan hätten – jetzt, wo er von «systematisch geplanten Deportationen» höre.9 Zum Beweis zauberte sein Verteidigungsminister Scharping einen ohne erkennbare Herkunft gekritzelten Hufeisenplan aus der Tasche und log das Blaue vom Bombenhimmel. Untermalt von gefälschten Fotos des Fußballstadions in Priština, die die Agentur Ruder Finn verbreitete, brachte er die Mär von Konzentrationslagern auf. Er behauptete, von den Serben «werden Selektionen vorgenommen, und ich sage bewusst Selektionen», und er schreckte nicht davor zurück, die «Ermordung der geistigen Elite» zu beklagen. Die als ermordet gemeldeten Albaner tauchten wieder auf. Schließlich wurden die Toten von Racak in die Propagandaschlacht geschickt. Erst nach dem Tod von Miloševic´ wurde auch dieser Anklagepunkt im Haager Tribunal fallengelassen. Wer schon während des Krieges der kolossalen Schwarz-Weiß-Malerei misstraute, setzte sich dem Vorwurf aus, den Feind zu verharmlosen: den «brutalen Schlächter», den «serbischen Irren», den dortigen Hitler, der «für unsere Gedankenwelt ein unzugängliches Gehirn» hat, wie die Springer-Presse wusste.

Gab es keinen Widerspruch? An der Abstimmung über das Mandat des Bundestages für den Bundeswehreinsatz hatte sich der damalige Justizminister Schmidt-Jorzig (FDP) couragierterweise nicht beteiligt. Seinen Protest gegen die «völkerrechtswidrige Kabinettsvorlage» gab er zu den Akten. Eine lobende Erwähnung für ihre ablehnende Haltung verdienen neben der gesamten PDS-Fraktion auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP, Peter Gauweiler von der CSU, Oskar Lafontaine und Hermann Scheer von der SPD, und von der CDU Willy Wimmer, der von einem «ordinären Angriffskrieg» sprach.

In einer Erklärung des Willy-Brandt-Kreises verurteilten wir am 16. April 1999 die wahren Gründe: «Die Luftschläge wurden mit dem Ziel begonnen, Jugoslawien zur Zustimmung eines von der NATO garantierten Autonomiestatus für die Kosovo-Albaner zu zwingen. … Ein Luftkrieg ist grundsätzlich kein geeignetes Mittel, um eine ‹humanitäre Katastrophe› zu vermeiden», flehten wir geradezu: «Jede Maßnahme ist dann nicht mehr verhältnismäßig, wenn ihre direkten und indirekten Folgen und Nebenwirkungen, insgesamt betrachtet, mehr zerstören als schützen. Der Krieg der NATO ist rechtlich, militärisch und planerisch dilettantisch vorbereitet und durchgeführt – zu Lasten der Opfer, die es zu retten gilt.»

Obwohl die Erklärung unter anderem von so namhaften Leuten wie Egon Bahr, Günter Gaus, Dieter S. Lutz, Oskar Negt und Klaus Staeck unterzeichnet war, nahm sie uns keine größere Zeitung ab. Einzig die geschätzte, aber doch eher die Gemeinde der Gleichgesinnten erreichende Wochenzeitung Freitag druckte sie. Auch wenn die Presse zunehmend kritische Fragen stellte, zugespitzte Antworten von Intellektuellen störten. Thomas Mann: «Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.»

Zu diesen Aufgaben hätte zumindest ein für beide Konfliktparteien akzeptables Friedensangebot gehört. Es war eben keine «unbestreitbare Tatsache, dass die Belgrader Führung, und nur sie, die diplomatischen Bemühungen hat scheitern lassen», wie Kanzler Schröder log, als er den Abbruch der Friedensgespräche im März 1999 in dem Pariser Vorort Rambouillet kommentierte. Dem politischen Teil des Abkommens hatte Miloševic´ nämlich im Gegensatz zu den Kosovaren zugestimmt. Doch die NATO-Staaten haben gewusst, weshalb sie den erpresserischen militärischen Teil des Abkommens geheim gehalten haben. Erst nachdem Bomben drei Wochen lang vollendete Tatsachen geschaffen hatten, sickerte durchs Internet, welch unverhandelbares Diktat den Serben da zugemutet worden war: totaler NATO-Besatzungsstatus für ganz Jugoslawien, was «das Recht auf Errichtung von Lagern» einschließen sollte und für die NATO Immunität vor jugoslawischen Gerichten für alle zivil- oder strafrechtlichen Vergehen, die ihre Angehörigen «möglicherweise in der Bundesrepublik Jugoslawien begehen».

«Es war unvorstellbar für uns», sagte Miloševic´ in jenem UPI-Interview, «dass unsere Ablehnung des Teils des Abkommens, über den mit uns nicht einmal verhandelt worden war, als Ausrede benutzt würde, um uns zu bombardieren.» Rudolf Augstein kommentierte: «Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.» Für ihn war das Ganze ein «Rückfall in die Steinzeit».

Die meisten deutschen Intellektuellen blieben sprachlos. Der Krieg war ein Meister in Rot-Grün. In dieser Situation schien es vielen geboten, Vernunft durch Moral zu ersetzen. Also Gesetze, Chartas, Verträge, Verfassungen, Statuten durch Empörung. («Die menschliche Empörung spielt eine große Rolle», so Scharping.) Moral ist ein Gut, das bei Definitionshoheit praktischerweise immer auf der eigenen Seite ist. Gibt es einen Krieg, der nicht mit einer moralischen Begründung begonnen wurde? Und ging dem nicht immer eine publizistische Aufrüstung voraus, um einen Sündenbock aufzubauen?

«Wenn es gar nicht anders geht, müssen demokratische Nachbarn zu völkerrechtlich legitimierter Nothilfe eilen dürfen», verteidigte Jürgen Habermas den Krieg. Die Selbstmandatierung sei ein Vorgriff auf ein neues Weltbürgerrecht gewesen. Zehn Jahre später gilt der militärische Export demokratischer Werte weltweit als Fiasko. Bombenhilfe hat die Not ausnahmslos vervielfacht. An Verrechtlichung von «Nothilfe» ist bis auf weiteres kein Bedarf, auch nicht an einer naturrechtlichen Argumentation, die die Gefahr von mangelnder eigener Urteilsfähigkeit durch Desinformation ausblendet. Humanitäre Katastrophen gibt es nicht. Denn humanitär heißt: menschenfreundlich, wohltätig. Es gibt nur humanitäre Politiker und Politiker, die eine Katastrophe sind. Die Besinnung auf das aus leidvoller Kriegserfahrung erwachsene, menschenfreundliche Völkerrecht kann dem Versagen der Humanität vorbeugen.

Die Folgen nicht zur Kenntnis genommen – Reise nach Belgrad

Was mich an den befürwortenden Politikern, Wissenschaftlern, Juristen und Journalisten besonders erstaunte, war das kalte Desinteresse daran, nach dem Krieg die Folgen des Angerichteten zur Kenntnis zu nehmen. Von formulierten Lehren für Künftiges ganz zu schweigen. Die Antworten der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der PDS, eingereicht ein Jahr nach dem Krieg, sind ernüchternd:

Frage: Wie viele Menschen sind bei den Luftangriffen der NATO getötet worden?

Antwort: Die Anzahl ist der Bundesregierung nicht bekannt.

Frage: Wie viele Menschen wurden bei den Luftangriffen verstümmelt oder verletzt?

Antwort: Die Anzahl ist der Bundesregierung nicht bekannt.

Frage: Wie viele Brücken wurden zerstört?

Antwort: Über die Anzahl der zerstörten Brücken liegen der Bundesregierung keine Informationen vor.

Frage: Wie viele Krankenhäuser sind bei den Bombardierungen zerstört worden bzw. sind aufgrund der Zerstörung nicht mehr benutzbar?

