Nationaltheater Weimar: Emanzipiert Euch!

Über die Selbstermächtigung der Bürger – vom Widerspruch zwischen Notwendigem und Machbaren

 

Der Sonntag Vormittag ist auch im säkularisierten Umfeld meist noch eine arbeitsfreie Zeit der Erbauung und Besinnung geblieben. Da mag die schroffe Aufforderung: Emanzipiert Euch!, wie ein unsanfter Weckruf in Sie fahren. Sich emanzipieren heißt, sich anstrengen. Wollen Sie das überhaupt? Allein der Umstand, dass Sie sich gesputet haben, um pünktlich hier zu sein, lässt eine gewisse Bereitschaft vermuten. „Man muss das Außerordentliche wollen, um etwas Ordentliches zuwege zu bringen“ – wo, wenn nicht in diesem Haus dürfte man hemmungslos und ungeniert Goethe zitieren? Wollen wir Außerordentliches? Selbstermächtigung, mit Verlaub, wozu eigentlich? Der Begriff ist abgeleitet von Empowerment und beschreibt eine sich von den USA ausbreitende Protesthaltung gegen die Institutionen der Machthierarchie, die zu einer fortschreitenden Entmündigung der Bürger führen. Es geht um kritisch-bürgerliches Engagement als moderne Variante des Ehrenamtes. Autonomie soll nicht nur formuliert, sondern auch umgesetzt werden. Werden Sie pragmatische Vorschläge erwarten, mit deren Umsetzung Sie morgen beginnen und an einem absehbaren Übermorgen zum Erfolg kommen können? Werden Sie nicht unzufrieden von dannen ziehen, wenn ich mit Verweis auf die Geschichte daran erinnere, dass Selbstbestimmung ein grundstürzender und deshalb langwieriger und auch riskanter Prozess ist? Was könnte das Risiko besser illustrieren als dieses autoritätsgeladene Theater, das sich den Humanitätsidealen der Klassik verpflichtet fühlt. Auch deshalb tagte 1919 in diesem Haus ein halbes Jahr lang die Deutsche Nationalversammlung, um eine neue Verfassung zu erarbeiten. Daran müsste ich die Weimarer nicht erinnern, wenn es nicht so gut zum Thema passen würde. Denn in dieser Konstitution, die vieles aus der Paulskirchen-Verfassung von 1848 übernommen hatte, hieß es schon: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Volksentscheide und Volksbegehren zu Gesetzentwürfen waren unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehen. Es gab in der Weimarer Republik zwei sinnvolle Versuche von links und einen weniger sinnvollen von rechts, davon Gebrauch zu machen, die aber alle nicht die erforderlichen Mehrheiten erhielten. Kein Grund also, nachträglich über „bittere Erfahrungen“ mit der jungen Basisdemokratie zu reden. Ja sogar über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen hätte der Reichspräsident das Volk abstimmen lassen können. Dazu ist es freilich nie gekommen. Auch nicht dazu, die „Grenzen der wirtschaftlichen Freiheit“ an der „Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ zu setzen. Wucher war verboten, Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstießen, sollten nichtig sein. Auch damals schon hieß es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.“ Dazu wären „alle Bodenschätze und alle wirtschaftlich nutzbaren Naturkräfte“, sowie „für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmen in Gemeineigentum“ zu überführen gewesen. Die bürgerlichen Freiheiten sollten bei all dem selbstverständlich gewährleistet sein. Diese republikanische Verfassung war gegenüber dem Kaiserreich nach dem Ende des 1. Weltkrieges zweifellos ein Akt der Emanzipation. Der hielt nicht lange vor, aus Gründen, die immer wieder kontrovers diskutiert wurden. In den 20er Jahren klammerten sich auch in diesem Haus viele Künstler an die Hoffnung, Kunst und Kultur werde den Trend der deutschen Gesellschaft nach rechts aufhalten und schließlich verhindern. Am Scheitern der Weimarer Republik hatten die kritischen Autoren aus der Sicht etwa eines Kurt Tucholskys ihren Anteil – nicht weil sie zu viel, sondern weil sie zu wenig Wirkung hatten. Diese Stadt kennt die räumliche Nähe von Menschlichkeit und Niedertracht, von Kultur und Barbarei wie kaum eine andere. Die von Jorge Semprun beschriebene Goethe-Eiche stand nur wenige Kilometer entfernt. 1926 hat sich die NSDAP ausgerechnet dieses Theater erkoren, um den ersten Reichsparteitag nach der folgenschweren Aufhebung des Verbots der Partei abzuhalten. Seit dem Herbst 1944 wurde das einst zur Produktion geistigen Rüstzeugs bestimmte Haus restlos zweckentfremde eine Rüstungsfabrik zog ein. Folgerichtig wurde es später bombardiert, bis nur noch die Fassaden standen. Das Theater, schon 1948 wieder eröffnet, mit Faust. Ein Jahr später erinnert in diesem Haus Thomas Mann in seiner berühmten Rede an den Augenblick, den Faust seinen höchsten nennt: wo der Mensch „auf freiem Grund mit freiem Volke steht“. Der immer noch im Exil Lebende verwahrt sich gegen Stimmen, die Goethe unterstellten, die bittere Ironie der Schlussszenen sei Verhöhnung der Tat, nie sei es dem Dichter ernst gewesen mit Fausts „Sozialwerk der Menschenbeglückung“. Vielmehr, so Mann an diesem Ort, sei Goethes ganzes Alterswerk voll von sozialer Utopie, es sei ihm von Herzen ernst gewesen, mit dem „höchsten Augenblick“. Gerade diese Wendung der Dichtung mache „Faust“ zur Tragödie. Sie zeigt „die Verderbnis der Idee durch ihre Verwirklichung, die fundamentale Tragik des Menschenlebens.“ Sich all das bewusst machend, ist es geboten, auch die Idee der Emanzipation behutsam und mit der nötigen Demut anzugehen, sich von der Bürde der historischen Niederlagen aber auch nicht lähmen zu lassen. „Es gilt im Grunde doch nur: vorwärts!“, ermutigt uns der Genius dieser Stadt. Also nochmals gefragt – Emanzipation wovon? Lassen Sie mich den ersten Teil meiner Rede dieser Frage widmen. Wobei ich nicht ausschließen kann, dass einem angesichts der Dimensionen ein wenig schwindlig wird. Wenn ich im zweiten Teil das Wie betrachte, verspreche ich wieder Boden unter den Füßen, wenn auch heißen. Nicht auszuschließen natürlich auch, dass sich jeder von uns von etwas anderem emanzipieren will. Lassen Sie mich die Zustände benennen, deren Veränderung für mich notwendige Voraussetzung von Selbstermächtigung sein würden. Zum Glück ist man mit solchen Analysen ja nicht allein. Auch die Veranstalter dieser Reihe haben uns mit der Zuspitzung des berühmten Titels von Stéphane Hessel auf die Spur gebracht: Das Motiv des Widerstandes ist Empörung, schrieb der Veteran der Résistance und Mitverfasser der UN-Menschenrechtscharta – das inhaltlich und sprachlich anrührendste Vertragswerk im Völkerrecht. Haben wir denn Grund zu Empörung, geht es uns nicht gut? Gemessen an dem, was erwirtschaftet wird, könnte es deutlich besser sein. Da gibt es