Leben im Schatten von Geschichte
Auch 60 Jahre nach Kriegsende keine Befreiung von Gewalt als Mittel der Politik
Was hat dieses Datum für meine Generation, einige Jahre nach dem Krieg geboren, für eine Bedeutung? Vom Krieg, wie auch von seinem Ende, von der Befreiung, haben wir in Schul- und Geschichtsbüchern gelesen. Und natürlich von den Älteren erzählt bekommen. Zugehört mit großen staunenden Augen, ein wenig wie Märchenerzählern, die die gruseligen Stellen bevorzugen.
Doch die Kulissen zu diesen Geschichten standen ja noch weitgehend, da mussten wir unsere Phantasie nicht überstrapazieren. Unsere Spielplätze – Ruinen. Die schwankenden Restmauern waren in den 50er Jahren zwar schon abgetragen, aber die Keller, die Fundamente, die unterirdischen Gänge lagen bloß wie Gedärme. Die Wunden des Krieges – die waren ganz die unseren. Von schlecht genährten Müttern geboren, mit Magermilch bekocht, Obst und Fleisch eher selten, so waren wir vorherbestimmt, keine Kinderkrankheit auszulassen. In mangelhaft ausgerüsteten Krankenhäusern kümmerte man sich um unsere Gelbsucht und Rachitis.
Buddeleimer und Kuchenform? Das ganze Land war ein Sandkasten. Unsere Eierpampe rührten wir in gefundenen Stahlhelmen an. Unsere Väter waren immerhin zurückgekehrt, vom Volkssturm, aus der Kriegsgefangenschaft, aus den Lagern und Zuchthäusern, aus der Emigration, einige wenige aus dem Widerstand. Ihre so verschiedenartigen Geschichten erzählten sie oft vereinfacht oder gar nicht, den Blick nach vorn. Unsere Mütter gehörten zu den Frauen, die sich glücklich schätzen konnten, angesichts der notorischen Männerknappheit, einen abbekommen zu haben. Viele unserer Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen und späteren Schwiegermütter waren Kriegswitwen oder Alleingebliebene, zu einem verbitterten Leben ohne Mann und komplette Familie verdammt.
Die Bäume in meiner Straße, einem Berliner Vorort, steckten so voller Munition und Granatsplitter, dass kein Sägewerk sie später haben wollte. Die beschädigten Dächer im Ort waren noch jahrelang undicht. Im Gedächtnis bleibt das im Halbschlaf wahrgenommene Geräusch von Wassertropfen, die in bereitgestellten Zinkschüsseln aufgefangen werden … Und der Anblick gesprengter Brücken. Die Schule lag jenseits des Kanals, erreichbar nur über eine schmale, notdürftig zusammengezimmerte Fußgänger-Brücke aus Holz, wie man sie sonst eher aus Dschungelbildern kennt. Die Fahrräder mussten darüber geschoben werden, 30 Jahre lang. Leben in Provisorien.
Die Gewalt, die den Städten beim Wiederaufbau angetan wurde. Und die Schmach, wenn die weithin sichtbaren Lücken offen blieben. Das Zentrum Halberstadts beispielsweise war rund um den einst gotischen Markt mit seinen prächtigen Fachwerkhäusern zwei Generationen lang nichts als Wiese und betonierter Parkplatz. Und erst die betonierten Leerstellen im geistigen und kulturellen Leben. Den Mangel konnte nur empfinden, wer den Reichtum noch gekannt hatte oder sich nachträglich bewusst machte: Deutschland ohne Juden – Bernd Engelmanns Buch wurde zum prägenden Grunderlebnis. Allgegenwärtig das Gefühl von unwiederbringlichen und ganz und gar widersinnigen Verlusten, die künftig nur durch ewigen Frieden vermieden werden können.
Wie sollte da die Nachkriegsgeneration nicht mehr vom Krieg und seinem Ende betroffen gewesen sein? Angesichts der vom kalten Krieg gezeichneten Teilung und der verpfuschten Vereinigung? Und erst recht angesichts der damals überfallenen Länder, besonders in Osteuropa, die immer noch krank sind, von diesen Verlusten. Leben im Schatten von Geschichte, der niemand entkommt. Außer den meisten Verantwortlichen. Jeder Krieg wirkt viel länger nach, als diejenigen, die daran schuld waren, zur Rechenschaft gezogen werden können. Deshalb heißt es alarmiert sein, wenn Deutschland im Schulterschluß mit der NATO sich wieder anschickt Einflusssphären zu sichern. Die Entscheidungen fällen von Waffenhändlern umworbene Politiker. Die Konsequenzen tragen die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen.