Antwort: Die Anzahl ist der Bundesregierung nicht bekannt.10

Damit war nicht bewiesen, dass die Regierung tatsächlich nichts wusste, sondern vielmehr, dass sie es nicht als zweckdienlich befand, die Öffentlichkeit aufzuklären. So beschloss ich, nach Belgrad zu reisen, um mir einen Eindruck zu verschaffen, wie es zehn Jahre nach dem Krieg in dieser Hauptstadt aussieht. Und nach der Geschichte eines Mannes zu suchen, von dem ich eher beiläufig in der Zeitschrift Ossietzky erfahren hatte.11

Die Zufahrten von Flughäfen vermitteln einem selten ein besonders vorteilhaftes Entree einer Stadt. Aber in Belgrad hängt zusätzlich eine graue Traurigkeit an den Fassaden. Die kräftigen Farben haben sich in die großen Reklametafeln westlicher Produkte verkrochen. Schlaglöcher, wie ich sie vor 20 Jahren im Lande nicht bemerkt habe. Aufatmen erst bei meiner Ankunft in der Altstadt, viel Jugendstil, Gründerzeit, die K. u. k.-Monarchie war nicht weit. Im mit Ahnentafeln getäfelten Café «Russischer Zar» erhole ich mich bei heißer Schokolade und Sachertorte. Voll ist es nicht unter all den Kronleuchtern und Spiegeln, aber eine kleine zahlungsfähige Schicht scheint es zu geben. Worauf auch die westlichem Luxus in nichts nachstehenden Geschäfte entlang des Fußgänger-Boulevards schließen lassen.

Doch mitten im Zentrum auch ausgebrannte Etagen in den Ruinen zweier großer Häuserblöcke, die früher der staatlichen Verwaltung dienten. Die einstige chinesische Botschaft eine einsame Ruine zwischen Grünflächen. Die einzige von Montenegro nach Belgrad führende Eisenbahn-Linie wurde im Krieg durch Bomben auf die Brücke über den Lim unterbrochen, der rekonstruierte Mittelteil ist knallrot eingefärbt, wohl zur ewiglichen Mahnung. Jeder Belgrader erzählt einem stolz, wie die drei Donau-Brücken der Stadt gerettet wurden: durch menschliche Schutzschilde. In all den 78 Bombennächten hielten sich Tausende Menschen auf den Brücken auf, Rockbands zogen Jugendliche auf die eine, traditionelle Klänge die nächste Generation auf die andere. Rentner brachten Kerzen, Tee und Decken. Ob die NATO die Lichter erkennen und respektieren würde, konnte niemand wissen. Erst viel später war zu erfahren, dass die französische Regierung ihr Veto gegen die Bombardierung von Donaubrücken eingelegt hatte. Da die Zielauswahl des NATO-Rates einstimmig sein musste, hatte sie Erfolg. Von irgendeinem deutschen Veto hat man nichts gehört.

Wie erwartet, hält sich bei den Menschen, die ich in Belgrad traf, die Dankbarkeit für die «NATO-Nothilfe» in Grenzen. Bei einem Abendessen mit Juristen und Politologen werde ich daran erinnert, dass der Krieg zwar die machtstrategische Abtrennung des Kosovo, aber keines seiner angeblich humanitären Ziele erreicht habe. Der Kosovo ist nicht befriedet. Die Situation kann nur durch starke Polizeiverbände der UNO-Verwaltung und Soldaten der internationalen Schutztruppe KFOR unter Kontrolle gehalten werden – ein Zustand, der dem vor dem Bombardement gleicht.

Und Miloševic´ ging gestärkt aus dem Krieg hervor. Er ist erst 16 Monate später von Otpor-Leuten, die von ausländischen Geheimdiensten ausgebildet waren, gestürzt worden. Der Export einer orangenen Revolution hätte keines Krieges bedurft, sagen meine Gesprächspartner. Bei diesem Thema reagiere ich zurückhaltend, will mich von womöglich einseitigen Interpretationen nicht vereinnahmen lassen. Bei Wikipedia ist die Otpor-Strategie völlig unverhüllt nachzulesen, ein Muster, das auch andere Quellen bestätigen:12

Demokratischer Volksaufstand oder von uns mitgesteuerter Putsch?

Die Finanzierung der serbischen Organisation Otpor (Widerstand) kommt demnach hauptsächlich vom US-Außenministerium (jährlich 80 Millionen Dollar) sowie von US-Unternehmerverbänden wie dem «Center for International Private Enterprise», von Stiftungen sowohl der Demokratischen wie auch der Republikanischen Partei, von der Soros-Foundation, vom Committee on the Present Danger, eine US-amerikanische Einrichtung zur Vorbereitung und Lenkung von Umsturzaktionen vornehmlich im früheren sowjetischen Machtbereich, deren Vorsitzender der frühere CIA-Direktor James Woolsey ist. Die Aufgabe von Otpor besteht darin, durch gutorganisierte «friedliche Revolutionen» antiwestliche Regierungen durch prowestliche zu ersetzen. Dabei sind folgende Schritte vorgesehen:

– spektakuläre «Widerstandsaktionen», über die im westlichen Ausland berichtet wird,

– das Einführen von Symbolen mit Wiedererkennungswert, wie die Farbe Orange in der Ukraine oder Rosen in Georgien,

– Arbeitsschwerpunkt vor Wahlen: Auslandsmedien sensibilisieren für eine Deutungshoheit, bei der Behinderung der Opposition im Wahlkampf und zu erwartende Manipulation grundsätzlich unterstellt werden (das deutsche Fernsehen hat solche Muster gern bedient),

– Proteste am Wahlabend starten die entscheidende Phase, die Vorwürfe der Opposition werden medial wirksam als Demonstrationen und Kundgebungen organisiert,

– politischer Druck aus dem Ausland führt zu Neuwahlen, bei denen die vom Westen bezahlte Opposition die Regierung übernimmt.

Genau nach diesem Drehbuch verlief der Sturz Miloševic´s. Am 5. Oktober 2000, wenige Tage nach der Präsidentschaftswahl, trafen seit den frühen Morgenstunden die Anhänger der demokratischen Opposition, organisiert und angeführt von den DOS-Führern, aus allen Richtungen Serbiens in Belgrad ein, heißt es auf der Website der Stadt. Sie strömten vor das Bundesparlament, um «sich dem großen Stimmenraub zu widersetzen, den die Bundeswahlkommission auf Anordnung Slobodan Miloševic´s begangen hat».

Wie der Spiegel später berichtete, war bei einem Geheimtreffen bereits am 17. Dezember 1999 in einem fensterlosen Raum des Berliner Interconti-Hotels in Anwesenheit von US-Außenministerin Albright und Deutschlands Außenminister Fischer der kooperationswillige Vojislav Koštunica zum Präsidentschaftskandidaten der DOS bestimmt worden.13 Koštunica forderte nun ultimativ Miloševic´ auf, seine Wahlniederlage einzugestehen und auf den zweiten Wahlgang zu verzichten, um der Gefahr «offener Konflikte in Serbien» zu begegnen. Flankierend hatte die aufgebrachte Menge inzwischen das jugoslawische Parlament in Brand gesteckt, nachdem die Polizei sich zurückgezogen hatte. Teile des historischen Mobiliars gingen in Flammen auf. Schüsse fielen. Gegen 18 Uhr legte die Polizei ihre Waffen nieder und schloss sich den Demonstranten an. Verletzte wurden in ein Notfallkrankenhaus eingewiesen.

Ein Teil des organisierten Protestes war vor das Gebäude des staatlichen Fernsehens gezogen, wo ein Bagger den verschlossenen Eingang freilegte und die aufgebrachte Menge das Gebäude anzündete. Die Bilder von dem vor das Haus geschleiften Direktor, der wegen der Berichterstattung (u. a. über Otpor) fast zu Tode geprügelt wurde, gingen um die Welt. Alle drei Programme des staatlichen Fernsehens stellten ihr Programm vorübergehend ein, während die privaten Sender über die Tumulte berichteten. Noch am selben Abend wandte sich Koštunica als neuer Präsident von der Terrasse des Belgrader Stadtparlaments, nun wieder über das staatliche Fernsehen, an die Bürger.