dreiste Zugriffe. Zur Zeit wächst eine Welle von Empörung, um die geheimen Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU, TTIP. Fast eine halbe Million Menschen haben sich schon der Protest-Petition auf CAMPACT angeschlossen. Gerade hat Obama beschwichtigt. Doch die Versprechen von Wachstum und neuen Jobs könnten genauso haltlos sein, wie bei den bisherigen Freihandelsabkommen CETA, NAFTA, CAFTA. Wenn jetzt nicht aufgepasst wird, könnte das Interessengefüge radikal zugunsten der Konzerne verschoben werden. Es geht um viel Geld. Die Konzerne maßen sich an, ihre Gewinnerwartungen für die nächsten Jahre zu einem geheiligten Besitzstand zu erheben. Am Gemeinwohl orientierte Gesetze haben diesen gefälligst nicht zu schmälern. Die Staaten, und damit ihre Bürger, sollen haften für Investitionsrisiken, die nun mal zum freien Unternehmertum gehören. Wer den Konzernen ihr Risiko derart abnehmen soll, müsste als Gegenleistung am Gewinn beteiligt werden. Stattdessen wird er an den Verlusten beteiligt, nein, er soll sie voll übernehmen. Wer angesichts solcher Praktiken nicht zum Radikaldemokraten wird, hat offenbar viel Geld zu verschenken. Einmal beschlossen, wäre das Abkommen praktisch unumkehrbar, da jeder Änderung alle Vertragspartner zustimmen müssten – auch die, die von den Gewinngarantien profitieren. Lori Wallach, Chefin der weltweiten VerbraucherSchutzorganisation „Public Citizen“, spricht von der größten Unterwerfung der Teilnehmerstaaten unter die Interessen von Konzernen, von einem „Staatsstreich in Zeitlupe“. Offenbar ohnmächtig müssen wir zusehen, wie unsere angeblichen Vertreter ihr Erstbestimmungsrecht für ein Linsengericht verkaufen. Erinnern Sie sich noch an die weltweite Kampagne gegen das Multilateral Agreement on Investment, kurz MAI, vor 15 Jahren? Damals schien ein wichtiger Teil der fortschreitenden Globalisierung der Finanzmacht am Souverän gescheitert. Doch die Investoren haben keine Ruhe gegeben, genauer gesagt haben sie ganz in Ruhe, im Stillen und Geheimen unter dem Schutz des Schiedsgerichtes der Weltbank hunderte bilaterale Investitionsschutzabkommen durchgesetzt. Um Investoren, diese angeblichen Heilsbringer, anzulocken, haben die Staaten den Konzernen ein Klagerecht eingeräumt. 98 Prozent dieser, einem postkolonialen Rechtssystems entspringenden, Klagen treffen Entwicklungsländer. Uruguay hat eine Klage des Tabak-Konzern Philipp Morris am Hals, wegen eines Gesetzes, das eine Warnung vor den Folgen des Rauchens auf Marlboro-Schachteln zur Pflicht macht. Ecuador muss an den US-Konzern Occidental 1,8 Milliarden Dollar Entschädigung zahlen, da es sich erlaubt hat, die Ölförderverträge zu kündigen und seine Vorkommen zu verstaatlichen. Und Ägypten wird gar wegen der Einführung eines Mindestlohnes von internationalen Konzernen verklagt. Von denen also, die die Menschen auf dem Tahir-Platz zu Reformen ermunterten. Menschen, die nicht wussten, dass Reform zum Synonym für Privatisierung und Sozialabbau geworden ist. Nur langsam wagen die Konzerne, sich auch gegen führende Industriestaaten zu wenden. Wegen des Atomausstieges verklagt Vattenfall die Bundesrepublik, und damit ihre Bürger, vor diesem außergerichtlichen Tribunal, das den Rechtsstaat außer Kraft setzt, aber akzeptiert werden muss, auf etwa 4 Milliarden Euro Entschädigung. Als hätte die Atombranche nach Fukushima nicht allen Grund, einsichtig und kleinlaut zu sein. Vattenfall verdient auch mit Strom, Gas und Wind noch genug. Kanada wird von Konzernen wegen eines Moratoriums gegen das ökologisch fragwürdige Fracking angegriffen. All die weltweiten Freihandelsabkommen sind neoliberale Daumenschrauben, die für unverbindliche Versprechen den Konzernen erlauben, in die Gesetzgebung der Staaten einzugreifen. Oft genügen schon Klageandrohungen, um die Forderungen der Unternehmen durchzusetzen. Denn bei einem Stundensatz von 1000 € pro Kopf der kleinen Gruppe zuständiger Juristen, die mal als Anwalt, mal als Schiedssprecher fungieren, und die ein persönliches, materielles Interesse an einer investorenfreundlichen Rechtsprechung haben, kann man sich seine Chancen ausrechnen. Die Schiedsverfahren sind vertraulich, die Öffentlichkeit erfährt nichts. Selbst die Abgeordneten haben keinen Einblick in die Originalakten. In der Geheimschutzstelle des Bundestages liegen knappe Zusammenfassungen aus, über die Stillschweigen zu bewahren ist. Mit dieser Praxis wird die Gewaltenteilung, Grundpfeiler jeder Demokratie, weitgehend außer Kraft gesetzt. Legislative, Exekutive, Medien, werden immer käuflicher. Und die Judikative hat dann die Aufgabe, die Einhaltung der gekauften Urteile zu kontrollieren. Konzerne enteignen Staaten. Das war, nicht nur in diesem Hause, einmal umgekehrt gedacht. Stéphane Hessel ließ keinen Zweifel daran, worüber er, im biblischen Alter von 93 Jahren, so empört war: über die „internationale Diktatur der Finanzmärkte, die Frieden und Demokratie bedrohen“. Er und seine Mitstreiter wollten keine Gesellschaft, in der die Medien in den Händen der Reichen und Einflussreichen sind und entsprechend missbraucht werden. Er wollte weg von der „unkontrollierten Freiheit eines Fuchses im Hühnerstall“. Für ihn galt: Widerstand ist Schöpfung, nämlich die „Abschaffung des wirtschaftlichen und finanziellen Feudalismus“ zugunsten des Gemeinwohls. Höre ich da Stimmen, die meinen, diese Utopie sei längst verwirklicht, es ginge uns doch gut? Vielleicht sind wir ja alle mit mehr oder weniger Anteilen beteiligt, an den fünf Billionen Euro private Geldvermögen in diesem Land. Doch selbst dann sollte es uns nicht gut gehen bei dem Gedanken, dass Gewinne auf der einen Seite ausnahmslos immer mit Verlusten auf der anderen bezahlt werden: Acht Millionen Menschen arbeiten für Niedriglöhne, jeder 4. Beschäftigte hat einen prekären Job, die Hälfte aller neuen Verträge, gerade auch von Akademikern, ist befristet, so dass eine Lebensplanung nicht möglich ist. Jeder 10. mit regulärer Arbeit geht einem Zweitjob nach. Und all das führt dazu, dass 13 Millionen deutsche Staatsbürger von Armut bedroht sind. Sie können sich schon jetzt bestimmte medizinische Behandlungen nicht mehr leisten. Dass all diese Millionen nicht auf den Straßen revoltieren, ist auch ein Indiz für den Disziplinierungsdruck, der in der Arbeitswelt herrscht. Bloß nicht als unbequem auffallen, sich wegducken, solange es geht. Wenn man raus ist, dann ist es allerdings zu spät, dann ist man nicht einmal mehr wert, ausgepowert zu werden, dann ist man aussortiert und geht schon aus Scham nicht auf die Straße.

