Die Satten entdecken ihr Herz für die Hungrigen – von gemeinnützigen Aktien und Schmähpreisen
Was optimale Anpassung ist, demonstrieren die Eichhörnchen im Davoser Alpenwald: Das Bauchfell weiß wie Schnee, der Rest schwarzbraun wie Fichtenstämme im Gegenlicht. Im Licht der Börsenkrise und der befürchteten globalen Rezession ist das Weltwirtschaftsforum (WEF) blitzschnell auf einen anderen Ast gesprungen. Dort herrscht ein gemäßigterer Ton, nicht ganz so selbstgewiss und anmaßend wie zuvor. Zwar wird noch immer kapitalistischer Fundamentalismus verbreitet, aber der Zweifel ist gesellschaftsfähig geworden. Bill Gates erhofft sich einen „kreativen Kapitalismus“ und Rania, die junge Königin Jordaniens, fordert eine „Humanisierung der Globalisierung“. Selbst der alte Haude-gen Henry Kissinger spricht von einer sich wandelnden Weltordnung. Die ganze Woche über versuche ich herauszubekommen, ob dieser Wechsel ein Sprung in ein wirklich neues Bewusstsein ist oder wieder nur in ein anderes Kostüm.
Nach den anfänglichen Protesten der Globalisierungskritiker und der Davoser Bürger über die Abschottung der selbsternannten Elite bieten die Veranstalter seit sechs Jahren parallel das Open Forum an. Von den Gegnern als Feigenblattveranstaltung beargwöhnt, stellen sich in ihm hochkarätige Leute vom geschlossenen Forum der Öffentlichkeit. Man kommt hinein, solange die Plätze reichen. Fragen dürfen auch gestellt werden. Diese Geste ans Volk ist ein Teil des Lernprozesses, der in Davos – ganz sicher beeinflusst von den Weltsozialforen – stattgefunden hat.
Ein anderer Teil ist die Selbstdarstellung. Das World Economic Forum nimmt nun die positiv besetzte Bezeichnung „Nichtregierungsorganisation“ (NGO) für sich in Anspruch, will eine Dialogplattform von „Entscheidungsträgern aus Politik, Wissenschaft, Gewerkschaften, NGO´s und Religionen“ sein. Schaut man genauer hin, stehen allerdings 1.300 Vertretern aus den Weltkonzernen nur zehn Gewerkschafter gegenüber. Und 220 Gesandte der Regierungen haben hinzunehmen, dass 250 „Medienschaffende“ geladen sind – ein aufschlussreicher Seitenblick auf das veranschlagte Machtpotential.
Jahrelang ging es in Davos darum, wie sich das Wachstum der reichen Länder und der multinationalen Konzerne mehren lässt. Inzwischen haben die Satten ihr Herz für die Hungrigen entdeckt. Kaum beunruhigt räumt der britische Premier Gordon Brown ein, dass Regierungen dabei an ihre Grenzen stießen, während Unternehmen soziale Verantwortung plötzlich als Kerngeschäft ansähen. Dahinter stecke die Macht der Konsumenten. (Also keine moralische Läuterung.)
In den Entwicklungsländern wird heute ein Drittel der Bildung von Banken und Unternehmen gestellt. Öffentliche Belange werden nach und nach aufgekauft und privaten Interessen unterworfen. Wie legitim das parastaatliche Handeln globaler Firmen ist, wird in Davos nicht erörtert.
Auf die Frage, wie viel Prozent seines Gewinnes er bereit sei, für Soziales zu opfern, antwortet ein Manager von Cisco Systems ausweichend: die Sozialprogramme müssten in die wirtschaftliche Gleichung der Unternehmen eingebettet werden. Und der Chef des größten chinesischen Mobilfunkbetreibers meint, die Aktionäre müssten über das Ziel der Gemeinnützigkeit aufgeklärt werden.
