Montagsdemo Stuttgart

Rede am 12.5.14

Ihr/Euer beharrliches, bürgerschaftliches Engagement fordert mir, als Berlinerin, viel Respekt ab. Ich danke für die Einladung, hier sprechen zu dürfen. Ich weiß, wie schwer es ist, sich über Monate, ja Jahre, seine Motivation zur Einmischung in die eigenen Angelegenheiten nicht beschädigen oder nehmen zu lassen. Deshalb ist es mir wichtig zu sagen: Auch in der Hauptstadt schaut man auf Stuttgart. Es ist bewundernswert und einmalig im Lande, wie viel Kraft, Zeit, Sachkenntnis und Ausdauer hier von einem Teil der Einwohner  aufgebracht wird, um ihre Stadt lebens- und liebenswert zu erhalten. Und wir erfahren dabei: Man kann die Probleme eines lokalen Großprojektes nicht lösen, ohne grundsätzliche Fragen zu stellen:

– Wer hat wie viel zu sagen?
– Wem gehört was?
– Wer bekommt welche Informationen?
– Wessen Interessen vertreten die Medien?
– Wie organisiert man einen Volksentscheid, der nicht auf Desinformation und Neid-Debatten beruht und daher zu einer Entscheidung führt, deren Legitimität anerkannt werden kann?

Heute wird der Bürger im offiziellen Sprachgebrauch gern auf den Steuerzahler reduziert – das ist die einzige Aktivität, die der Staat von ihm erwartet. Dabei wäre es konsequent, würde man erst als gelegentlicher Steuerverweigerer zum Bürger. An politischen, auch lokalpolitischen Gründen mangelt es nicht. Immerhin haben wir das wachsende Heer von Wutbürgern.

Zurzeit erlebt man sie im Aufstand der Leser und Zuschauer gegen die einseitige, z.T. desinformierende und verbal aufgerüstete Berichterstattung der Leitmedien zum Thema Ukraine. In den Leserbriefen, Chats der großen Zeitungen, aber auch öffentlich-rechtlichen Sender, sind die verärgerten, oft sachkundigeren Kommentare der Leser und Zuschauer überraschendes Zeugnis dieser Empörung. Dass wir als Medienkonsumenten nicht mehr nur der veröffentlichten, sozusagen amtlichen Meinung ausgesetzt sind, verdanken wir der ähnlich beharrlichen Arbeit von Leuten, die in kleinen Medien, gerade auch im Netz, für Gegenöffentlichkeit sorgen. Diese Neben- oder Gegenöffentlichkeit wird immer wichtiger für die Aktivbürgerschaft.

 

Für diese Aktivbürger gibt es viele ermutigende Beispiele im In- und Ausland. Stuttgart 21 ist eines der wichtigsten. Gerade weil Sieg und Niederlage noch nicht entschieden sind. Nicht selten kommt ja die Niederlage erst nach dem Sieg. Sieg kippt in Niederlage und Niederlage in Sieg. Deshalb  braucht Ihr, brauchen Sie, vermutlich auch selbst Ermutigung. Ich erlaube mir daher, von zwei Beispielen zu erzählen, bei denen ich meine Batterien auftanken konnte:
Zu der einen Erfahrung hat mir das Weltsozialforum verholfen. Wofür hat das brasilianische Porto Alegre 1996 von der UNO den Titel Welthauptstadt der Demokratie verliehen bekommen? Die bankrotte Stadt hatte als erste mit einer Linkskoalition erfolgreich einen Bürgerhaushalt eingeführt. Tausende Bewohner wurden in Haushaltsrecht und Moderation von Versammlungen qualifiziert, um in den 17 Stadtteilen regelmäßig Bürgerversammlungen durchzuführen. Es geht um Stadtentwicklung, Verkehr, Tourismus, Kultur, Bildung, Gesundheit – eigentlich alles. Die Verbindlichkeit der Vorschläge ist sehr hoch, sodass es eine De-facto-Entscheidungskompetenz gegenüber der Gemeinde gibt. Schon bald erhöhte sich die Zahl der Häuser mit Anschluss an die Trink- und Abwasserleitung von 46 auf 84 Prozent. Mit dem sichtbaren Erfolg stieg das Interesse der Bewohner an ihrer Kommune, auch unter den Ärmeren. Inzwischen sind mehr als hunderttausend Bürger einbezogen. Porto Alegre hat die höchste Alphabetisierungsrate in Brasilien, und der Lebensstandard liegt über dem anderer Städte des Landes. Und schließlich haben Bürger der Stadt eben das Weltsozialforum gegründet.

