Berliner Zeitung 6.10.2019
Interview mit Daniela Dahn, Schriftstellerin und Publizistin, geboren 1949. Sie war stellvertretende Vorsitzende der Zeitweiligen Untersuchungskommission zu den Ereignissen vom 7./8. Oktober 1989 in Berlin.
Frau Dahn, Sie haben den früheren Stasi-Minister Erich Mielke am 26. Januar 1990 zusammen mit einem anderen Kommissionsmitglied in der Haftanstalt Rummelsburg befragt. Wie kam es dazu?
Die Kommission wollte Mielke natürlich befragen, aber der saß in Untersuchungshaft. Und dann hieß es plötzlich, jetzt können zwei Leute nach Rummelsburg kommen und mit ihm sprechen. Ich hatte gedacht, Pfarrer Passauer als der Vorsitzende der Kommission nimmt das wahr, aber der hatte keine Lust dazu und bat mich als seine Stellvertreterin, das zu übernehmen. Ich habe natürlich gleich ja gesagt, da war auch die journalistische Neugier dabei. Uns ging es immer um die Befehlskette, wer hat wann was angeordnet. Und wir wussten schon durch den VP-Präsidenten Rausch, dass der Befehl, die Demonstration und die Proteste nicht zuzulassen, von Mielke gekommen sein soll.
Und dann sind Sie mit Heinz Nabrowsky, einem anderen Kommissionsmitglied, zu Mielke in die Zelle gegangen?
Wir wurden in eine Zelle auf der Krankenstation in Rummelsburg gebracht. Ein spartanisch eingerichteter Raum, drei Betten waren drin, Waschbecken und Kloschüssel, ein kleiner Tisch, kaum Platz für Stühle. statt einem richtigen Fenster nur solche Glasziegel. Bedrückend. Und dann wurde Mielke hereingeführt, und plötzlich war ich in der Rolle, ihn aufzufordern, auf einem der Holzstühle Platz zu nehmen. Er gehorchte. Inhaltlich brachte uns die Befragung nicht voran. Wenn es konkret wurde, machte Mielke dicht. Da war der alte Geheimdienstmann stärker, keine Namen, keine Details. Immerhin hat er bestätigt, dass er auf der Brücke am Palast der Republik stand und sich die Situation vor Ort angeschaut hat.
Zum Schluss der Begegnung fragten Sie Mielke nach der Bilanz seines politischen Lebens – das ging ja über den Untersuchungsgegenstand hinaus. Warum stellten Sie diese Frage?
Vor der Befragung hatte uns der Anstaltsarzt darüber informiert, dass Mielke – der zu diesem Zeitpunkt ja schon einige Wochen in Rummelsburg saß – einen totalen psychischen und körperlichen Zusammenbruch hatte in der Untersuchungshaft. Es hätten sich massive Erscheinungen von Verkalkung und fortschreitende Senilität eingestellt. Mielke habe auch Suizidwünsche geäußert. Als wir ihn dann bei der Befragung erlebten, waren wir zunächst unsicher, ob der nun wirklich schon so verwirrt ist oder ein genialer Schauspieler, der eine Senilität nur vorgibt. Ich war mir dann aber schnell sicher, dass er uns nichts vorspielt. Er rang um Worte, wollte sich klarer ausdrücken und war dann über sich selbst verärgert, dass ihm das nicht gelang. Das wird deutlich, wenn man das Protokoll der Befragung liest. Da dachte ich, bald wird er gar nichts mehr sagen und das wäre jetzt die Chance, dass er vielleicht noch mal reflektiert, was er falsch gemacht hat. Doch da kam ja nichts von ihm. Ich wollte die Gelegenheit eben nicht verstreichen lassen. Es blieb ja auch, so weit ich weiß, das einzige Interview mit ihm. Wobei Interview das falsche Wort ist – es war ja eine Befragung. Mielke musste den Rollentausch hinnehmen, er sollte uns antworten und sein Tun rechtfertigen.
Am 7. Oktober 1989 feierte die SED-Führung den 40. Jahrestag der DDR im Palast der Republik. Keinen Monat später begann die Kommission aus unabhängigen Bürgern, Künstlern und Abgeordneten ihre Untersuchung zu den gewalttätigen Übergriffen von Polizei und Stasi auf friedliche Demonstranten und zur Verantwortung der SED dafür. Hätten Sie sich das heute vor 30 Jahren vorstellen können?