Was haben diese, was haben wir den Nachgeborenen zu übermitteln, damit sie solche Erfahrungen niemals mehr am eigenen Leibe machen müssen? 1945 war selbst in Kirchen und konservativen Parteien Konsens, dass während des Krieges und der NS-Diktatur „das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben“ verhängnisvoll gedeihen konnte. „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“ hieß es im Ahlener Programm und deshalb rief die CDU auf Wahlplakaten zum Sozialismus auf. Für die SPD formulierte vor fast 60 Jahren Kurt Schuhmacher die Lehren aus der Geschichte: „Solange es in Deutschland möglich ist, dass sich große Vermögen in der Hand verantwortungsloser Privater sammeln, ist die Demokratie nicht gesichert. Die ungeheure Wirtschaftskraft der Konzerne muss in die Hand der Allgemeinheit gelegt werden, sonst wirkt sie sich als politische Macht gegen den neuen Staat aus.“ Diese Einsicht ist in der SPD bekanntlich bald für mehrere Generationen in Vergessenheit geraten und scheint erst jetzt als schwacher Abglanz bei Franz Müntefering durch.
Die östlichen Einheitssozialisten und ihre Bündnispartner hatten diese Lehre immerhin nicht vergessen, Bad Godesberg war für sie aus vielerlei Gründen keine Adresse. Dafür haben sie mit ihrer Irrlehre von der Diktatur des Proletariats und der führenden Rolle der Partei schließlich die womöglich einmalige historische Chance vertan, eine von den Menschen angenommene Alternative zu praktizieren. Das ist unser östlicher Teil der Verantwortung für die Situation, in der wir uns heute befinden. Gemeineigentum plus Demokratie, diese vielversprechende Kombination ist bisher von allen Machthabern vereitelt worden.
Stattdessen erleben wir wieder die zunehmende Legalisierung von Gewalt als Mittel der Politik. Obwohl der Krieg seit dem Briand-Kellog-Pakt von 1928 völkerrechtlich geächtet ist, scheint die Menschheit diese Geißel nicht los zu werden.
Was für eine Welt! Jährlich sterben 50 Millionen Menschen an Unterernährung, Seuchen und heilbaren Krankheiten. Das heißt, jedes Jahr kostet die Menschheit dieser Frieden etwa so viel Opfer, wie der zweite Weltkrieg in sechs Jahren. Dabei würde ein Zwanzigstel der Rüstungsausgaben genügen, um die schlimmste Armut zu beseitigen. Ist es verwunderlich, dass in einer Welt von so gottloser Ungerechtigkeit die fundamentalistische Wut wächst?
Terrorismus ist ein Schrei, der gehört werden will. Gleichzeitig ist kaum noch zu verbergen: Angriffskriege sind die exzessivste Form von Terrorismus. Sie verschlimmern alles und lösen nichts.
Welcher irrationalen Weltordnung gehen wir entgegen? Werden wir künftig aufrüsten für Abrüstungskriege? Entdemokratisieren für Demokratisierungskriege? Ölfelder abbrennen, weil die Reserven knapper werden? Muss auf das Völkerrecht tatsächlich keine Rücksicht mehr genommen werden?
„Krieg wird sein, solange auch nur ein Mensch am Krieg verdient“, prophezeite Bertolt Brecht. Durch den Irakkrieg sind die Gewinne der Rüstungskonzerne weltweit wieder auf den Höchstwert gestiegen, den sie in den 80er Jahren des kalten Krieges hatten, ermittelte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut. Dass Deutschland sich als Exportweltmeister rühmen kann, liegt zu wesentlichen Teilen am Export von sogenannten Rüstungskomponenten, die als Bestandteile von Waffensystemen gehandelt werden und an Dual-Use-Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Mit ihnen lassen sich Verbote für Rüstungsexporte unbemerkt unterlaufen, notfalls über „sichere Drittländer“.
Eine Studie des Berliner Information-Center for Transatlantic Security (BITS) weist nach, wie Deutschland als Exportweltmeister doch noch am Irakkrieg teilnehmen darf: Massenhaft zum Einsatz kommen dort und anderswo Ketten der deutschen Firma Diehl Remscheid unter britischen Panzerhaubitzen, Sturmgewehre von Heckler & Koch, Infrarot-Sensortechnik der Firma AEG in US-Kampfflugzeugen und in diversen Munitionsarten elektronische Zünder von Junghans und Treibladungen des Herstellers Nitrochemie.
