Über die Grundlagen politischer Macht
Die dramatischen Ereignisse in der Ukraine lassen die Frage der Selbstermächtigung in neuem Licht erscheinen. Ist der Maidan ein akzeptables Modell? Daran haben die Verbündeten der USA, EU und Nato nie einen Zweifel gelassen. Wenn aber dem Westen nicht so bedingungslos ergebene Kräfte sich der gleichen Mittel bedienen, werden aus Kämpfern für Freiheit und Demokratie wie selbstverständlich Putschisten und Terroristen. Mit dem Wissen wächst der Zweifel. Wer immer am Anfang und am Ende auf dem Maidan war – die Aktivisten verband, bei den letzten Wahlen 2010 unterlegen gewesen zu sein. Klitschkos Partei war weit abgeschlagen und auch Timoschenko verlor in der Stichwahl. Die OSZE lobte den damaligen Urnengang laut Spiegel als „vorbildlich demokratisch“. Es sei ein Ergebnis der Revolution von 2004, dass in der Ex-Sowjetrepublik faire und freie Wahlen möglich seien. Janukowitsch hatte oligarchische Züge, aber er war ein frei gewählter Präsident. Die Mehrheit stand hinter ihm. Vermutlich gerade weil er sich als Brücke zwischen Rußland und der EU anbot. Er hat sich schon vor den Wahlen zum einheitlichen Wirtschaftsraum mit Rußland bekannt und gleichzeitig zur politischen Annäherung an die EU.
Im Juni 2013 drückte der frühere US-Botschafter in der Ukraine, Steven Pifer, Verständnis für Janukowitsch aus, er stünde vor einer schwierigen Entscheidung: Weder Kiew noch Brüssel habe einen Plan B für den Fall, dass das Abkommen nicht unterzeichnet würde. Es gäbe in der EU verschiedene Haltungen, Polen unterstütze den Vertrag, während Deutschland, Frankreich und die Niederlande skeptisch seien und auf weitgehende Reformen in der Ukraine bestünden.
Was er nicht erwähnte: Es handelte sich um eine Art Freihandelsabkommen, das wichtige Teile der Regierungskompetenzen dem IWF unterstellt hätte. Schon 2010 hat der Internationale Währungsfond 15 Milliarden Dollar Finanzhilfen ausgesetzt, weil das ukrainische Parlament ein Gesetz zur Anhebung von Mindestlöhnen und Renten verabschiedet hatte. Das heißt dem Parlament würde die Souveränität über den Haushalt weitgehend entzogen und stattdessen eine Sparpolitik aufgezwungen, die griechische Ausmaße annehmen könnte. Das Abkommen war u.a. an der IWF-Forderung gescheitert, die Heizkosten nicht mehr zu subventionieren, sie also zu verdoppeln.
Wie autonom sind frei gewählte Regierungen, das zu tun, was sie für richtig halten? Wo kommen wir hin, wenn eine aktive, gut finanzierte Minderheit bei Missbilligung doch einen Plan B hat und gleich zum Staatsstreich greift? Wenn von Wahlen als Grundlage politischer Macht abgegangen wird? Zumal Janukowitsch bei Ausbruch der Proteste die Opposition zum Dialog an den Runden Tisch gebeten hat. Was der vom Westen nicht nur argumentatorisch ausgestattete Klitschko ablehnte, mit der Begründung, „Kompromisse mit Halsabschneidern und Diktatoren kann es nicht geben“. Diktatoren zeichnen sich gemeinhin gerade dadurch aus, dass sie nicht frei gewählt sind. Bis zur Entscheidung für die stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland gab es keine Massenproteste gegen Janukowitsch, er hatte immerhin eine demokratische Legitimation.
Welche demokratische Legitimation hatte der Maidan? Revolutionäre, die die Errungenschaft der letzten Revolution – freie Wahlen – übern Haufen werfen? Die Verderbnis der Idee durch ihre Verwirklichung? Wer trägt die Verantwortung für die Opfer auf dem Maidan und all die aus diesem Putsch folgenden in der Ostukraine?