Jeder ist als Individuum für den Zustand der Ungerechtigkeit mit verantwortlich. Deshalb, so Camus, ist die permanente Revolte eine der wesentlichen Dimensionen des Menschen. Und diese Revolte beginnt immer im Kopf. Bei dem Versuch, seine Lage zu erkennen. Wir sind noch immer bei der Überlegung, wie wir zu mehr Mündigkeit kommen. Sicher, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Aber sie kehrt nie zu ihm zurück. Mir ist im Laufe der Jahre immer klarer geworden, dass wir in einer Demokratie leben, in der der angebliche Souverän kaum noch etwas zu sagen hat. Das Volk hat die Macht an seine Vertreter verloren – und die Politiker haben sie freiwillig durchgereicht an das große Kapital. Die repräsentative Demokratie leidet an der strukturellen Unfähigkeit, das Primat der Wirtschaft zu verhindern. Unser System ist nicht in der Lage, die Auswüchse des Kapitalismus wirkmächtig zu bremsen, weil es an Rechtsdefiziten krankt, die dem Staat zum Wohle seiner Diener erlaubt, die Vermögenden zu begünstigen und die Macht in sehr wenigen Händen zu konzentrieren. Wahlversprechen haben ein kurzes Verfallsdatum, der Wähler hat dagegen kein Mittel, als einen anderen Versprechens-Brecher zu wählen. Vielleicht gar einen Versprechens-Verbrecher? Auf die entscheidenden Fragen wie EUVerfassung, Bankenaufsicht, Geheimdienstaufsicht oder Krieg und Frieden, hat jenseits des engen Machtzirkels kaum jemand Einfluss. Daher ja die Wutbürger. Doch letztlich bleibt alles beim Alten, das System schüttelt alles ab. Stimmen aus dem Zentrum der Macht, sind kaum zu widerlegen. US-Präsident Theodore Roosevelt kam 1906, im Jahr, in dem er den Friedensnobelpreis erhielt, zu dem Schluss: „Hinter dem, was wir für die Regierung halten, thront im Verborgenen eine Regierung ohne jede Bindung an und ohne jede Verantwortung für das Volk. Die Vernichtung dieser unsichtbaren Regierung und Zerschlagung der unheiligen Allianz von korrupter Wirtschaft und korrupter Politik ist die entscheidende politische Herausforderung dieser Zeit.“ Dieser Zeit – 1906. Als er drei Jahre später aus dem Amt schied, war er der von ihm erkannten Herausforderung keinen Schritt näher gekommen. Und nach ihm kein anderer Präsident. 100 Jahre später war es US-Vize-Präsident Al-Gore, der sich genötigt sah, mit Verweis auf dieses Roosevelt-Zitat die anhaltende Kluft zwischen den Herrschenden und dem Volk zu geißeln. Der Einblick in die Trägheit der Geschichte kann einen schon entmutigen. Sich von diesem Klüngel zu emanzipieren, wäre höchst notwendig. Aber ist es machbar? Es gibt Ansätze in Einzelfällen. Die EU-Kommission musste aufgrund öffentlichen Drucks die europaweiten Pläne zur Privatisierung von Wasser vorerst fallen lassen. Doch wenn der Druck nachlässt, werden sie in irgendeiner Vertragsfußnote wieder auftauchen. Eine wirkliche Emanzipation sähe anders aus. Die angeblich so undurchschaubare, da komplexe internationale Vernetzung, ist im Wesentlichen eine rechtliche Zementierung der Konzernherrschaft. Gesetze und Verträge sind aber durchschaubar, wenn einsehbar. Das Geschäftsgeheimnis zwischen Unternehmen und Staaten muss in modernen Demokratien da seine Grenze finden, wo die Bürger durch Unkenntnis übervorteilt und hinters Licht geführt werden können. Wenn etwas ein Geheimnis sein darf, dann das Leben, nicht der Vertrag. Die Finanzkrise hat ihren Ursprung in einer tiefen anthropologischen Krise, nämlich der Leugnung des Vorrangs des Menschen, beklagte Papst Franziskus unlängst. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs habe ihre erbarmungsloseste Form gefunden in der „Diktatur einer Wirtschaft ohne ein wirklich menschliches Ziel“. „Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann“. Die Ausgeschlossenen seien nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll. „Diese Wirtschaft tötet“, so sein Verdikt. Dass man sich keine bessere Zukunft erwarten könne, läge allein an den ungerechten Strukturen der Gesellschaft selbst. Immer wieder die Schlüsselbegriffe: Diktatur und Strukturen. In der Empörung darüber scheint es in der Welt allerdings mehrere Geschwindigkeiten zu geben. Viele Menschen in den unter- oder weniger entwickelten Ländern wünschen sich nichts sehnlicher, als unsere Sorgen zu haben. Sie sehen unsere gläsernen Konsumpaläste, die, gemessen an ihren Erfahrungen, guten Universitäten und funktionierenden Krankenhäuser. Selbst unser angeschlagenes Sozialsystem bleibt für sie nur ein Traum. Dass unser Glanz auch mit ihrem Elend erkauft ist, können oder wollen viele nicht zur Kenntnis nehmen. Wo Profimaximierung der herrschende Gott ist, ist Wohlstand für alle jedoch schlicht nicht vorgesehen. Ohne Minimierung, keine Maximierung. Die Kapitalismuskritik hat mit der Finanzkrise immerhin auch die sogenannten Eliten ergriffen, seit sie sich selbst gefährdet sehen. Diese Kritik gipfelt allerdings meist in dem Appell, sich doch wieder auf die WirtschaftswunderZeiten der sozialen Marktwirtschat zu besinnen, die doch bewiesen hätten, dass Kapitalismus auch funktionieren könne. Diese Westalgie übersieht, dass auch in jener Zeit die Dritte Welt von diesem Beweis ausgeschlossen war. Und dass der sogenannten ersten Welt eine selten so genannte zweite Welt gegenüber stand, deren pure Existenz das Kapital gezwungen hat, ein für breite Schichten attraktives Gesellschaftsmodell anzubieten. Die Angst vor einer Ordnung, bei der Enteignung und Gemeineigentum Programm ist, war der einzige Zügel, der das Kapital je bremsen konnte. Bislang ist niemand zu erkennen, der in der Lage wäre, ein gerechtes Wirtschaftssystem zu etablieren. Solange das so ist, ist der Glaube, die Bedingungen für eine soziale Marktwirtschaft seien rückholbar, naiv und gefährlich. Das Kapital wird, womöglich zu seinem eigenen Bedauern, zunehmend immun gegen demokratische Einmischung. Stattdessen sieht es sich gezwungen, seine Verwertungsbedingungen zu optimieren, also soziale und ökologische Standards weltweit zu minimieren. Das begünstigt den Rechtsextremismus, wie sich besorgniserregend ankündigt. Selbst nach Ansicht des einstigen Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde krankt der Kapitalismus nicht nur, sondern offenbart «seinen inhumanen Charakter». Das Gebrechen des Kapitalismus sei nicht in seinen Auswüchsen zu sehen, sondern in seiner Leitidee