Die Crux ist eben nur: solange der Kampf um Naturschätze und Märkte mit Waffen ausgetragen wird, solange sich mit Bombern, Minen und Panzern und der langwierigen Beseitigung ihrer Zerstörungen mehr verdienen lässt, als mit Bewässerungstechnik, Mähdreschern, Schulen und Krankenhäusern, scheint mir jeder moralische Appell für die Katz. Solange wir uns in der Logik des Kapitals, also des Maximalprofits bewegen, und ich sehe keine andere Logik, dürfen die Lösungsvorschläge nicht unlogisch sein. Daraus folgt, dass wir aufgerufen sind, Bedingungen zu schaffen, unter denen Frieden ein besseres Geschäft ist als Krieg.
Am Frieden und am Krieg verdienen nicht die selben. Letztlich entscheiden aber Regierungen, wer woran verdient. Überlassen wir ihre Beeinflussung nicht den Waffenlobbyisten. Deren Reichtum ist ein Armutszeugnis für uns. Sind wir wirklich gezwungen, Regierungen zu wählen, die mit unseren Steuergeldern Schwerter sponsern statt Pflugscharen? Lebten wir längst im ewigen Frieden, wenn Rüstungsetats durch Volksentscheide verabschiedet würden?
Den Verteidigungsetat zahlt der von Soziallasten verstimmte Steuerzahler. Was ihn die jüngsten Kriege im Kosovo, in Afghanistan und im Irak tatsächlich gekostet haben, wird er wohl nie erfahren. Für das Geld, das allein im Kosovo-Krieg ausgegeben wurde, so haben Fachleute berechnet, hätte man jeder Familie im Kosovo ein neues Haus mit Swimmingpool bauen können. Ich bin sicher, Nachbarn solcher Häuser hätten sich vertragen – egal ob Serben, Kroaten oder Bosnier.
Das Problem ist nicht, dass Geld ausgegeben wird, sondern dass es falsch ausgegeben wird. Um dies zu veranschaulichen, wäre es eindrucksvoll, wenn zum Beispiel Friedensfor-schungsinstitute die Zeitungen mit einer täglichen Rubrik beliefern würden, unter dem Motto: Was wir uns heute in Deutschland für die täglichen Ausgaben von etwa 70 Millionen Euro leisten könnten. Dort müsste vorgerechnet werden, weshalb für jeden Beschäftigten in der Rüstungsindustrie zweieinhalb zivile Arbeitsplätze bezahlt werden könnten. Oder: Statt 21 Eurofighter anzuschaffen, könnten mehr Menschen ein ordentliches Jahresgehalt bekommen, als Köln Einwohner hat. Oder: 110.000 Lehrerinnen könnten ein Jahr unterrichten, wenn wir auf die geplanten Transporthubschrauber verzichteten. Stattdessen verpflichtet uns die zur Entscheidung stehende EU-Verfassung zu weiterer Geldverschwendung durch Aufrüstung.
Jede Art von Protest und zivilem Ungehorsam gegen diese Logik wird gebraucht, wobei die Formen der Gegenöffentlichkeit, der Aufklärung in Medien immer wichtiger werden. Denn die gefährlichste, bereits im Einsatz befindliche Massenvernichtungswaffe, ist die der Desinformation. Das schlimme ist, dass man nichts und niemandem glauben kann, weil es eben nicht um Demokratie oder um Wahrheit, sondern um Macht, Öl, Einfluss und Geld geht.
Aber auch wenn Millionen Demonstranten in aller Welt den Krieg nicht verhindern konnten, so war es doch ein großer Unterschied, ob das Unrecht schweigend hingenommen wurde, oder ob die Friedenswilligen sich erhoben haben. Denn die Beseitigung von Feindbildern ist allemal ein besserer Vorschlag als die Beseitigung von Feinden. Unsere Waffe ist die friedliche Demokratie. Einen anderen Schutz gibt es nicht. Wir sind auf dieser Erde verdammt, uns zu vertragen. Und das geschieht uns recht.
Was also kann der kleine Bürger für den großen Frieden tun? Es bleibt eine schwierige Balance zwischen sich keine Illusionen machen und nicht resignieren. Vom Kochen eines heißen Tees für Blockierer, bis zur öffentlichen Diskussion über die Ethik des zweifellos Arbeitsplätze schaffenden Rüstungsexports, über die Erörterung der Rechtmäßigkeit der Nutzungsrechte amerikanischer Militärbasen in Deutschland und zur Einmischung in das weltweite Nachdenken über Prävention und Ergänzungen zum Völkerrecht liegt wahrlich ein weites Spektrum für Unbotmäßigkeit. Vorschlag für ein konkretes Nahziel: Deutschland setzt sich bei Neuverhandlungen für die Ächtung des Angriffskrieges in der EU-Verfassung ein. Dies wäre immerhin ein Zeichen dafür, dass wir uns von der vor 60 Jahren von unserem Boden ausgegangenen imperialen Logik endgültig befreit haben.