Sind das Erfolge der Globalisierungskritiker – Agenda-Setting Ja, Tobin-Steuer Nein? Eines der Hauptthemen des diesjährigen Treffens in Davos ist auf den Weltsozialforen viel eher diskutiert worden: Wasser – das Öl dieses Jahrhunderts. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gab ein einführendes Statement, das in seiner Analyse weit unschärfer blieb, als vieles, was ich dazu auf den Weltsozialforen in Mumbai oder Nairobi gehört hatte. Als Ursache dafür, dass Milliarden Menschen unter Wassermangel leiden, benannte er sehr allgemein Dürre, Klimawandel, bewaffnete Konflikte und Missmanagement, um schließlich sein Bedauern darüber auszudrücken, dass Unternehmer zu Prügelknaben gemacht wurden. Schließlich sei die Industrie auch Teil der Lösung.
Wenn er damit Menschen meinte, wie den Japaner Mike Shibata, ist das sogar vorstellbar. Mit diesem Chairman eines Unternehmens von 10.000 Mitarbeitern komme ich auf der Terrasse der berühmten Schatzalp ins Gespräch, auf dem imaginären Zauberberg. Doch meine abwegige Vorstellung, in diesem Schattenreich müssten alle Gespräche Peeperkorn-haltig sein, erfüllt sich nicht. Shibata redet auch weder von Schneetraum noch Hadesfahrt, sondern über seine Autofilter und Aufbereitungsanlagen für Trinkwasser. Wofür es gerade in China einen riesigen Bedarf gäbe. Doch auf dem Wasser-Podium spricht kein Pioniergeist wie er – es haben diejenigen das Wort, die von den Globalisierungskritikern als „Schurken-Konzerne“ angeklagt sind: Nestlé, Coca Cola, Dow Chemical.
Auf der alljährlichen Gegenveranstaltung in Davos, dem Public Eye, war der Schweizer Multi Nestlé mit 40 anderen nominiert für den von der Erklärung von Bern und der Schweizer Gesellschaft pro natura vergebenen Schmähpreis Global Award. Weil das Unternehmen in einem Prozess wegen der Ausbeutung von Kindersklaven auf Kakaofarmen der Elfenbeinküste angeklagt ist. Nestlé kauft den Rohstoff zu Tiefstpreisen und verteidigt sich damit, dass es keine ausdrückliche Norm dafür gäbe, Abnehmer von Produkten für die Art ihres Entstehens verantwortlich zu machen. Dem Konzern wird außerdem die Unterdrückung von Gewerkschaften vorgeworfen und mangelnde Transparenz bei der Aufklärung seiner zeitweilig mit gefährlichen Chemikalien kontaminierten Baby-Nahrung.
Auf dem WEF-Podium ist von all dem keine Rede. Der Moderator würdigt die wichtige Rolle der Privatwirtschaft für den Fortschritt. Der Nestlé-Manager bekommt Gelegenheit, die Kombination von Know How und Gewinnmotivation in seinem Unternehmen zu loben. Er profiliert sich mit der Aussage, das Recht auf Wasser sei ein Menschenrecht, das die alten Römer schon verwirklicht hatten, während es heute für die Hälfte der Weltbevölkerung nicht erfüllt sei.
Was in Mumbai über den verheerenden Grundwasserverbrauch von Coca Cola in Südindien zu erfahren war, der mit einem Cola-Boykott beantwortet wurde, das wird hier dezent übergangen. Immerhin hat der Cola-Manager verstanden: „Wenn nicht alle Zugang zu Wasser haben, werden wir kein Geschäft kriegen.“ Zwar wird vorgeschlagen, dass Wasser nicht kostenlos sein dürfe, sondern einen Marktpreis bekommen müsste. Doch gemeint sind nicht die Unmengen an Fluss- oder Grundwasser, das die Industrie entnimmt und verschmutzt – gedacht wird ganz „armenfreundlich“ an das Wasser, mit dem Autos gewaschen und Swimming-Pools gefüllt werden. (Das können die Multis dann nämlich aus der Porto-Kasse bezahlen.)
Paradoxerweise wird gefordert, den Marktpreis müssten die Regierungen machen – die Auffassungen über das künftige Verhältnis von dereguliertem Markt und Protektionismus gehen in Davos oft wild durcheinander. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie wenig Verbindliches die versammelte Weltwirtschaftselite über die Grundmechanismen des Kapitalismus zu wissen scheint.