und deren systembildender Kraft. Deshalb, so Böckenförde in der Süddeutschen Zeitung (24.4.09), könne die Krankheit auch nicht mit Heilmitteln am Rand beseitigt werden, sondern „nur mit Umkehrung des Ausgangspunktes“. Wenn die Leitidee eines Systems umgekehrt wird, kann am Ende nur ein anderes herauskommen. Umkehr. Wende. Change. Regime Change? Auszusprechen, was das bedeuten könnte, verkneift sich der Verfassungsrichter ade. Vor der letzten Denkkonsequenz schrecken die meisten zurück: Der Kapitalismus kann nur überleben, wenn er aufhört, er selbst zu sein. Aber er hat zweifellos nicht die Absicht aufzuhören und von sich aus auch keinen Grund, denn er hat die Wohlhabenden an seiner Seite – Recht und Staat haben die Aufgabe, die verfehlte Funktionslogik in Gang zu halten. Es gilt sich von der Diktatur kapitalistischer Zwänge zu emanzipieren Recht und Staat müssen umgekehrt werden um eine echte Demokratie zu errichten. Einen anderen Schluss lässt die logische Vernunft des bisher Gesagten nicht zu. Das ist die vielleicht nicht überraschende, aber auch nicht übertriebene Antwort auf die Frage, wozu Selbstermächtigung nötig ist. Dieses Wir steht für so oder ähnlich Denkende, deren Leiden an der Gesellschaft sie zu Suchenden macht, im Besitz von Veränderungswillen, nicht von Wahrheit. Irrtümer, Fehler – eine Gewinngarantie ist unsereinem nicht vergönnt. Möge sich niemand vereinnahmt fühlen, von diesem Wagemut, sich aber auch nicht der Illusion hingeben, durch bloßes Zurücklehnen werde man schon durchkommen. „Man schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns nicht“, warnte Goethe. Allein die Bereitschaft, einem ungewohnten Gedankengang bis zum Ende zu folgen, nötigt mir Respekt ab.

Damit komme ich wie angekündigt im zweiten Teil zu der Frage, wie die Emanzipation von den inhumanen kapitalistischen Zwängen geschehen könnte. Gibt es überhaupt demokratische Mittel, welche wären mehrheitsfähig, zweckmäßig, legal und legitim? Ist, was notwendig, also vernünftig, auch machbar? Für unseren Weimarer Altmeister machte das Vermögen, unter allen Umständen das Vernünftige tun zu können, Freiheit aus. Sind wir frei, das Vernünftige zu tun? Wenn, wie gehört, sogar ein Verfassungsrechtler dafür plädiert, die Leitidee des Systems umzukehren, dann kann die Umkehr der Ordnung zumindest nicht verfassungswidrig sein. Dann ist sie vielmehr ein Verfassungsgebot. Es wird also höchste Zeit, die von den Mächtigen gefährdete, freiheitlichdemokratische Grundordnung zu verteidigen, diesen elementaren Kernbereich der Verfassung, der unverändert bleiben muss. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn 1952 definiert und bei dieser Gelegenheit der Volkssouveränität Verfassungsrang gegeben. Doch um die steht es schlecht, Wahlen genügen dafür nicht, das bundesweite Abstimmungsrecht kann nicht ausgeübt werden. Unantastbar sollte sein die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Regierung, stattdessen krankt beides am Primat der Wirtschaft. Und wo bleibt die elementare Chancengleichheit der politischen Parteien, wenn die wirtschaftsfrommen mit Millionenspenden verwöhnt werden, während gilt: je konsequenter die Opposition, je leerer ihre Kassen. Zum Kern gehört die Unabhängigkeit der Gerichte, doch wo kein Kläger, da kein Richter. Da die Staatsanwälte den jeweiligen Justizministern weisungsunterworfen sind, kommen politisch hochgradig unliebsame Klagen nicht zustande, dann gilt auch hier: too big to fail. Börsenmanipulation? Untreue gegenüber den Anlegern durch unsittliches Zocken? In der Krise hatten die Staatsanwälte so gut wie keine strafrechtliche Relevanz. Spionage ist eine Straftat, aber, um hier auch Schiller wenigstens einen angedeuteten Auftritt zu geben: Wer wag es, Rittersmann oder Knapp, zu tauchen in diesen NSA-Schlund hinab? Für den Fall der Gefährdung der Demokratie gewährt Art. 20 GG allen Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Ist Abhilfe durch Richtungsänderung möglich? Oder wird die Staatsmacht die versuchte Rückkehr zur Demokratie unter Terrorismusverdacht stellen? Die Frage stellte ich mir erstmals angesichts der hochgerüsteten Hundertschaften beim größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik: gegen die friedlichen Protestler rund um Heiligendamm. Auf der zentralen Kundgebung der G8-Gegner am Rostocker Stadthafen erlebte ich, wie ein Polizeihubschrauber die ganze Zeit tief über der Rednerbühne kreiste, so dass von den Gegenvorschlägen der Sprecher kein Wort zu verstehen war. Nervosität und Empörung griff um sich. 1100 Protestler wurden gewaltsam festgenommen, dabei viele verletzt. Ihre Haftbedingungen in mobilen Käfigen auf nacktem Steinfußboden, permanent videoüberwacht bei Neonlicht, verstießen gegen die Menschenwürde. Drei Jahre später bestätigte das Verwaltungsgericht Schwerin, dass die Verhaftungen in den meisten Fällen rechtswidrig waren. Strafrechtliche Konsequenzen hatte dies nicht. Seit Genua 2001 hat es etwas Sinnbildhaftes, wenn die Gipfelteilnehmer die Spielregeln für das, was sie schicksalsergeben Globalisierung nennen, nur geschützt von schwersten Waffen festlegen können. Damals, als nachweislich agents provocateur die friedlich Demonstrierenden aus ganz Europa gewalttätig unterwanderten, der 23 jährige Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen wurde und Bewaffnete nachts eine Schule und eine Kaserne stürmten, in denen angereiste Globalisierungsgegner schliefen. Nach Torturen und Folter wurden die Blutüberströmten, die teils gebrochenen Knochen und herausgeschlagenen Zähne hatten, gezwungen, faschistische Lieder zu singen. Amnesty International kam zu dem Schluss, in Genua sei es „zu Menschenrechtsverletzungen gekommen, die in der jüngsten europäischen Geschichte ohne Beispiel sind“. Als dennoch die traumatisierten Opfer weder im Italien Berlusconis, noch in Heimatländern wie der Bundesrepublik staatlichen Rechtsschutz bekamen, bildete sich eine international besetzte Untersuchungskommission „Grundrechte und Globalisierung“, aus Juristen, die auch Schriftsteller kooptierten. Als Mitglied dieser Kommission hörte ich die Aussagen der Opfer, ergänzt durch schockierende Videofilme. Wir befragten die Polizeigewerkschaft, den Bürgermeister, dem in jenen Tagen das Kommando über seine Stadt aus der Hand genommen war. Eine