Die Idee des Bürgerhaushaltes hat weltweit Nachahmung gefunden, in Deutschland zunächst in Berlin-Lichtenberg, dann in vielen anderen Städten. Das zweite Beispiel, von dem ich berichten möchte, kommt daher aus Berlin. Es dürfte für Sie deshalb interessant sein, weil auch hier Sieg oder Niederlage noch nicht entschieden ist.

2006 hat der rot-rote Senat durch eine Verfassungsänderung die Volksgesetzgebung als Instrument der direkten Demokratie gestärkt und sie der Parlamentsgesetzgebung gleichgestellt. Nicht faul, hat sich bald, in Anlehnung an den Runden Tisch, der Berliner Wassertisch gegründet. Er hat gegen die Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe ein Volksbegehren ins Leben gerufen. Denn die Hauptstädter waren wütend über die unverhältnismäßigen Preissteigerungen. Und die geheim gehaltenen Gewinngarantien an das Unternehmen. Es war durchgesickert, dass den privaten Teilhabern der Berliner Wasserbetriebe vertraglich eine jährliche Rendite zwischen 11 und 13 Prozent garantiert wurde. Was bei einem Monopolbetrieb mit Anschluss- und Nutzungszwang eine Lizenz zum Gelddrucken bedeutet. Präziser gesagt zum Geldklauen, denn gedruckt wird es ja nicht, sondern aus den Taschen der Verbraucher gefischt.
666000 Unterschriften verlangten: «Schluss mit Geheimverträgen – wir Berliner wollen unser Wasser zurück.»

Der Senat erklärte den Gesetzentwurf des Volksbegehrens für unzulässig, dem widersprach das Landesverfassungsgericht. Ein Gutachten des Bundeskartellamtes bestätigte, dass im Vergleich zu anderen Großstädten der Wasserpreis und die Gewinne daraus weit überhöht seien. In der überregionalen und selbst Berliner Presse fand man dazu herzlich wenig, die zeigte sich staatstragend und boykottierte die Aktivbürger.
Doch schließlich war der Jubel unter den Berlinern groß: Das erste vom Volk formulierte Gesetz in der Geschichte der Bundesrepublik musste im Februar 2011 verabschiedet werden. „Das Volk von Berlin hat beschlossen“, stand darüber. (Wer weiß, vielleicht haben wir eines Tages ein Gesetz, über dem steht: Das Volk von Stuttgart hat beschlossen!)  Das Berliner Gesetz verlangte die Offenlegung und Änderung der Verträge.
Berlins Weg zur Hauptstadt der Basis-Demokratie scheint jedoch auch von den besser organisierten Kräften der Gegenseite verbaut. Drei Jahre später zieht der Wassertisch ernüchtert Bilanz: Zwar hat der Senat unter dem öffentlichen Druck im Oktober vorigen Jahres privatisierte Anteile verlustreich, über Kredite zurückgekauft. Die Wasserpreise wurden für die nächsten vier Jahre um 8% gesenkt. Dennoch hat die Mehrheit der Großen Koalition im Abgeordnetenhaus das Gesetz in die Sackgasse gefahren. Das konnten sie, weil wir alle noch Anfänger in der Basisdemokratie sind. Dagegen wissen die Profis im Abgeordnetenhaus, dass es nicht nur auf das Gesetz ankommt, sondern mindestens so wichtig ist die Durchführungsbestimmung. Dem Volksgesetz war keine Volksverordnung gefolgt. Dort hätten all die Fragen beantwortet werden müssen, die ich eingangs gestellt habe: Wer entscheidet, wie wird es gemacht, wer informiert, wer kontrolliert?