Vor diesem Hintergrund gewann, was mir jetzt in Belgrad erzählt wurde und was hierzulande niemand erfährt, eine eigene Dimension: Sofort nach der «demokratischen Otpor-Revolution» in Serbien begann eine flächendeckende Abrechnung mit der als sozialistisch angesehenen Elite. Meinungsführer wurden verhaftet und erst nach Monaten ohne Anklage und ohne Urteil auf freien Fuß gesetzt. Es fehlte an juristischem Personal, da über 200 für staatsnah gehaltene Richter entlassen wurden, während gleichzeitig 40 000 Ermittlungsverfahren einzuleiten waren.

Selbstverständlich auch gegen alle Mitglieder der Wahlkommission. Der Staatsanwalt erhob Anklage wegen Wahlfälschung, und viele hundert Zeugen wurden vernommen. Der Prozess zog sich sieben Jahre hin. In dieser Zeit wurden vier Richter ausgetauscht, weil sie nicht bereit waren, ohne Beweise einen Schuldspruch zu fällen. Inzwischen sollen gesetzestreuere Leute im Justizministerium sein. Im Februar 2008 erging ein rechtskräftiges Urteil gegen alle Mitglieder der Wahlkommission: Freispruch. Einseitige Vorteilsnahme und Fälschung bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. September 2000, aus denen Miloševic´ als Sieger hervorging, sind nicht nachzuweisen.

Bomben gegen Worte und Bilder

Nicht nur als einstige Fernsehjournalistin interessiert mich das Schicksal der Belgrader Kollegen. Von einem Teil ihres Studios ist immer noch die ganze Vorderfront weggerissen. Die intelligente Bombe traf zielgenau ins Erdgeschoss, um dann von unten alle Etagen zu durchbohren. Das Dach ist noch drauf, aber die darunter waren, hatten keine Chance. In jener Nacht des 23. April 1999, als Flugzeuge der NATO ohne Vorwarnung um 2.06 Uhr den Hauptsitz der serbischen Radio- und Fernsehgesellschaft RTS im Zentrum Belgrads bombardierten. 16 Tote und eine größere Zahl von Verletzten waren zu beklagen. Wo ist der Schuldige für diese schicksalsschwere Nacht? Immerhin gibt es einen Verurteilten.

Doch der Reihe nach. Den Sender zeigt uns Bora Urosevic´, Techniker und gewählter ehrenamtlicher Vorsitzender der Mediengewerkschaft im Haus. Man glaubt ihm anzusehen, dass er einiges hinter sich hat in diesem Haus, aber seine sanfte Art und den warmherzigen Blick konnte ihm keiner nehmen. Er führt uns, meine so hilfreiche Dolmetscherin Gordana und mich, über die bewusste Schwelle, von dem zerborstenen alten in den inzwischen wieder intakten Teil der Sendeanlage. Sie ist auf Kredit mit österreichischer Technik ausgestattet. Die meisten Türen zu den Büros und Senderegien stehen offen, vielfarbige Signallämpchen an Computern und Mischpulten leuchten auf, die Belegschaft ist jung.

Zur Vorgeschichte gehören Gerüchte und Dementis. Vom zweiten Kriegstag an hat die NATO Sendeanlagen und Antennenmaste der RTS zerstört. Doch kaum jemand wollte daran glauben, dass zivile Ziele wie Fernsehstudios ins Visier geraten könnten. Zumal das RTS-Gebäude unübersehbar dicht umstellt ist von zwei großen Kirchen, einem Kindertheater, einem Gymnasium und Wohnhäusern. Außerdem hatten Teams von CNN, BBC und CBS sich Büros und Technik im Haus ausbedungen, erklärt Urosevic´. Obwohl sie sich wie Besatzer benommen hätten, wurden sie zuvorkommend behandelt und ihre Berichte nicht behindert. Ihre Anwesenheit schien ein gewisser Schutz.

Während des Krieges hatte das serbische Fernsehen sein Unterhaltungsprogramm erheblich eingeschränkt. Um nicht unnötig Menschen zu gefährden, wurden fast nur vorgefertigte Konserven gesendet. Das aktuelle Informationsprogramm aber wurde sogar ausgebaut, es gab jede Stunde Nachrichten darüber, wo Betriebe, Kraftwerke, Brücken bombardiert und Versorgungswege unterbrochen, welche Krankenhäuser und Schulen nicht mehr benutzbar sind. Da meist im Dunkeln bombardiert wurde, liefen auch nachts rund um die Uhr die aktuellen Berichte.

Am 8. April erklärten die NATO-Generäle Wilbey und Kelche, dass der RTS sowie Spezialsender und Relaisstationen als «Propaganda- und Repressionsinstrumente» genutzt würden und deshalb legitime Ziele darstellten. Daraufhin sendete RTS am selben Tag einen Kommentar, den die Journalistin Tatjana Lenard im Namen der aufgebrachten Belegschaft verlas: «… Ihr sagt, dass wir lügen und daher für antiamerikanische Einstellungen verantwortlich seien. Doch es ist gar nicht notwendig, irgendjemandem in unserem Land zu erklären, wer Tod und Zerstörung bringt, weil unsere Bürger sehr genau wissen, wer ihnen die Bomben schickt. Wir berichten nur regelmäßig, gewissenhaft und professionell über zivile Opfer und über die Zerstörung ziviler Objekte in unserem Land. Euren Generälen gefällt es nicht, dass wir, nachdem eure Medien das Stadion in Priština mit angeblich zur Exekution zusammengepferchten 100 000 Albanern gezeigt haben, ein Bild vom leeren Stadion in die Welt senden. Auch haben wir sehr oft den Appell unseres Landes an die Flüchtlinge zur Rückkehr übertragen. Aber eine Zusammenarbeit zwischen Serben und Albanern könnt ihr nicht gebrauchen, ihr braucht den Krieg. Deshalb habt ihr euren Generälen die Vollmacht erteilt, in die Wahrheit zu schießen …

Auf euer Angebot aus Brüssel, dass ihr uns eventuell verschonen würdet, wenn wir euch täglich sechs Stunden auf unseren Kanälen senden lassen, antworten wir, ohne unseren Staat um Genehmigung zu bitten: RTS ist bereit, euch die angeforderte Zeit zur Verfügung zu stellen, wenn ihr uns in gleicher Länge die Ausstrahlung unseres Programms über Sender der NATO-Mitgliedsstaaten ermöglicht. Ja, uns würden wohl auch sechs Minuten genügen.»

Auf der NATO-Pressekonferenz des folgenden Tages antwortete Jamie Shea, wie immer lächelnd: «Welche Gefühle auch immer wir gegenüber dem serbischen Fernsehen hegen, wir werden die Sender nicht direkt angreifen.»14 In Presseberichten war später zu lesen, dass britische Juristen eingewendet hatten, Sender und Journalisten als Angriffsziele zu bestimmen, sei nach dem Genfer Abkommen verboten. Auch die Franzosen missbilligten das Ziel, weshalb laut Human Right Watch der schon für den 12. April vorgesehene Angriff abgeblasen wurde.15

Die Entscheidung, RTS dennoch zu bombardieren, sei schließlich von der Militärspitze der NATO mit Einverständnis von Präsident Clinton und Regierungschef Blair gegen die Einwände anderer NATO-Staaten durchgesetzt worden. Das Argument war, die Fernsehanstalt habe durch Sendungen, in denen Hass verbreitet würde, die rechtliche Immunität verwirkt. Belegt wurde die Behauptung nicht. (Dass die serbischen Feinde Frauen Föten aus dem Leib geschnitten, geröstet und wieder eingenäht, systematisch Gliedmaßen und Köpfe abgeschnitten haben, mit denen Fußball gespielt wurde, dies alles hatten allerdings öffentlich-rechtliche deutsche Sender verbreitet, ungeachtet der Gefahr, mit diesen Hassgespinsten ihre Immunität zu verwirken …)

In einem Interview mit der BBC vom 12. März 2000 kam Tony Blair schließlich auf den Punkt. Der Angriff auf den RTS sei notwendig geworden, weil auch westliche Sender die Videos von zivilen Opfern übernommen hätten. «Das ist eines der Probleme, wenn man in einer modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft Krieg führt. Uns war klar, dass diese Bilder auftauchen und eine instinktive Sympathie für die Opfer bewirken würden.» So hatte die NATO in Djakovica eine Kolonne albanischer Flüchtlinge beschossen, 75 Menschen starben, darunter viele Kinder. NATO-General Clark beschuldigte die jugoslawische Luftwaffe. Als aber Teile von Bomben amerikanischer Herkunft im Fernsehen gezeigt wurden, behauptete er, es habe sich um einen Militärkonvoi gehandelt. Doch da gingen die RTS-Bilder von den verkohlten Planwagen der albanischen Bauern schon um die Welt.