Stadt, geteilt in die von 20.000 Polizisten abgesperrte „rote Zone“ der Mächtigen und in den Teil, in dem nur auf Druck internationaler NGO ́s wenigstens ein eingeschränktes Demonstrationsrecht bestand. „Wir hatten nicht erwartet, dass die ganze Stadt ohne Bewegungsund Meinungsfreiheit sein würde, dass es grünes Licht für Gewalt gab. Das hatte mit einem Rechtsstaat nichts mehr zu tun“, sagte uns der Bürgermeister. Nach Jahren des hartnäckigen Beweisens, sind in Italien schließlich doch einige Verantwortliche verurteilt worden. Wo es solche selbstermächtigten Bürgerkommissionen nicht gibt, ist man ziemlich schutzlos. Gegen Occupy Wall Street ist brutal vorgegangen worden. Wussten Sie, dass ein schönes Mädchen im New Yorker Zucotti Park ein Goethe-Zitat hochgehalten hat? „Niemand ist mehr Sklave, als der, der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ Der Domestic Security Alliance Council, ein seit 2005 bestehender Ausschuss aus Vertretern des FBI und den 200 größten Banken und Konzernen der USA, hat in Zusammenarbeit mit der Polizei die Bewegung bespitzelt, vielerorts zusammengeschlagen und kriminalisiert, Leute verhaftet. Menschen, die friedlich die Systemfrage stellen, müssen davon ausgehen, von Defacto-Geheimdiensten der Wirtschaft als «terroristisches Ziel» bekämpft zu werden. Die EU-Terrorismusdefinition kommt diesen Diensten entgegen. Das Ziel, die wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes ernsthaft zu zerstören, ist Terrorismus. Ist die „Umkehrung der Leitlinie“ eine Zerstörung der Grundstruktur? Sind Versuche, spürbar zugunsten des Gemeinwohls umzuverteilen, ein Angriff auf die Heiligsprechung der großen Vermögen? Offenbar. Immer wieder gefragt: Wie können sich die Bürger dennoch selbstermächtigen? Erste Grundregel: Allein ist man aufgeschmissen, das Zusammentun mit Gleichbetroffenen ist unerlässlich. Motto einer Obdachlosenvereinigung: Gemeinsam sind wir unerträglich. Damit Basisdemokratie nicht die Stunde der Populisten wird, bedürfte es zunächst einer großen aufklärerischen Offensive. Einer „ökonomischen Alphabetisierung der Massen“, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu es nannte. Oder der „Kurse für geistige Selbstverteidigung“ gegen die öffentliche Dauerindoktrination, wie sie der als wichtigster Intellektueller der Welt betitelte Noam Chomsky forderte. Gegenöffentlichkeit schaffen derzeit am wirksamsten Kabarettisten – das ist ein bezeichnender Witz. Das Delegieren von Aktivbürgern in die Fernsehräte, das Einmischen in die Programme von Volkshochschulen, das zeitgemäße Wiederbeleben von Arbeiterbildungsvereinen, das Aufmischen der herrschenden Diskurse durch Blogs und Chats, würden dazu gehören. Gebraucht wird eine Art Wissensallmende, die das Bewusstsein des Einzelnen über die Strukturen der Gesellschaft verändert. Hatten wir nicht lange kein Goethe-Zitat? Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an Unruhe… Mit dem Wissen wächst der Zweifel. Was Einzelne zu diesem Wissen beitragen können, haben mutig und opferbereit Manning, Assange und Snowden gezeigt. Sicher, nicht jeder hat Zugang zu Quellen, die ihn zum Top-Whistleblowler machen. Aber das Internet ist eine für jeden offene Fundgrube, in der man sich als ehrenamtlicher Blogger getrost als Enthüller und Link-Verbreiter bewähren kann. Ich werde dies am Beispiel einer ukrainischen Stiftung gleich veranschaulichen.

Die dramatischen Ereignisse in der Ukraine lassen auch die Frage der Selbstermächtigung in neuem Licht erscheinen. Ist der Maidan ein akzeptables Modell? Daran hat der Westen nie einen Zweifel gelassen. Mit dem Wissen aber wächst der Zweifel. Weshalb ich diesen gedanklichen Abstecher in die gefährlichste Entwicklung seit Langem, nicht für eine Abweichung vom Thema halte. Wer immer am Anfang und am Ende auf dem Platz war – die Aktivisten verband, bei den letzten Wahlen unterlegen gewesen zu sein. Klitschkos Partei war weit abgeschlagen und auch Timoschenko verlor in der Stichwahl. Die OSZE lobte den damaligen Urnengang laut Spiegel als „vorbildlich demokratisch“. Es sei ein Ergebnis der Revolution von 2004, dass in der Ex-Sowjetrepublik faire und freie Wahlen möglich seien. Janukowitsch hatte oligarchische Züge, aber er war ein frei gewählter Präsident. Vermutlich gerade weil er sich als Brücke zwischen Rußland und der EU anbot. Er hat sich schon vor den Wahlen zum einheitlichen Wirtschaftsraum mit Rußland bekannt und gleichzeitig zur politischen Annäherung an die EU. Im Juni 2013 drückte der frühere US-Botschafter in der Ukraine, Steven Pifer, Verständnis für Janukowitsch aus, er stünde vor einer schwierigen Entscheidung: Weder Kiew noch Brüssel habe einen Plan B für den Fall, dass das Abkommen nicht unterzeichnet würde. Es gäbe in der EU verschiedene Haltungen, Polen unterstütze den Vertrag, während Deutschland, Frankreich und die Niederlande skeptisch seien und auf weitgehende Reformen in der Ukraine bestünden. Was er nicht erwähnte: Auch hier handelt es sich um ein Freihandelsabkommen, das wichtige Teile der Regierungskompetenzen dem IWF unterstellt. Schon 2010 hat der Internationale Währungsfond 15 Milliarden Dollar Finanzhilfen ausgesetzt, weil das ukrainische Parlament ein Gesetz zur Anhebung von Mindestlöhnen und Renten verabschiedet hatte. Das heißt dem Parlament wird die Souveränität über den Haushalt, entzogen und stattdessen eine Sparpolitik aufgezwungen, die griechische Ausmaße annehmen kann. Das Abkommen war bisher u.a. an der IWF-Forderung gescheitert, die Heizkosten nicht mehr zu subventionieren, sie also zu verdoppeln. Wie autonom sind frei gewählte Regierungen, das zu tun, was sie für richtig halten? Wo kommen wir hin, wenn eine aktive, gut finanzierte Minderheit bei Missbilligung doch einen Plan B hat und gleich zum Staatsstreich greift? Wenn von Wahlen als Grundlage politischer Macht abgegangen wird? Zumal Janukowitsch bei Ausbruch der Proteste die Opposition zum Dialog an den Runden Tisch gebeten hat. Was Klitschko ablehnte, mit der Begründung, „Kompromisse mit Halsabschneidern und Diktatoren kann es nicht geben“. Wer trägt die Verantwortung für die Opfer? Welche demokratische Legitimation hatte der Maidan? Revolutionäre, die die Errungenschaft der letzten Revolution – freie Wahlen übern Haufen werfen? Die Verderbnis der Idee durch