Diese Kompetenzen haben die Profis im Abgeordnetenhaus wieder an sich gerissen, und auch die Opposition von Grünen, Linken und Piraten haben sie dabei gewähren lassen und die Bürgerinitiative bis heute nicht hinreichend unterstützt. Auch so ein Beispiel: Auf die Parteien allein sollte man sich in wichtigen Angelegenheiten nicht verlassen.
Die Initiatoren haben weder Einfluss darauf, ob und wie ihr Gesetz umgesetzt wird, noch haben sie ein Klagerecht. So konnte der neue Finanzsenator Gesetzeslücken finden, mit denen er vorerst das Volksgesetz zur Farce gemacht hat. (Obwohl das Landesverfassungsgericht darauf verwiesen hatte, dass Wasser zur Daseinsvorsorge gehört und sich das Land daher nicht aus dem öffentlichen Recht verabschieden darf, ist das Shareholder-Agreement über die Renditen geheim geblieben, weil es sich mit den Unternehmen um privatrechtliche Verträge handelt, die das Land offenbar als höheres Rechtsgut ansieht. Wie schon beim Bankenskandal berief sich der Senat auf seine Schweigepflicht.)

So wird der im Gesetz vorgesehene Kundenbeirat nun von den Wasserbetrieben selbst ausgesucht und hat nur beratende Funktion. Ob dem Rat gefolgt wird, hängt von der Kulanz des Betriebes ab.

Wir hätten unser Gesetz auch «wasserdichter» formulieren können, meinen die Vertrauensleute, aber schließlich hätten sie zum ersten Mal im Leben eine Volksabstimmung durchgesetzt. Jetzt fordern sie: Wir wollen keinen Beirat, sondern Mitbestimmung. In einer ähnlichen Initiative in Paris ist das bereits so. Beide Initiativen haben sich vernetzt und profitieren davon. Und ich bin befugt zu sagen: Aktivisten vom Berliner Wassertisch würden ihre Erfahrungen auch gern mit den Aktivisten von Stuttgart 21 austauschen. (Dr. Hermann Wollner, ehewol@arcor.de).

Die Erfahrungen scheinen mir nicht gleich, aber durchaus ähnlich. Inzwischen gibt es in Berlin auch einen S-Bahn-Tisch gegen Privatisierung und einen Energie-Tisch … Und überall geht es um die Frage: Wieso dürfen gewählte Volksvertreter eigentlich mit öffentlichem Eigentum umgehen, als gehöre es ihnen?

Ich habe dazu eine interessante Entdeckung gemacht, die ich in meinem letzten Buch beschreibe: Die Abgeordneten haben tatsächlich die alleinige Verfügung darüber. Weil uns als Bürgern das sogenannte Öffentliche Eigentum tatsächlich nicht gehört. Ob Staatseigentum, Kommunales Eigentum oder Öffentliches Eigentum – juristisch gesehen ist das alles Privateigentum der Juristischen Person Staat. Staatseigentum oder Kommunaleigentum ist nicht Gemeineigentum,  eher das Gegenteil davon. Gemeineigentum, wo z.B. das Wasser tatsächlich allen Anwohnern gehören würde, ist zwar im Grundgesetzt auch vorgesehen, hat es aber in der Praxis nie gegeben.
Um dahin zu gelangen, bedürfte es wiederum einer Volksgesetzgebung mit dazugehöriger Durchführungsbestimmung.
Das sind ziemlich komplizierte Fragen, die wir hier auf dem Marktplatz nicht lösen werden. Vielleicht mag die eine oder der andere von Ihnen morgen zu meiner Buchlesung zu den Stuttgarter Anstiftern kommen. Da wird es darum gehen. Ich würde mich auch deshalb darüber freuen, weil ich selbst von der bekannten Sachkompetenz der Stuttgart 21ér lernen möchte und die Erkenntnisse mit meinen bescheidenen Mitteln dann in Berlin weiter gebe. Schließlich ist Sachkenntnis die Grundlage von Basisdemokratie. Gerade auch in dieser Hinsicht ist Ihre Initiative bewunderungswürdig und ich hoffe und wünsche, dass Ihr sachliches Wissen und Ihr Beharrungsvermögen schließlich doch noch der Vernunft zum Erfolg verhelfen werden. Lassen wir uns gemeinsam unser Recht auf Einmischung in die eigenen Angelegenheiten, also auf Selbstermächtigung, nicht mehr nehmen.