In der gleichen Sendung verteidigte NATO-General Wesley Clark das Vorgehen gegen RTS: «Zum Zeitpunkt des Angriffs wussten wir, das es auch andere Möglichkeiten des Empfangs des serbischen Fernsehens gibt. Es genügt nicht, auf einen Knopf zu drücken, und alles steht still. Dennoch hielten wir es für einen guten Schritt, und die politische Führung war derselben Meinung.»

Damit standen beide im Widerspruch zur britischen Verteidigungsdoktrin, die festschreibt: «Die Moral der Zivilbevölkerung des Feindes ist kein legitimes Ziel.» Und auch im Handbuch der deutschen Bundeswehr heißt es: «Erhebt man die direkte Einwirkung auf den Kriegswillen der gegnerischen Bevölkerung zum legitimen Ziel militärischer Gewaltanwendung, so kann es im Ergebnis … keine Grenzen der Kriegführung mehr geben.»

Drei Stunden nach der Bombardierung wurde der Sendebetrieb aus einem Ersatzstudio wieder aufgenommen. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international verurteilte in einem Bericht die Bombardierung des Senders. Um die begrenzte Wirkung wissend und die zivilen Opfer einkalkulierend, habe die NATO auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzt, was «einem schweren Verstoß gleichkäme und als Kriegsverbrechen anzusehen wäre».16

Doch schon wenige Tage später begründete das Haager Kriegsverbrechertribunal, weshalb es keine Anklage gegen die NATO erheben wolle. Entweder seien die Gesetze nicht hinreichend klar oder die Aussichten, gerichtsfeste Beweise für schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht erbringen zu können, zu gering. Die NATO habe Fragen nur sehr allgemein beantwortet und versäumt, auf konkrete Vorfälle einzugehen. Ohne NATO-Verantwortliche oder deren Opfer zu befragen, war das Tribunal zu dem Schluss gekommen, es habe sich in den meisten Fällen von «Kollateralschäden» um bedauerliche Versehen gehandelt. Zur Bombardierung von RTS hieß es lapidar: «Von der Annahme ausgehend, dass es ein legitimiertes Ziel war, waren die zivilen Opfer unglücklicherweise hoch, aber sie scheinen nicht eindeutig unverhältnismäßig.»17

16 Tote – kein unverhältnismäßig hoher Preis für drei Nachtstunden Sendeausfall? Zumindest änderte die NATO nun ihre medienpolitischen Attacken. Als das jugoslawische Fernsehen dem europäischen Satellitenfernsehen immer noch Bilder lieferte, die geeignet waren, Propagandabehauptungen der NATO zu widerlegen, beschloss auf deutsche Initiative das europäische Satelliten-Konsortium, das Signal des jugoslawischen Fernsehens abzuschalten. Bei Regierenden in NATO-Ländern, namentlich in Deutschland, war die Furcht groß, die Völker könnten, wenn sie genau informiert würden, ihnen die Zustimmung zum Kriegführen entziehen. «Seit gestern Abend ist die Berichterstattung über die NATO-Angriffe eingeschränkt. Bilder von getöteten Zivilisten und verwüsteten Wohnhäusern», so meldete die ARD-Tagesschau am 27. Mai, «werden künftig nicht mehr zu sehen sein.»18

Das «Kasseler Friedensforum» protestierte bei Bundesaußenminister Joseph Fischer. Aus dem «Auswärtigen Amt – Sonderstab Internationale Friedensbemühungen westlicher Balkan» kam am 24. August 1999 eine Antwort: «Das Grundrecht auf Pressefreiheit wird weder von Deutschland noch von anderen europäischen Ländern verletzt. Vielmehr ist es die jugoslawische Regierung, die eine objektive Berichterstattung durch unabhängige Medien in ihrem Land nicht duldet.» Deshalb gäbe es zahlreiche Initiativen, die serbische Bevölkerung informiert zu halten. Zu den wichtigsten Radioprogrammen auf Mittelwelle in serbischer und albanischer Sprache zählten das erweiterte Programm der Deutschen Welle, Voice of America, BBC, Radio Free Europe und Radio France International. Auch Österreich hatte auf Kurz- und Mittelwelle ein Sonderprogramm eingerichtet, das täglich fünf Stunden lang Nachrichten in mehreren Sprachen Südosteuropas ausstrahlte.

In den eineinhalb Nachkriegsjahren unter Miloševic´ gehörte es zu den wichtigsten Aufgaben dieser ausländischen Sendungen, die Opposition auf ihre orangene Revolution vorzubereiten. Angesichts der Zerstörungen, des strengen westlichen Embargos, der Inflation, der schlechten Versorgungslage und der verschiedensten Erklärungsmuster für deren Ursache, angesichts von Opportunismus und Ausgrenzung gab es für Unwillen und Widerstand vielfachen Anlass. «Es war die schwierigste Phase meines Gewerkschafterlebens», erinnert sich Bora Urosevic´. «Die ganze Woche irgendwelche Lebensmittel beschaffen, um die Belegschaft am Leben zu erhalten und jeden Freitag die Frage, ob wir den Lohn auszahlen können – die Anstrengungen dieses Kampfes stecken mir noch heute in den Knochen.»

Als der Gewerkschafter die damals geltende Devise nennt, ist mir, als zitiere er Dürrenmatts alte Dame: Solange ihr den Statthalter nicht tötet, gibt es kein Geld. Am 5. Oktober 2000 ist es dann endlich so weit. Ob nun demokratische Revolution oder Putsch – der soeben gewählte Präsident wird gestürzt, und auch das Fernsehstudio hat wieder eine strategische Bedeutung, mit der keine Armeeeinheit mitkommt. Wieder brennt das Haus, eine angemessene Kulisse, um Direktor Milanovic´ vor den Kameraaugen der Welt die Rippen einzutreten, an Nieren und Kopf zu verletzen. Es war die Entlassungszeremonie, er wird das Haus nicht mehr betreten.

Wahrlich, ich sage euch, das ist die Geschichte von Dragoljub Milanovic´:

Nach dem in vielen Zeitungen aufgegriffenen Bericht von amnesty international war die Bombardierung von RTS als das offensichtlichste Kriegsverbrechen der NATO ins Bewusstsein geraten. Neutrale Beobachter können sich das Vorgehen der Belgrader Justizbehörden nur mit dem enormen Druck aus dem Ausland erklären, die NATO moralisch zu entlasten. Dazu musste ein anderer Schuldiger gefunden werden.

Warum sollte nicht zum Beispiel der Fernsehdirektor selbst für den Bombentod seiner Mitarbeiter verantwortlich sein? Ein Vierteljahr nach dem mal Putsch, mal Volksaufstand genannten Ereignis wird er verhaftet, im August 2001 ist die Anklageschrift gegen ihn fertig, und eine Art Schauprozess kann beginnen. Wegen angeblicher Sicherheitsinteressen ist er nicht öffentlich. Die Vorwürfe gegen Dragoljub Milanovic´ beziehen sich nicht auf den Inhalt seiner Arbeit als Fernsehchef. Das ist insofern rechtlich von großer Relevanz, weil der ICTY-Bericht aus Den Haag darauf hinweist, dass Medien nicht schon zu einem legitimen militärischen Ziel werden, wenn sie die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung mobilisieren, sondern erst, wenn sie zu Verbrechen anstacheln, wie etwa in Ruanda geschehen. Doch ein solches Vergehen hat weder der einheimische Staatsanwalt dem Fernsehen vorgeworfen, noch hat die NATO sich die Mühe gemacht, ihre allgemeinen Behauptungen über Propaganda auch nur mit einem Beispiel zu belegen.