Für Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz ist die derzeitige Finanzkrise der Beweis dafür, wie Selbstregulierung der Wirtschaft versagt. Er verlangt eine bessere Kontrolle des weltweiten Finanzsystems und mehr Transparenz. „Wir haben unsere Lektion nicht gelernt“, wird er zitiert. Doch die Banken haben kein Interesse an öffentlicher Regulierung, und die Regierungen sehen dem Treiben ohnmächtig zu. Dieselbe Botschaft erreicht das Forum von George Soros aus den USA: Die marktfundamentalistischen Finanzmanager seien zu weit gegangen.
Beim Open Forum zum Thema Private Equity und Hedge Funds greift der Schweizer SP-Politiker und Gewerkschafter Levrat diese Art von kreditgestütztem Aufkauf gesunder Unternehmen zum Zwecke der Profitverdopplung und Arbeitskräftehalbierung scharf an, während der britische Unternehmer Yea dieses Vorgehen als „reinste Form des Kapitalismus“ verteidigt. Woraufhin der Sozialethiker Ruh warnt: „In der Finanzwirtschaft wissen wir alle nicht mehr, was wir tun, wir wissen nicht, was oben und unten ist.“
Ganz unten, nämlich reif für den Negativ-Award, war schließlich der staatliche französische Atomkonzern Areva. Er beutet in Niger – auf einstigem Weidegebiet von Nomaden – Uranminen aus und hinterlässt dort hochradioaktive Staub-Halden, die der Wüstensturm übers Land fegt. 45 Millionen Tonnen Wasser wurden verseucht. Die ahnungslose Bevölkerung benutzt verstrahltes Material zum Häuserbau. In firmeneigenen Krankenhäusern wird Krebskranken weisgemacht, sie hätten Aids, um Ursachen zu verschleiern und an Therapien zu sparen. Davon berichtete Almonstapha Alhacen, der seit 30 Jahren in der Mine arbeitet und mit seinem Auftreten beim Public Eye in Davos seine Existenz riskiert. Wer sich gegen die geschilderten Bedingungen von Areva auflehnt, wird entlassen. Aber Bauer kann man auf dem verseuchten Land nicht mehr werden. Früher haben viele Straußenvögel dort gelebt – heute kein einziger mehr. Hörte man nach einem solchen Bericht die selbstgerechten Redner auf dem von Josef Ackermann moderierten Podium, die Phrasen von den europäischen Werten Freiheit und Demokratie verbreiteten, konnte man schon wütend werden.
Doch hat sich die Protestbewegung nach den heftigen Repressionen der ersten Jahre des WEF aus diesem Talkessel ins preiswertere und publikumsnähere Flachland zurückgezogen. Am Global Action Day demonstriert ein buntes Trüppchen unter dem Banner: Make love not WEF. Die Polizei greift nur ein, als es versucht, auf die gesperrte Promenade vorzudringen. Die Gesellschaft Kultur des Friedens und Amnesty International fordern im Evangelischen Kirchgemeindehaus: „Globalisieren wir die Solidarität“ und sprechen in Live-Schaltungen mit dem kanadischen Gentechnik-Rebellen Percy Schmeisser oder mit Jean Ziegler, der auf eine Sozialisierung der Schweizer Banken drängt. Sonst ist Ruhe im Kanton. Ein wohl von beiden Seiten erwirkter Wandel: Statt Straßenschlachten ein Tummelplatz von überraschenden Nachdenklichkeiten, sachlichen Argumenten und unvermeidlichen Demagogien. Verglichen mit dem martialischen Sicherheitsgehabe etwa in Genua oder Heiligendamm während der G 8-Gipfel, ist es hier gemütlich. Die Passagiere des Linienbusses fahren unkontrolliert durch die Rote Zone. Dass die Luftwaffe mit zehn schwer bewaffneten Kampfjets permanent „luftpolizeiliche Einsätze“ fliegt, scheint in der vermeintlich unmilitanten Schweiz niemanden zu stören. Als gehörten die Silbervögel an den Himmel von Davos wie die Eichhörnchen in dessen Wald.