ihre Verwirklichung? In Deutschland werden häufig Abkommen unterzeichnet, die von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt werden – Vorratsdatenspeicherung, Hartz 4, Rente mit 67, Krieg in Afghanistan, Export von Rüstung in Krisengebiete, generell von Uranmunition und Streubomben … Eine gewählte Regierung darf das in der repräsentativen Demokratie. Das ist zweifellos ein Problem dieser Demokratieform, weshalb ich nebenbei gesagt, Rätestrukturen mit an den Wähler gebundenen Mandaten auch für sinnvoller halte. (Ich kann hier nur auf mein jüngstes Buch verweisen, in dem ich das Thema ausführlich behandele.) Wenn das freie Mandat aber, bei dem Abgeordnete und Politiker sich ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet fühlen sollen, in westlichen Demokratien selbstverständlich ist, muss man es auch anderswo akzeptieren. Stoppen kann man einen Kurs dann erst wieder bei den nächsten Wahlen. Oder ist Selbstermächtigung jenseits der Verfassung zu akzeptieren? Dies wäre ein Rückfall ins Chaos des Naturrechts. Eine Ablösung des Rechts durch angebliche Moral, die praktischer weise immer der eigenen Deutungshoheit unterliegt. Nein, die Aktivbürger müssen sich mehr Einfluss auf Politik und Gesetze erobern, aber das Konstrukt des Rechtsstaates verteidigen. Genau deshalb ist auch die russische Großmachtpolitik inakzeptabel. Sie bricht das Völkerrecht. Die Annexion von Territorium hat im Laufe der Geschichte bis auf den Iran jeder Nachbar Rußlands erdulden müssen – dafür gibt es keine Rechtfertigung, das ist weder legal noch legitim. Da ist Politik in der Zeit zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert stecken geblieben. Der Westen verkörpert die Moderne: Man annektiert nicht Territorien, sondern Märkte. Auf der Berliner Mauer prangte 1990 ein Graffito: Das Kapital ist schlauer, Geld ist die Mauer. Man gibt Kredite mit Auflagen, zurück bleiben Konzerne mit Gewinngarantie. Man verteidigt seine Sicherheit in aller Welt, man begreift seine Souveränität als Schutzverantwortung für strategisch und wirtschaftlich interessante Gebiete, zurück bleiben Protektorate, Geheimdienstund Militärstützpunkte. Allein die USA haben 1000 solcher Stützpunkte auf der ganzen Welt. Camp Bondsteel, einschließlich zugehörigem Gefangenenlager der größte von allen, konnte nach den völkerrechtswidrigen Bomben auf Serbien im Kosovo eingerichtet werden, ohne die dortige Regierung auch nur zu fragen. Der Neokolonialismus braucht keine Territorien. Bezahlte Stadthalter genügen. Inzwischen hat Arsenij Jazenjuk, der im halbleeren, ukrainischen Parlament die nötigen Stimmen zur Wahl zum neuen Ministerpräsidenten knapp verfehlt hat, aber dennoch amtiert, den politischen Teil des Abkommens unterzeichnet. Plötzlich konnte auch die EU nicht mehr wenige Wochen warten, bis die Ukraine eine durch Neuwahlen legitimierte Regierung hat. Jazenjuk ein Ökonom und Bänker, der verschiedene politische Ämter bekleidete, war schon 2008 durch einen Brief an die Nato aufgefallen, in dem er gemeinsam mit der damaligen Ministerpräsidentin Timoschenko, um Aufnahme bat. Bei der Präsidentschaftswahl 2010 kandidierte er, die Financel Times bezeichnete ihn als Favoriten der Amerikaner. Doch mit 6,7% erhielt er eine Abfuhr. Daraufhin konzentrierte er seine Aktivitäten auf die von ihm gegründete Stiftung Open Ukraine. Unlängst ging Aufregung durchs Netz, weil gerade jetzt deren website abgeschaltet war. Findige Rechercheure holten durch die waybackmachine alles wieder ans Netzlicht. Woraufhin Jazenjuk seine Seite weitgehend wiederbelebte, und jeder auf openukraine.org sich nun selbst ein Bild über seine Finanziers machen kann: Das sind das US Außenministerium sowie diverse US-amerikanische und britische Stiftungen und Konzerne wie Rockefeller, die EU, die Konrad-AdenauerStiftung und schließlich die Nato höchst selbst mit ihrem Nato-Information and Documentation Centre. Da verwundert es nicht, dass die Kiewer Stiftung sich auf ihren permanenten Sicherheitskonferenzen und Diskussionsforen ganz dem Thema ökonomische und militärische Annäherung an den Westen widmet. Dabei schaut dann auch mal ein Generalsekretär der Nato in Kiew vorbei oder man schaltet per VideoKonferenz direkt ins Nato-Hauptquartier. Recht aktiv war auch der deutsche Botschafter in der Ukraine, Christoph Weil, der lange in hohen Nato-Ämtern gearbeitet hatte. Wenn die Assoziierung unterzeichnet sei, würde ein großer Strom ausländischer Investitionen einsetzen, versprach er auf einem Podium der Stiftung. Bereits im Frühjahr 2013, kurz vor dem Besuch einer Swoboda-Delegation bei der NPD, hatte Weil sich mit dem Chef dieser rechtsextremen Partei, Oleg Tjahnybok, getroffen. Wie der offiziellen website der Partei zu entnehmen ist, wurde in dem vertraulichen Gespräch bereits über den Sturz von Janukowitsch gesprochen. Der Faschisten-Chef empfahl dem Westen, die JanukowitschRegierung öffentlich zu verdammen und versicherte dem deutschen Botschafter, sein Bestes zu tun, damit das Abkommen unterzeichnet wird. Er hat Wort gehalten. Wer die Nato so demonstrativ vor die russische Haustür holt, dem kann kaum an Entspannung im europäischen Haus gelegen sein. Der unterstützt das westliche Streben nach Oberhoheit in Eurasien, das sich vom Expansionismus Putins nur durch die Methoden unterscheidet. Das Kalkül dieser Art von Regimechance ist erstmals bei der serbischen Organisation Otpor (Widerstand) aufgegangen. Bei Wikipedia ist die Otpor-Strategie völlig unverhüllt nachzulesen, ein Muster, das auch andere Quellen, wie Dokumentationen der Tagesschau oder des ORF bestätigen: Die Finanzierung von Otpor ähnelt der von Jazenjuks Stiftung sehr, die Dachorganisation ist das Committee on the Present Danger, eine US-amerikanische Einrichtung zur Vorbereitung und Lenkung von Umsturzaktionen vornehmlich im früheren sowjetischen Machtbereich, deren Vorsitzender der frühere CIADirektor James Woolsey ist. Die Aufgabe von Otpor besteht darin, durch gut organisierte «friedliche Revolutionen» antiwestliche Regierungen durch prowestliche zu ersetzen. Dabei sind folgende Schritte vorgesehen: spektakuläre «Widerstandsaktionen», über die im westlichen Ausland berichtet wird, insbesondere das besetzen von zentralen Plätzen und öffentlichen Gebäuden, das Einführen von Symbolen. Der Arbeitsschwerpunkt