Milanovic´ wurde dafür verklagt, sich während des Krieges nicht an die Vorschriften über Schutzmaßnahmen in den öffentlichen Einrichtungen gehalten und so Menschenleben gefährdet zu haben. Der Angeklagte habe versäumt, im Kriegszustand die Auslagerung der Produktionskapazitäten und das Senden von einem Ersatzstandort anzuordnen. Diesem Vorwurf schlossen sich als Nebenkläger auch Angehörige von Familien an, die Opfer zu beklagen hatten. Der für Sicherheitsfragen zuständige Stellvertreter des Direktors sagte aus, er habe immer wieder versucht, Milanovic´ von der Nervosität einiger Kollegen und den Vorteilen eines Umzugs zu überzeugen, was dieser aber mit der Begründung abgelehnt habe, dass man im Ausweichquartier genauso gefährdet sei.

Frau Milanovic´, selbst Journalistin und gleichsam in Sippenhaft arbeitslos, hat in einem kleinen Verlag einen Dokumentationsband über den Prozess herausgegeben19, sodass Anklage, Verteidigung und Urteil gut nachvollziehbar sind. In seiner ausführlichen Verteidigungsrede hat der Angeklagte Dragoljub Milanovic´, sehr verknappt und frei übersetzt, Folgendes erwidert:

Seit der Bombardierung des Gebäudes fühle ich unermesslichen Schmerz um die Getöteten, als Mensch, als ihr Kollege und Direktor. Ich bin dankbar, dass die Anklage nicht auch behauptet, was die Medien seit Wochen zu wissen glauben: Ich hätte sogar den Zeitpunkt der Bombardierung gewusst und meine Kollegen dem Tode überlassen. In aufgeheizter Atmosphäre wird der Schmerz, der Hass und das Leid der unglücklichen Familien missbraucht, um mich als Kollaborateur und Mörder zu diffamieren. Dieser Senat muss nun entscheiden unter enormem Druck der manipulierten Öffentlichkeit und der neuen Machthaber, die den Juristen der Rechtsprechung täglich mit Entlassungen drohen, sogar den Richtern des Verfassungsgerichtes Jugoslawiens, und die nur auf meine Aburteilung warten. Deshalb liegt es mir fern, die Ehrbarkeit dieses Gerichtes zu verletzen, das ich als das meinige erachte, obwohl ich allein schon das Erscheinen auf der Strafbank als größte Strafe, Ungerechtigkeit und Schande empfinde.

Wenn ich die Anklage richtig verstehe, was nicht leicht ist, weil sie konstruiert und sinnlos ist, sitze ich auf diesem Stuhl, weil ich die Vorschrift 37 nicht in Kraft gesetzt habe. Im Panzerschrank des Senders sind 49 von mir unterschriebene Vorschriften gefunden worden, eine mit der Nummer 37 war nicht auffindbar. Es gab sie nur in einer Computerauflistung. (Der Verteidiger wird später von einer Fälschung sprechen.) Es gibt weder das Original noch irgendeine Kopie mit meiner Unterschrift. Ich weiß bis heute nicht, ob es diese Vorschrift jemals gegeben hat.

Die Anklage erwähnt nicht, dass ich schon lange vor dem Krieg, im April 1998, alle meine Sicherheitsvollmachten an meinen dafür zuständigen Stellvertreter übertragen habe. Er war schon vor meiner Zeit für diesen Bereich zuständig und hatte alle Kontakte zu den örtlichen Organen. Aber selbst die nun von der Anklage vorgelegte Fassung der Vorschrift 37 bestätigt, dass mein Verhalten während des Krieges auch in Unkenntnis dieses Papiers rechtmäßig war. Denn da ist, sogar in Fettschrift, die Klausel vermerkt, dass der Direktor von RTS befugt ist, ein dem Auslagerungsgebot gegenteiliges Vorgehen anzuordnen. Das heißt, ich hatte das Recht, nach eigenem Ermessen die Vorschrift 37 außer Kraft zu setzen. Ich hätte mich nur einer staatlichen Aufforderung zur Verlegung des Senders beugen müssen, aber einen solchen Befehl oder auch nur eine Empfehlung habe ich niemals bekommen.

In der Unglücksnacht gab es eher Grund, beruhigt zu sein, da tagsüber der russische Friedensvermittler Viktor Tschernomyrdin in Belgrad war. Nun warteten wir auf sein Statement, in dem er bekannt gab, dass Miloševic´ eine internationale Truppe im Kosovo akzeptiere. Das war für mich einer der Gründe, noch bis spät in die Nacht im Sender zu bleiben. Als die Meldung aus Moskau kam, machten der notdiensthabende Redakteur und ich den Beitrag sendefertig. Gegen 1.30 Uhr habe ich mich nach Hause begeben, und ich verfluche das Schicksal, dass ich nicht noch etwas blieb, weil ich dann im Gegensatz zu meiner jetzigen Marter mit getroffen und so von der Schmach verschont geblieben wäre.

Weshalb hielt ich ein Verbleiben des Senders in den RTS-Studios nach allem Abwägen für richtig? Als staatliches Fernsehen hatten wir den Sendeauftrag, die Information der Bevölkerung über die Kriegsfolgen zu intensivieren. Das wäre aus dem Provisorium eines Bergtunnels nicht möglich gewesen. Der von manchen gewünschten Reduktion der Nachrichtensendungen, Interviews und Reportagen konnte ich nicht zustimmen, weil gerade das in der Zeit der Verteidigung des Landes das Wichtigste ist.

Wichtiger noch war für mich die schlichte Tatsache, dass es für uns im Krieg überhaupt keinen sicheren Arbeitsort gegeben hat. Von jedem Standort hätten wir uns verratende TV-Signale gesendet, und auch im Tunnel hätte uns eine «schlaue Bombe» ausfindig machen können. Wenn der Berg über uns zusammengestürzt wäre, hätte es sogar noch mehr Opfer gegeben.

Unterbewusst vielleicht sogar der Hauptgrund für unser pflichtschuldiges Verharren am Arbeitsort war, und ich gebe das ungern zu, dass wir in der Tiefe unserer Herzen an ein Minimum militärischer Ehre des Gegners geglaubt haben. Am Eingang des dritten Jahrtausends konnte ich mir letztlich nicht vorstellen, dass in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde. Und dass die Repressionen nicht ruhen würden, bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selbst zu tragen.

Im Urteil gegen Dragoljub Milanovic´ wird festgehalten, er habe leichtfertig angenommen, dass der Tod von Personen nicht eintreten werde. Er wurde für schuldig befunden, die Vorsorgemaßnahmen der Bundesregierung, die örtliche Auslagerung industrieller und anderer Produktionskapazitäten betreffend, insbesondere die Vorschrift 37, missachtet zu haben. Nach § 194, Abs. 2 in Verbindung mit § 187, Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches der Republik Serbien wurde er zu einer Haftstrafe von neun Jahren und sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt. Ein zweiter Anklagepunkt, der öffentlich verhandelt wurde, warf ihm das Wirtschaftsvergehen «unerlaubter Devisenbesitz» vor. In einem Panzerschrank waren für den Kauf neuer Technik staatlich zugeteilte Devisen gefunden worden, die dort nicht hätten liegen dürfen. Das ergab zusätzlich acht Monate Haft.

Die Gesamtstrafe von zehn Jahren und zwei Monaten ist vom Obersten Gericht Serbiens bestätigt worden. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beschuldigte.

Diese Art Rechtsprechung, würde sie sich international durchsetzen, stellt letztlich im Falle eines als «friedenerzwingende Maßnahme» ausgewiesenen Angriffskrieges alles unter Strafe, was nicht einer bedingungslosen Kapitulation gleichkommt. Der unselige George Bush jun. hatte es den Irakern direkt angedroht: Kämen bei Verteidigungshandlungen Menschen und Sachwerte zu Schaden, würden die Verteidiger als Kriegsverbrecher verurteilt.