In Deutschland werden häufig Abkommen unterzeichnet, die von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt werden – Vorratsdatenspeicherung, Hartz 4, Rente mit 67, Krieg in Afghanistan, Export von Rüstung in Krisengebiete, generell von Uranmunition und Streubomben … Eine gewählte Regierung darf das in der repräsentativen Demokratie. Das ist zweifellos ein Problem dieser Demokratieform, weshalb, nebenbei bemerkt, Rätestrukturen mit an den Wähler gebundenen Mandaten auch Vorzüge haben. (Ich kann hier nur auf mein jüngstes Buch verweisen, in dem ich das Thema ausführlich behandele.)
Wenn das freie Mandat aber, bei dem Abgeordnete und Politiker sich ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet fühlen sollen, in westlichen Demokratien selbstverständlich ist, muss man es auch anderswo akzeptieren. Stoppen kann man einen Kurs dann entweder über ein Misstrauensvotum oder bei den nächsten Wahlen. Nie würde der Westen Selbstermächtigung jenseits der Verfassung akzeptieren. Und dies mit gutem Grund. Es wäre ein Rückfall ins Chaos des Naturrechts. Eine Ablösung des Rechts durch angebliche Moral, die praktischer weise immer der eigenen Deutungshoheit unterliegt. Nein, die Aktivbürger müssen sich zwar mehr Einfluss auf Politik und Gesetze erobern, aber das Konstrukt des Rechtsstaates verteidigen.
Die Abtrennung der Krim war auch ein Verstoß gegen die Ukrainische Verfassung. An die Russland aber nicht gebunden ist. Dass der Ukrainer Chruschtschow der Ukraine die Krim mal eben geschenkt hat, war in der sowjetischen Verfassung auch nicht vorgesehen. Wie viel Rückabwicklung von Geschichte ist legitim? Dass Russland die Krim annektiert habe, sei Propaganda – so der Völkerrechtler Reinhard Merkel in der FAZ: „Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus.“ Russland habe die Krim angenommen, nicht weggenommen. Man mag auch das als Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts bezeichnen.
Der Westen verkörpert die Moderne: Man will keine Territorien, sondern Märkte und Einfluss. Auf der Berliner Mauer prangte 1990 ein Graffito: Das Kapital ist schlauer, Geld ist die Mauer. Man gibt Kredite mit Auflagen, zurück bleiben Konzerne mit Gewinngarantie. Man verteidigt seine Sicherheit in aller Welt, man begreift seine Souveränität als Schutzverantwortung für strategisch und wirtschaftlich interessante Gebiete, zurück bleiben Protektorate, Geheimdienst- und Militärstützpunkte. Allein die USA haben 1000 solcher Stützpunkte auf der ganzen Welt. Camp Bondsteel, einschließlich zugehörigem Gefangenenlager der größte von allen, konnte nach den völkerrechtswidrigen Bomben auf Serbien im Kosovo eingerichtet werden, ohne die dortige Regierung auch nur zu fragen. Der Neokolonialismus braucht keine Territorien. Bezahlte Stadthalter genügen.
Als solcher kann der jetzige Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk gelten. Der Ökonom und Bänker, der verschiedene politische Ämter bekleidete, war schon 2008 durch einen Brief an die Nato aufgefallen, in dem er gemeinsam mit der damaligen Ministerpräsidentin Tymoschenko um Aufnahme bat. Bei der Präsidentschaftswahl 2010 kandidierte er, die Financel Times bezeichnete ihn als Favoriten der Amerikaner. Doch mit 6,7% erhielt er eine Abfuhr. Daraufhin konzentrierte er seine Aktivitäten auf die von ihm gegründete Stiftung Open Ukraine.
Als er nach dem Maidan-Umsturz im halbleeren Parlament die Stimmen zur Wahl zum neuen Ministerpräsidenten knapp verfehlte, aber dennoch amtierte, ging Aufregung durchs Netz. Weil gerade da die website seiner Stiftung abgeschaltet war. Findige Rechercheure holten durch die waybackmachine alles wieder ans Netzlicht. Woraufhin Jazenjuk seine Seite weitgehend wiederbelebte, und jeder auf openukraine.org sich nunmehr selbst ein Bild über seine Finanziers machen kann:
Das sind das US Außenministerium sowie diverse US-amerikanische und britische Stiftungen und Konzerne wie Rockefeller, die EU und die Konrad-Adenauer-Stiftung und schließlich die Nato höchst selbst mit ihrem Nato-Information and Documentation Centre.