liegt vor Wahlen: Auslandsmedien sensibilisieren für eine Deutungshoheit, bei der Behinderung der Opposition im Wahlkampf und zu erwartende Manipulation grundsätzlich unterstellt werden. Am Wahlabend sind Proteste medial wirksam zu organisieren, politischer Druck aus dem Ausland führt zu Neuwahlen, bei denen die vom Westen bezahlte Opposition die Regierung übernimmt. Folgerichtig ist Otpor bei den Wahlen 2003 selbst als Partei angetreten. Mit 1,6 % der Stimmen hielt sich seine demokratische Legitimation jedoch in Grenzen. Ich schildere diese Methoden nicht, um zu sagen: Seht, seht, der Westen ist auch nicht besser. Das wäre wenig tröstlich. Angesichts der schwer erträglichen Einseitigkeit unserer Großmedien ist es allerdings unerlässlich, sich ein differenziertes Bild zu bewahren. Wie also sollen Bürger ohne unlautere Mittel und ohne mächtige Sponsoren ihr Ziel erreichen: von der Diktatur kapitalistischer Zwänge zu einer Demokratie, die diesen Namen verdient? „Von der Diktatur zur Demokratie“ Genau dafür gibt es einen Leitfaden für die Befreiung. Dieses in 28 Sprachen übersetzte, schmale Bändchen von Gene Sharp gilt als Lehrbuch zum gewaltlosen Sturz von Diktaturen. Als Klassiker der Widerstandsliteratur, der dem serbischen Otpor genauso hilfreich war, wie den Umstürzlern in Georgien, in Kirgistan und Belarus oder der orangenen Revolution in der Ukraine. „Friedliche Revolution“ ist das nicht derzeit der Lieblingsbegriff der westlichen Wertegemeinschaft für alles Gute und Schöne? Sharp hat für seine friedlichen Umsturzpläne sogar den Alternativen Nobelpreis bekommen. Kann sein Leitfaden auch uns nutzen? Was vor, was nach der „Befreiung“, hat in seiner Analyse keinen Platz, er sieht seine Aufgabe im Sturz des Bösen zugunsten des Guten. Sharp ist ein großer Schwarz-Weiß-Maler, wie man sie in den USA nicht nur unter Politikwissenschaftlern trifft. Die Demokratie von den totalitären Gebrechen des Kapitalismus bedroht zu sehen, kommt ihm nicht in den Sinn, sie ist für ihn kein dynamischer, gefährdeter Zustand, sondern etwas über allen Zweifel Erhabenes. Während zweifelhafte Diktatoren zum Teufel gejagt werden müssen. Ob diese gewählt waren, ist kein Kriterium. Unsere Diktatur-Analyse ist, soweit es die knappe Morgenstunde zulässt, klarer: Wir wollen uns vom Terror der Ökonomie befreien, der eben nicht demokratisch legitimiert ist. Wenn wir die analytische Schwäche von Sharp übergehen, dann können die von ihm empfohlenen Widerstandsmethoden für uns durchaus interessant sein. Für alle, die mich bei jeder Lesung verzweifelt fragen, was man nur tun könne, für eine Veränderung der Zustände, ist bei ihm guter Rat nicht teuer: Gene Sharp zählt 198 Methoden gewaltlosen Vorgehens auf, da ist garantiert für jeden Geschmack etwas dabei. Ich konnte schon bei Methode 1 nicht widerstehen: Öffentliche Reden. Auch Methode 9 praktiziere ich seit langem – Bücher schreiben. Schreiben heißt stören – wer zufrieden ist, schreibt nicht. Mit der Folge, dass Methode 10 und 11, Auftritte in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, mir nur noch begrenzt zur Verfügung stehen. An öffentlichen Erklärungen mit Unterschriftenlisten beteilige ich mich gelegentlich, auf der internationalen Bürgerpetion-Plattform Avaaz.org kann übrigens jeder sehr einfach sein eigenes Gesuch einer Millionen-Öffentlichkeit unterbreiten. Methode 71: Verbraucherboykott. Das trifft bei mir alle privaten Fernsehsender hart. Sehr viel halte ich von Nr. 180: Alternatives Kommunikationssystem. Plattformen der Gegenöffentlichkeit durch Spenden oder Mitarbeit zu unterstützen, ob in kleinen Zeitungen oder im großen Netz, gehört unbedingt zu den zukunftsweisenden Mitteln von Emanzipation. Sie kennen Abgeordneten Watch? Finance Watch? Lobby Control? Wenn nicht, haben Sie ihre legalen Beobachtungsposten nicht bezogen. Haben Sie auf kontext.tv die Interviews mit den unverzichtbaren Analytikern Immanuel Wallerstein, Michael Albert oder Chris Hedges gesehen? Und die übersetzten Auszüge des unabhängigen USFernsehsenders „Democracy Now“ der großartigen Gründerin Amy Goodman, die ihren alternativen Nobelpreis sehr zu Recht bekommen hat? Alles eine Frage des Zeithabens? Dann haben Sie sich stattdessen vermutlich der Bürgerinitiative zur radikalen Verkürzung der Arbeitszeit angeschlossen. Methode 135, Ziviles Nichtgehorchen ist mir immer sympathisch, zumal der Staat auch uns nicht gehorcht. Für die Weigerung, Steuern zu Kriegszwecken zu bezahlen, musste allerdings schon Thoreau im Musterland der Demokratie ins Gefängnis, der Autor des Klassikers: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Auch Methode 87 und 88, die Einbehaltung von Miete und Pacht, die Weigerung Gebühren, Abgaben, Schulden und Zinsen zu zahlen, kann man sich vielleicht in schlamperten Diktaturen leisten, im Kapitalismus, aber hoppla, sind gerade Zahlungsund Räumungsklagen beliebte Repressalien. Uneingeschränkt zu begrüßen sind dagegen die 23 angeführten Sorten Streik, vom Bummelstreik bis zum Generalstreik. Manche Mittel sind politisch fragwürdig, wie Methode 25: Zurschaustellung von Portraits ist Personenkult. Von der auch nur friedlichen Besetzung von Ministerien und Verwaltungen nach Methode 126 ist abzuraten. Denn „öffentliche Stellen unberechtigterweise zu Tun oder Unterlassen zu zwingen“, ist laut erwähnter EU-Definition Terrorismus. So schnell kann man vom Maidaner zum Terroristen werden, wenn man sich assoziiert. Auch Methode 124 ist für unsere Zwecke untauglich: Wahlboykott. Die Bürger haben wenig Einfluss, aber den sollten sie nutzen. Es ist nicht gleichgültig, wer regiert und vor allem, wie stark der Widerspruch im Parlament ist. Opposition ist die Seele der Demokratie. Auffällig ist, dass die klassischen Methoden der Basisdemokratie, in Sharps Katalog keine Rolle spielen. Volksbefragung, Volksbegehren, Volksentscheid, Volksgesetzgebung – entweder hält er nichts davon oder er hält sie in Diktaturen nicht für möglich. Insofern sind unsere Chancen in gewisser Weise sogar besser. Die Gesellschaft als politischer Raum ist zwar vorerst misslungen, weil die Aufklärung dem Aufkauf geopfert wurde. Aber die auf eine prosperierende Mittelschicht angewiesene Marktwirtschaft hat bürgerschaftliche Nester nicht nur nicht verhindert, sondern als Unterbau gefördert: Alle