Im Belgrader Fernsehstudio hatte die Verteidigung nur mit Bildern und Worten stattgefunden. Im digitalen Zeitalter ist der Angriff auf die Informationen des Gegners die wirksamste Verteidigung. Was das für die Rechtsprechung bedeutet, darüber würde ich gern mit jemandem aus dem serbischen Justizministerium reden, bekomme aber keinen Termin. Auch die damalige Richterin und ihre vier Beisitzer sind für mich nicht zu sprechen. Erst nach hartnäckigem Drängen empfängt mich die Sprecherin des zuständigen Amtsgerichtes Belgrad, Ivana Ramic´. Die Juristin ist jung, sie ist erst drei Jahre nach dem Prozess gegen Dragoljub Milanovic´ ans Gericht gekommen. Es tut mir etwas leid, dass ich diese an dem Fall unbeteiligte freundliche Frau nun in ihrem kleinen Büro im «Palast der Gerechtigkeit», in dem das Urteil gesprochen wurde, mit meinen Fragen konfrontiere. Aber sie hat nun einmal dieses Amt.

Glauben Sie, dass der Bombenangriff auf das RTS-Gebäude ein Kriegsverbrechen war?

Die Anklage war unabhängig davon, wie die Aggression der NATO einzuschätzen ist. Sie hat sich nicht mit der NATO, sondern mit dem Verhalten von Direktor Milanovic´ beschäftigt. Über meine persönliche Ansicht zu dem NATO-Angriff möchte ich nicht sprechen.

Das verstehe ich. Aber kann eine juristische Betrachtung beides überhaupt trennen?

Das Gericht hat geprüft, ob der Angeklagte seine Pflicht erfüllt hat. Es hat 63 Be- und Entlastungszeugen gehört und sich eine Meinung gebildet. Es hat alle gesetzlichen Vorgaben berücksichtigt.

Aber es gab für den Fernsehdirektor keine Pflicht, den Sender zu verlegen. Die Anklage stand auf wackligem Grund. War es nicht ein politischer Prozess?

Das Gericht war vollkommen unabhängig. Ich kann hier nur vertreten, was das Gericht gesagt hat.

Frau Ramic´ ist verunsichert und verärgert, mehrfach droht sie, das Gespräch abzubrechen. Ich bin offenbar die erste Autorin aus dem In- und Ausland, die kritische Fragen stellt. Im Lande gibt es keine Tradition von investigativem Journalismus, und im Ausland interessiert sich niemand für dieses kriegsverlorene Land.

Kennen Sie in der nationalen oder internationalen Rechtsprechung einen vergleichbaren Fall?

Nein.

Ich wollte Dragoljub Milanovic´ im Gefängnis besuchen. Aber der Direktor der Haftanstalt konnte darüber nicht entscheiden, und vom Ministerium habe ich keine Erlaubnis bekommen. Am Nachmittag treffe ich Ljiljana Milanovic´ im Café des Hotels. Sie ist nervös, raucht eine Zigarette nach der anderen. Ihr Mann hat im Gefängnis, das hundert Kilometer von Belgrad entfernt ist, eine Telefonkarte. Im Gang gibt es einen Apparat; wenn er noch Gesprächsminuten auf der Karte hat, ruft er freitags um diese Zeit manchmal auf ihrem Handy an. Er hat nun die Hälfte der Strafe abgesessen, da gibt es selbst für Schwerverbrecher Hafterleichterungen, Ausgang in den Ort und einmal im Monat ein Heimfahrwochenende. Zweimal durfte er nach Hause, dann haben sich seine treuen Feinde eine neue Schikane ausgedacht. Eine Anklage wegen Amtsmissbrauchs. Davon hatte mir Bora Urosevic´ schon erzählt. Behauptet wird, es hätte Unregelmäßigkeiten bei der Zuweisung von Mietwohnungen gegeben, die das Fernsehen wie jeder staatliche Betrieb in geringem Umfang zu vergeben hatte. Eine Kommission prüfte die Dringlichkeit der Anträge, hing die Rangliste aus, wartete Widerspruchsfristen ab. Dann entschied der Verwaltungsausschuss über die Zuteilung, und der Direktor händigte die Schlüssel aus. Urosevic´ bezweifelt, dass man von dieser Prozedur abweichen konnte.

Jeder Strafgefangene, gegen den eine erneute Anklage läuft, wird vom erleichterten Vollzug ausgeschlossen und kann auch keinen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellen. Nur darum geht es, vermutet Ljiljana. Wenn es um Gerechtigkeit ginge, hätte der Staatsanwalt wegen der Lynchjustiz bei dem Aufstand im Jahr 2000 längst Anklage gegen Unbekannt wegen schwerer Körperverletzung, versuchtem Mord und unterlassener Hilfeleistung erheben müssen. Die Bilder davon haben alle Fernsehstationen der Welt gesendet, auch die deutschen.

Das Handy klingelt, es ist ein Anruf aus dem Gefängnis, ich kann kurz mit Dragoljub Milanovic´ sprechen. Er ist aufgeregt, die Gedanken kreisen seit Jahren um dieselben Details. Er habe seinen Stellvertreter für Sicherheit gefragt, wo das Original der Vorschrift 37 geblieben sei – beim Oktober-Aufstand verschüttgegangen, habe dieser behauptet. Und als er die Richterin darauf hingewiesen habe, dass es bei einem Umzug in den Tunnel unterm Berg Hunderte Opfer gegeben haben könnte, hätte diese geantwortet: «Das stimmt. Aber Sie hätte dann keine Schuld getroffen.» Das Schlimmste sei für ihn, dass die Medien sich solche Argumente gefallen ließen, dass es keine sachliche Pro-und-Contra-Debatte gegeben habe und die NATO durch den fehlenden Widerspruch rehabilitiert sei. «Das ist ein moralischer Untergang des Journalismus, und man muss sich fragen, welche Ereignisse noch verschwiegen werden.»

Tabuisierte Bilanz eines Krieges

Ich bin im Ministerium für Infrastruktur angemeldet. Ich erhoffe mir ein Fazit der Kriegsschäden und des Wiederaufbaus. Der Pressesprecher hat noch Mitarbeiter aus dem Kabinett des Ministers in den runden, mit großem Perserteppich und Sesseln ausgestatteten Empfangsraum geladen. Graumelierte Herren in Schlips und Kragen. Das Ministerium ist derzeit in den Händen der mitregierenden SPS, die weitgehend zersplittert um ihre Identität ringt. Die Ministerialen haben Zahlen dabei, aber nicht alles ist erfasst.

Der Krieg gegen Jugoslawien, in dem der Kosovo besetzt und Serbien 78 Tage bombardiert wurde, hat danach etwa 1200 Zivilisten das Leben gekostet. Diese erschütternde Bilanz eines Machtkampfes steht in deutlichem Kontrast zu dem von der NATO verbreiteten Bild, wonach die «Luftschläge», früher auch Bombardierungen genannt, die akkuratesten der Geschichte waren und nie zuvor so viel Vorkehrungen getroffen wurden, um Zivilisten zu schützen. Das ist auch schwer vorstellbar, wenn 235 Fabriken zerstört werden. Darunter 160 000 Quadratmeter Produktionsfläche der Zastava-Autoproduktion in der erwähnten Industriestadt Kragujevac. 3000 Beschäftigte harrten Tag und Nacht als menschlicher Schutzschild an ihren Arbeitsplätzen aus unter der Losung: Vernichtet nicht, wovon wir leben.

Dass bei den neun direkten Treffern nur 160 Arbeiter verletzt wurden und niemand sein Leben verlor, war eher ein Wunder als militärische Präzision. Die wäre es gewesen, wenn von dem Werk nur die kleineren Betriebsteile getroffen worden wären, die tatsächlich Rüstungsproduktion betrieben. Und nicht noch 32 000 zivile Autobauer arbeitslos geworden wären. Noch im Jahr 2002 waren keine fünf Prozent der Autoproduktion wieder intakt. Die Stadt mit dem Trauma des SS-Massakers gehört heute zu den ärmsten des Landes. Inzwischen soll Fiat eine Mehrheit am Betrieb erworben haben, seither sind Zahlen schwer zu bekommen.