Anfangs sicher nicht, aber in dieser Wendestimmung im Oktober war plötzlich alles möglich geworden. Eine Untersuchungskommission mit Bürgern oder auch nur mit Stadtverordneten hatte es bis dahin nicht gegeben in der DDR. Wir haben zum ersten Mal – was zuvor niemals jemand gewagt hatte – Rechte, die es in der DDR-Verfassung gab, wahrgenommen. Die Kommission hatte beim Rechtsausschuss der Volkskammer auch beantragt, dass Verantwortliche zur Zeugenaussage verpflichtet und eine Geheimhaltung von Regierungs- und Behördenentscheidungen im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin aufgehoben werden. Und das hat uns der Rechtsausschuss genehmigt. Ohne diese Rechtsgrundlage hätten wir gar nicht die Kompetenz gehabt, die Zeugen vorzuladen.
Und dann kamen die Spitzen von SED, Stasi und Polizei ins Rote Rathaus, um sich von der Kommission befragen zu lassen.
Allein der Umstand, dass die alle antanzten und sich von Ärzten, Schriftstellern, Installateuren und jungen Leuten, die misshandelt wurden, befragen lassen mussten, war was ganz Neues. Wir hatten da etwas in Bewegung gesetzt. Und wir haben ja zum Beispiel auch erreicht, dass alle Zugeführten und Inhaftierten vollständig rehabilitiert und entschädigt wurden. Das war ein ganz wichtiges Anliegen für uns.
Die vorgeladenen Funktionäre wiesen vor der Kommission jedoch eine konkrete Verantwortung für das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte zurück.
Strafrechtliche Verantwortung wurde abgelehnt, ja. Immerhin räumten fast alle ein, die Lage falsch eingeschätzt zu haben: Politische Probleme dürften nicht mit polizeilichen Mitteln gelöst werden. Sie übernahmen eine politische Verantwortung. Das war schon viel und noch nicht selbstverständlich damals, auch wenn einige von denen ohnehin längst abgesetzt waren. Man muss außerdem sehen, dass die Kommission intensive Befragungen führte, die über das ganz konkrete Verhalten der Betreffenden an diesen beiden Oktober-Tagen hinaus gingen. Ich habe zum Beispiel bei der Sitzung am 17. Januar 1990 Krenz gefragt, ob nicht der generelle Umgang der Partei mit Andersdenkenden zu den Ereignissen an diesen Tagen geführt habe. Und er räumte ein, man habe nach dem falschen Prinzip gehandelt, wonach die Partei nur handlungsfähig sei, wenn sie einheitlich ist. Und er sagte auch, es sei unverständlich, warum sie sich im Politbüro haben gefallen lassen, dass über solche Fragen nicht gestritten und dort ohnehin keine Diskussionen geführt worden seien. Diese Befragungen haben damals auch das Selbstvertrauen der Bevölkerung gestärkt, den ehemaligen wie den aktiv Regierenden kritische Fragen zu stellen. In diesem Sinne ist meine Bilanz der Kommission positiv, sowohl was die gesellschaftliche Veränderung betrifft als auch die Erfahrungen, die jeder einzelne in dieser Kommission gemacht hat. Christa Wolf hat auch geschrieben, dass eine der wichtigsten Erfahrungen in ihrem politischen Leben die Mitarbeit in dieser Untersuchungskommission war.
In der Kommission haben Sie parallel zu den Befragungen in einer kleinen Arbeitsgruppe mitgewirkt, die ein neues Polizeigesetz entwerfen sollte. Was ist daraus geworden?
Der Entwurf war sehr schön, gehörte aber zu den Dingen, die in der Wendedynamik untergegangen sind. Dabei haben wir Vorschläge dort hineingeschrieben, die auch heute zeitgemäß und angebracht wären – zum Beispiel einen Bürgerbeauftragten, an den man sich bei Gewalthandlungen durch Polizisten wenden kann, eine Kennzeichnungs- und Aussagepflicht für Beamte, ein enger, geregelter Kontakt zwischen Bürgern und Polizei und so weiter. So ein Polizeigesetz, wie wir es damals entworfen haben, wäre auch heute sehr wichtig.