Sorten von gemeinnützigen Vereinen, Stiftungen, Kirchentagen, Bürgerinitiativen, Menschenrechtsorganisationen, sozialen Bewegungen, Gewerkschaftshäusern, Klubs, literarischen Gesellschaften und Kultureinrichtungen. Neuerdings auch Wasserund Energie-Tische, Montagsdemos, Freie-WählerGruppen. Es gilt: Global denken und lokal handeln, lokal denken und global handeln. Selbstlos arbeitende NGO ́s haben Enormes geleistet, auch wenn so manche von ihnen unterlaufen wurde, von Lobbygruppen bis zu Geheimdienstlern – auch hier empfiehlt sich ein genauer Blick auf die Financiers. Diese Gruppen sind die Fundamente, für Druck aus der Bevölkerung. Ihr politisches Potential ist nicht zu unterschätzen, auch wenn einige vorerst eher Schläfern gleichen. Was waren im Herbst 1989 die Theater plötzlich für eine Avantgarde! Die Aktivisten an den Runden Tischen, die Bürgerrechtler, die neue Gesetze und eine Verfassung ausarbeiteten. Sich sicher nicht bewusst, damit das Erbe von Hannah Arendt angetreten zu sein, die in ihrem hierzulande wenig reflektierten Buch „Über die Revolution“ die Eroberung der Verfassungsgebung als das Eigentliche moderner Revolutionen ansah. 2012 fand der amerikanische Occupy-Vordenker Mark Greif: «Es ist richtig und notwendig, dass soziale Bewegungen in der Sprache der Revolution sprechen … Letzten Herbst sollte noch die amerikanische Demokratie gerettet werden. Seit dem Frühjahr wird schon die Systemfrage gestellt.» Letztlich sind die spontanen Besetzungen von Börse, Firmenlobbys und Straßenkreuzungen über symbolische Akte nicht hinausgekommen. Die Bewegung ist von der Straße ins Reich des Diskurses übergesiedelt. Das ist ein Reich, das missachtet zu haben, sich rächt. Der wichtigste Rat von Gene Sharp ist durchaus ernst zu nehmen: Die unkoordinierte bunte Mischung von Aktivitäten bringt letztlich eine Widerstandbewegung nicht wirklich voran, die einzelnen Initiativen stoßen an die Grenzen ihrer Kräfte und gestatten es der Diktatur, ihre Kontrollgewalt und Macht auszubauen. (Unlängst hat die spanische Regierung ein Gesetz erlassen, dass die Teilnahme an einer ungenehmigten Demonstration mit einem Bußgeld von 30.000 Euro belegt.) Das Entscheidende sei daher eine „grand strategy“, die den Einsatz aller Ressourcen der Gruppen, die ihr Ziel erreichen wollen, koordiniert und lenkt. Eine große Strategie ohne große Finanziers? Ob der Finanzkapitalismus mit demokratischen Mitteln unter Kontrolle zu bringen ist, wird sich nur erweisen, wenn es denn ernsthaft versucht wird. Das Missverhältnis zwischen Erforderlichem und Machbaren ist dabei augenfällig. Aber Einsicht in die wahren Zustände heißt nicht Resignieren, sondern Geschichte als Arbeit begreifen. Die Gesellschaft zu verändern, ist kein Osterspaziergang. Zynischer Werbespruch einer Drogeriekette: Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein. In diesem verpflichtenden Hause wäre umzudichten in: Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein. Notwendig scheint mir eine Doppelstrategie: Während Keimzellen alternativer Lebensformen, wie Bürgerhaushalte, Kiezfonds, Fahrgemeinschaften, Gratis Tauschläden, Multi-Kulti-Klubs, europäische Schüler-Austausch Agenturen, internationale Studenten-Zeitungen, Straßentheater, Faire Trade-Shops, Ökostrom-Genossenschaften und vieles mehr gedeihen und allmählich die europäische Gesellschaft als politischen Raum einrichten, muss parallel für den Moment, in dem der neue Souverän auf den Runden Tisch haut, über Gegenmodelle nachgedacht worden sein. 1989 habe ich schmerzlich erlebt wie es ist, wenn man für einen kurzen historischen Moment das window of opportunity offen halten kann, aber mangels ausgereifter Alternativentwürfe der Sturm der Geschichte dieses Zeitfenster derart schnell zuknallt, dass man sich die Finger einklemmt. Dieser Sturm kommt meist aus den Windmaschinen der besser organisierten Interessen. Bei der nächsten Wende werden sich, wie bei allen Revolutionen, wieder spontan Ansätze von Rätedemokratie bilden – wird man sie verstetigen wollen und können? Die Frage einer zufriedenstellenden Repräsentation ist in der Demokratie bislang ungelöst. Dagegen sind die Ansätze für eine GemeinwohlÖkonomie mit entsprechendem Geld- und Steuersystem weit gediehen. Auch wenn der fundamentale Unterschied zwischen Staatseigentum und Gemeineigentum aus meiner Sicht noch unterbelichtet ist. Am Ende ein Vorschlag: Warum die Verträge von Maastricht und Lissabon nur kritisieren und auf den St. Nimmerleinstag warten, an dem die überforderten und unmotivierten Politiker etwas Besseres vorlegen? Warum sollten nicht alle, die mit Vorschlägen zu antikapitalistischen Alternativen überzeugt haben, sich selbst zu einem BürgerVerfassungskonvent ermächtigen? Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut und ihre Kollegen an internationalen Universitäten, die Akademie Solidarische Ökonomie und ihre vernetzten Partner, gleichberechtigt mit Aktivisten sozialer Bewegungen wie Attac oder Occupy. Begleitet von einer mehrsprachigen Website mit höchster Transparenz, auf der unter Konvent Watch jeder Bürger die Vorzüge kollektiver Intelligenz beweisen kann. Varianten von Entwürfen für eine europäische Verfassung mit nationaler Entsprechung, würden permanent den veränderten Herausforderungen angepasst. So stünde man im entscheidenden Moment nicht mit leeren Händen da. Mit Großspenden ist nicht zu rechnen, aber die Wut der Millionen Politikverdrossenen würde Kleinspenden auslösen, die sich sehen lassen können. Das wäre eine integere „grand strategy“, an deren Ende die Bürger das letzte Wort hätten, nicht die Banken. „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück“ sähe ich in den jetzigen Zuständen keine Postdemokratie, sondern eine Prädemokratie. Das ist offensiv, nicht resignativ. Ein angemessener Schluss für eine Rede, die mit dem Gedanken an Erbauung angefangen hat? Gegen falsches Pathos hilft Brecht: Sorgfältig prüfe ich meinen Plan: Er ist groß genug, er ist unverwirklichbar. Bloße Zuversicht wäre das falsche Signal. Irritation, die nur durch Aktivwerden abzuschütteln ist, wäre schon besser. Also an diesem Ort doch lieber mit Goethe enden, der den ewig Gestrigen ungeduldig zurief: Das ist doch nur der alte Dreck, Werdet doch gescheiter! Tretet nicht immer denselben Fleck, So geht doch weiter!