Im Ministerium redet man lieber von den Aufbauerfolgen. Ein Bildband belegt eindrucksvoll, wie von den 61 im Krieg zerstörten Brücken innerhalb von 16 Monaten 57 wieder rekonstruiert wurden. Von den übrigen Zerstörungen ist vieles noch nicht instand gesetzt. Getroffen wurden 476 Bildungsstätten und Schulen, 113 Gesundheitseinrichtungen, 31 Landwirtschaftsunternehmen, 64 öffentliche Verwaltungen, darunter Banken und touristische Unternehmen. Auch 36 sakrale Objekte sind beschädigt worden und mehr als 50 000 Wohnungen. Fast 30 Prozent der Erwerbsfähigen sind arbeitslos. Wenn keine Hilfe aus dem Ausland kommt, so haben Experten errechnet, wird es noch 80 Jahre dauern, bis alles wieder aufgebaut und der Leistungsstand von vor dem Krieg erreicht sein wird. Kein Wunder, dass die Hoffnungen auf die reiche EU beinahe so groß sind wie der Opportunismus und die Korruption im Land.

Die Bilanz der angeblich friedenserzwingenden Maßnahmen auf dem Balkan ist nicht nur ernüchternd, sondern ein Armutszeugnis für eine Politik, die humanitäre Motive für sich in Anspruch genommen hat. Die öffentliche Scheinordnung ist nur durch die «ethnischen Säuberungen» aufrechtzuerhalten gewesen, die angeblich vermieden werden sollten. Und selbst das nur mit Hilfe der auf unabsehbare Zeit stationierten ausländischen Truppen. Mit dem Rückzug der jugoslawischen Polizei und Armee flohen 200 000 Serben aus der Provinz, oft gewaltsam von Albanern vertrieben. Die von den NATO-Staaten diplomatisch und militärisch vorangetriebene Sezessionspolitik hat ökonomisch kaum lebensfähige, halbkoloniale Besitztümer des westlichen Kapitals zurückgelassen. Der Kosovo ist mit dem riesigen US-Militärstützpunkt Camp Bondsteel, der sofort nach dem Krieg errichtet wurde, ohne eine Regierung um Erlaubnis zu fragen, praktisch ein NATO-Protektorat geworden. 

Die bundesdeutsche Außenpolitik hat durch ihre Teilnahme am Angriffskrieg gegen Serbien gelernt, wie man Einflusssphären gewinnt, ohne sich für die Folgen verantwortlich fühlen zu müssen. 

Die weitgehend im Besitz der deutschen WAZ-Gruppe befindlichen serbischen Medien dienen kaum der Aufarbeitung. Die Analyse im Land lebender Autoren ist dafür an Bitterkeit schwer zu übertreffen.20

Der kroatische Philosoph Boris Buden bezieht das «so offensichtliche postkommunistische Leiden» ausdrücklich auf den logos des Kapitalismus: Prekarisierung der menschlichen Existenz, Vernichtung der letzten Überreste sozialer Solidarität, eine an den Frühkapitalismus erinnernde Ausbeutung, oft kriminelle Privatisierung, Re-Klerikalisierung bei kulturellem Konservatismus. «Die Tatsache, dass der postkommunistische Übergangsprozess gleichzeitig von einer seit den imperialistischen Zeiten nicht da gewesenen Expansion des westlichen Kapitals begleitet wird, bleibt in der Regel ausgeblendet.» Erst unsere Blindheit gegen die gnadenlose Profitjagd mache es möglich, diesen Prozess als den eines demokratischen und zivilisatorischen Fortschritts auszugeben. «Das, woran Serbien heute leidet, ist kein unvollendeter Demokratisierungs-, sondern ein fortschreitender, eindeutig von faschistischen Zügen geprägter Zerfallsprozess.»

Latinka Perovic´, die große alte Dame der Zeitgeschichtsschreibung, schließt sich dieser Beschreibung an: «In Wahrheit handelt es sich gegenwärtig bei den Serben um ein kleines, müdes, politisch niedergeschlagenes (und erniedrigtes), in der Außenpolitik gefesseltes und völlig machtloses, wirtschaftlich ruiniertes und armes, erschöpftes und alterndes Volk, dem die jungen, gebildeten Schichten weglaufen.»

Der als Schriftsteller und Herausgeber nach Jahren in Harvard nun in Belgrad lebende Sohn des einstigen Staatsfeindes Nummer eins, Aleksa Djilas, beklagt, dass viele Serben die Repressionen gegen die Kosovo-Albaner verurteilt hätten und daher die generelle «Dämonisierung der Serben» als das Gefühl erlebten, die Geschichte wiederhole sich. «Die ‹humanitäre Intervention› der NATO im Kosovo war nicht nur inkonsequent – der Kampf gegen den ausschließenden und brutalen Nationalismus der Serben ermöglichte den Sieg des kaum andersgearteten albanischen Nationalismus –, sondern auch blind für die Werte der serbischen Geschichte und der orthodoxen Religion, Kunst und Tradition. Deshalb wurde im Kosovo nicht nur über den serbischen Nationalismus gesiegt, sondern auch die serbische Kultur mehr oder weniger vernichtet.»

Diese Kultur-Barbarei, die uns da bescheinigt wird, bestätigt etwas diplomatischer auch Dragan Velikic´, einer der wichtigsten kritischen Autoren in der Miloševic´-Zeit und heute serbischer Botschafter in Österreich. Die internationale Gemeinschaft habe durch eine verfehlte Politik ermöglicht, dass der Terror einer Minderheit gegenüber der Mehrheit ausgetauscht wurde durch den Terror einer Mehrheit gegenüber der Minderheit. «Wenn ich heute auf den Zerfall Jugoslawiens zurückblicke, kann mich niemand davon überzeugen, dass dieses Land nicht hätte bestehen können, wenn es damals den großen Mächten dieser Welt gepasst hätte.» Stattdessen aber sei für die Generation der jungen albanischen Guerilla-Kämpfer die wichtigste Botschaft des vergangenen Jahrzehnts, dass Gewalt sich lohnt. «So zeige sich, dass es für kleine Staaten wie Serbien ein beachtliches Wagnis ist, sich auf internationales Recht zu verlassen.»

War das die Botschaft unserer «Nothilfe»?

Wenn Rechtsverletzungen vom Staat gedeckt werden

In der Tat hat sich kein Gericht der Welt für das serbischen Zivilisten zugefügte Leid zuständig gefühlt. Die noch während des Krieges von Jugoslawien beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingereichte Klage gegen zehn NATO-Staaten, darunter Deutschland, wurde ohne Entscheidung in der Sache abgewiesen, weil nur UNO-Mitglieder klageberechtigt seien. Jugoslawien wurde dieser Status, entgegen eigenem Verständnis, für diese Zeit kurzerhand abgesprochen. Aus Sicht des Westens, der an den Sezessionen tatkräftig mitgewirkt hatte, handelte es sich gerade nicht um einen Prozess der Abtrennung, sondern um einen des Zerfalls, weshalb jede Nachfolgerepublik zeitaufwendig einen neuen Aufnahmeantrag bei der UNO stellen musste. 1991, beim tatsächlichen Zerfall der UdSSR, hat man Russland eine solche Prozedur nicht zugemutet. Auch Staaten sollten darauf vertrauen können, gleich behandelt zu werden.

Die Familien der getöteten RTS-Mitarbeiter verklagten die Mitgliedsstaaten der NATO, darunter Deutschland, auf Entschädigung vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Klage wurde nicht behandelt, was die beschuldigten Staaten in der komfortablen Lage beließ, die Morde als «guten Schritt» zu rechtfertigen, der nicht einmal eines Entschuldigens oder auch nur Bedauerns bedürfe.

Noch während des Krieges sind beim damaligen Generalbundesanwalt Kay Nehm 50 Strafanzeigen gegen die deutsche Regierung eingegangen. Der Spiegel erlaubte sich die Respektlosigkeit, sich vorzustellen, Schröder, Scharping und Fischer würden unter folgender Anklage verhaftet: «Die Bundesrepublik habe sich an einem Staatsverbrechen beteiligt, dem schwersten, das im deutschen Strafgesetz aufgeführt ist – einem Angriffskrieg von deutschem Boden aus. Darauf steht lebenslang.»21 Dass der Generalbundesanwalt keine Ermittlungen aufnahm, überraschte nicht. Er ist als politischer Beamter den Weisungen des Justizministeriums unterstellt. Überraschend war nur, wie dünn die Hilfskonstruktion war, mit der er vor den Juristen durchkam: Der Jugoslawien-Einsatz habe eine «dem Völkerfrieden dienende, nicht eine ihn beeinträchtigende Krisenintervention» dargestellt, sei also kein Angriffskrieg gewesen.