Da verwundert es nicht, dass die Kiewer Stiftung sich lange vor dem Maidan auf ihren permanenten Sicherheitskonferenzen und Diskussionsforen ganz dem Thema ökonomische und militärische Annäherung an den Westen gewidmet hat. Dabei schaute dann auch mal ein Generalsekretär der Nato in Kiew vorbei oder man schaltete im November 2013 per Video-Konferenz direkt ins Nato-Hauptquartier. Recht aktiv war auch der deutsche Botschafter in der Ukraine, Christoph Weil, der lange in hohen Nato-Ämtern gearbeitet hatte. Wenn die Assoziierung des EU-Abkommens unterzeichnet sei, würde ein großer Strom ausländischer Investitionen einsetzen, versprach er auf einem Podium der Stiftung. Bereits im Frühjahr 2013, kurz vor dem Besuch einer Swoboda-Delegation bei der NPD, hatte Weil sich mit dem Chef dieser rechtsextremen Partei, Oleg Tjahnybok, getroffen. Wie der offiziellen website der Partei zu entnehmen ist, wurde in dem vertraulichen Gespräch bereits über den Sturz von Janukowitsch gesprochen. Der Faschisten-Chef empfahl dem Westen, die Janukowitsch-Regierung öffentlich zu verdammen und versicherte dem deutschen Botschafter, sein Bestes zu tun, damit das Abkommen unterzeichnet wird. Er hat Wort gehalten.
Wer die Nato so demonstrativ vor die russische Haustür holt, dem kann kaum an Entspannung im europäischen Haus gelegen sein. Der unterstützt das westliche Streben nach Oberhoheit in Eurasien. Der gibt anschaulich Kunde, wie man „Favorit der Amerikaner“ wird.
Das Kalkül von Regimechance ist erstmals bei der serbischen Organisation Otpor (Widerstand) aufgegangen. Bei Wikipedia ist die Otpor-Strategie völlig unverhüllt nachzulesen, ein Muster, das auch andere Quellen, wie Dokumentationen der Tagesschau oder des ORF bestätigen:
Die Finanzierung von Otpor ähnelt der von Jazenjuks Stiftung sehr, die Dachorganisation ist das Committee on the Present Danger, eine US-amerikanische Einrichtung zur Vorbereitung und Lenkung von Umsturzaktionen vornehmlich im früheren sowjetischen Machtbereich, deren Vorsitzender der frühere CIA-Direktor James Woolsey ist. Die Aufgabe von Otpor besteht darin, durch gut organisierte «friedliche Revolutionen» antiwestliche Regierungen durch prowestliche zu ersetzen.
Dabei sind folgende Schritte vorgesehen: spektakuläre «Widerstandsaktionen», über die im westlichen Ausland berichtet wird, insbesondere das Besetzen von zentralen Plätzen und öffentlichen Gebäuden, das Einführen von Symbolen. Der Arbeitsschwerpunkt liegt vor Wahlen: Auslandsmedien sensibilisieren für eine Deutungshoheit, bei der Behinderung der Opposition im Wahlkampf und zu erwartende Manipulation grundsätzlich unterstellt werden. Am Wahlabend sind Proteste medial wirksam zu organisieren, politischer Druck aus dem Ausland führt zu Neuwahlen, bei denen die vom Westen bezahlte Opposition die Regierung übernimmt.
Folgerichtig ist Otpor bei den Wahlen 2003 selbst als Partei angetreten. Mit 1,6 Prozent der Stimmen hielt sich seine demokratische Legitimation jedoch in Grenzen.
Diese Methoden zu schildern, heißt nicht: Seht, seht, der Westen ist auch nicht besser. Das wäre wenig tröstlich. Angesichts der schwer erträglichen Einseitigkeit unserer Großmedien ist es allerdings unerlässlich, auf Gegenargumente zu verweisen und sich so ein differenziertes Bild zu bewahren. Die mit dem eigenen Lager sympathisierenden Aufständigen als freiheitliche Demokraten, ja Helden zu bezeichnen, die dem anderen Lager zugeneigten als selbsternannte Herrscher, ja Terroristen, hat kaum noch propagandistischen Wert.
Einzige Grundlage politischer Macht sollten freie Wahlen und durch Referenden legitimierte Abstimmungen und Verfassungen sein