Unerbittlich zeigte sich das Gesetz gegen die 34 klagenden Schwerstverletzten und Hinterbliebenen des Städtchens Vavarin, deren Angehörige am Pfingstsonntag 1999 auf dem Weg zum Kirchgang auf der schmalen Brücke über das Flüsschen Morava durch zwei Raketenangriffe ums Leben kamen, darunter das 16-jährige Mädchen Sanja.22 Getötet auf einer Brücke, die schon wegen ihrer geringen Tragfähigkeit für militärische Transporte untauglich ist. Mit der Klage auf symbolische Entschädigung kämpften die Opfer und ihre solidarischen deutschen Unterstützer um Respekt gegenüber ihrem Schicksal, letztlich um die historische Wahrheit. Der Prozess wurde in allen großen Zeitungen als ein «Verfahren für die Rechtsgeschichte» mit Spannung verfolgt. Fand er doch in einer Umbruchphase des Völkerrechts statt, das einzelne Täter strafrechtlich verfolgt und die Opfer individuell schützt.

Doch der BGH wies die etwaigen Schmerzensgeldansprüche zurück, weil sie, wenn überhaupt, nicht geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zustehen. Dem ja, von der UN-Mitgliedschaft suspendiert, auch nichts zustand. Weshalb die Verantwortlichkeit der Bundesrepublik für einen etwaigen Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht gar nicht erst untersucht werden musste. Im Übrigen stünde den staatlichen Dienststellen, was die Auswahl zu bombardierender Ziele beträfe, «ein umfangreicher, gerichtlich nicht nachprüfbarer Beurteilungsspielraum zu». Statt den mittellosen Klägern nicht noch weiteres Leid zuzufügen, indem Deutschland wenigstens die Prozesskosten übernimmt, drohte ihnen das Gericht mit Pfändung, falls sie die Summe von 16 000 Euro nicht pünktlich aufbringen. Seit 2006 liegt die Klage beim Bundesverfassungsgericht. Eine Entscheidung über ihre Annahme ist noch nicht ergangen.

Dass die Justiz sich überhaupt mit dem Thema beschäftigt, ist schon ein Fortschritt. Aber wenn Gesetze immer wieder so ausgelegt werden, dass Opfer staatlichen Handelns vor keinem Gericht Gehör finden, ist das nicht Unrecht? Meine schon früher in Bezug auf die DDR gestellte Frage: Ab wie viel Unrecht ist ein Staat ein Unrechtsstaat?, fiel mir bei dieser Gelegenheit wieder ein. Petra Schäfter, als Juristin und Politologin am Projekt der Humboldt-Universität zur Untersuchung des DDR-Unrechts mit dem Thema jahrelang befasst, hat mir eine interessante Antwort gegeben: «Staatliches Unrecht gibt es in jedem System, überall auf der Welt, auch in der Bundesrepublik. Der Skandal besteht weniger in der bloßen Existenz solcher furchtbaren Rechtsverletzungen, sondern darin, dass es in Unrechtsstaaten aus Mangel an unabhängiger Justiz, unabhängigen Medien, zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, kurz aus Mangel an Demokratie, kaum Möglichkeiten gibt, solche Rechtsverletzungen aufzudecken, zu ahnden und künftig zu verhindern. Sie werden stattdessen staatlicherseits gedeckt und vertuscht. In diesem Sinne ist es meiner Ansicht nach durchaus berechtigt, von der DDR als ‹Unrechtsstaat› zu sprechen.»

Die Wachheit gegenüber Rechtsverletzungen im einstigen Konkurrenzsystem ist nicht nur verständlich, sondern auch im Sinne der Opfer, der historischen Wahrheit und der Lehren für Künftiges unbedingt berechtigt und erforderlich. Die Verschlafenheit gegenüber Rechtsverletzungen im eigenen System sollte nicht verständlich sein. Die Vernachlässigung des Rechts zugunsten der Moral ist strukturell nichts anderes als die stalinistische Logik, die den Klassenstandpunkt im Ernstfall über das positive Recht gesetzt hat. Nur einer regierungstreuen Rechtsprechung, mit dem Postulat gerichtlich nicht nachprüfbarer politischer Spielräume, konnte entgehen, dass die Teilnahme an einem Krieg, der keinen verhältnismäßigen Grund und deshalb auch kein UN-Mandat hat, die Teilnahme an einem Angriffskrieg ist. Und damit ein Verstoß gegen das Völkerrecht, das NATO-Statut, das Grundgesetz, den 2 + 4-Vertrag, das Strafgesetzbuch und gegen die Grundsätze beider Koalitionsparteien.

Aus Mangel an unabhängiger Justiz, kontrolliert von Medien und zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, die nicht mit der nötigen Hartnäckigkeit am Thema blieben oder kein ins Gewicht fallendes öffentliches Gehör fanden, gibt es kaum Möglichkeiten, in der Bundesrepublik solche Rechtsverletzungen aufzudecken, zu ahnden und künftig zu verhindern. Sie werden stattdessen staatlicherseits gedeckt und vertuscht. Der erste Krieg der NATO nach 50 Jahren, der erste Krieg nach Wegfall des Systemkonkurrenten, ist weder zeitgeschichtlich noch juristisch noch rechtsphilosophisch aufgearbeitet.

Mein erster Angriffskrieg – Nachweise

1 Siehe Spiegel Nr. 17/1999, S. 27

2 Jürgen Elsässer: Kriegslügen. Der NATO-Angriff auf Jugoslawien; Berlin 2008, S. 131

3 Siehe Freitag Nr. 19/1999, S. 7

4 Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999; Baden-Baden 2000

5 Aus: Jo Angerer, Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge; ARD/WDR, 8. 2. 2001

6 Miloševic´; Dokumentarfilm, Arte, 24. 7. 2008, 22.30 Uhr

7 Jörg Becker, Mira Beham: Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod; Baden-Baden 2006

8 James Harff, interviewt von Jacques Merlino, stellv. Direktor des 2. französischen Fernsehens im April 1993

9 Siehe Spiegel Nr. 15/1999, S. 33

10 Deutscher Bundestag, Drucksache 14/1788

11 Eckart Spoo: Bei den Serben; Ossietzky 15/07, S. 581

12 Siehe zum Beispiel den Bericht der ARD-Tagesschau-Redaktion auf tagesschau.de: «Otpor – oder wie wird man Revolutionär?» Zu finden unter www.tagesschau.de/ausland/meldung127208.html

13 Jürgen Hogrefe: Hilfe zur Revolution; Der Spiegel 41/2000, 9. 10. 2000, S. 22

14 Avner Gidron, Claudio Cordone: Die Bombardierung der RTS-Studios; Le Monde Diplomatique, 14. 7. 2000

15 Human Right Watch: Civilian Deaths in the NATO Air Campaign; New York, Februar 2000

16 Le Monde Diplomatique, a. a. O.

17 International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia; Bericht vom Juni 2000, S. 23

18 Eckart Spoo: Irreführung der Öffentlichkeit. In: Wolfgang Richter, Elmar Schmäling, Eckart Spoo (Hg.): Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien; Schkeuditz 2000

19 Ljiljana Milanovic´: Odmazda zbog istine, Ko je, kako i zastro osudio direktora Milanovic´a zbog bombardovanja RTS-a; Novi Beograd 2006

20 Alle aus: Jens Becker, Achim Engelberg (Hg.): Serbien nach den Kriegen; Frankfurt am Main 2008

21 Spiegel 17/1999, S. 32

22 Siehe dazu Daniela Dahn: Wir sind auf dieser Erde verdammt, uns zu vertragen. In: Daniela Dahn: Demokratischer Abbruch; Reinbek 2005