Vor einiger Zeit war im Fernsehen ein Bericht über den Abstieg des FC Chemnitz aus der Zweiten Fußball-Bundesliga zu sehen, der deshalb passiert war, weil die Mannschaft von Mainz gegen die von Bochum gewonnen hatte und so gerettet wurde. Gegen Ende des Beitrags konnte man einen jungen Chemnitzer heulen sehen, der natürlich eine Verschwörung der Wessis vermutete und unter Tränen die Wiedereinführung der DDR-Oberliga verlangte, „weil: diesen Scheiß-Westen brauchen wir echt nicht”. Da ist mir wieder Daniela Dahns jüngstes Buch eingefallen, obwohl sie darin kein Wort über Fußball schreibt.
Die Sache ist auch so ein wenig verwirrend – geographisch, historisch, politisch: Daniela Dahn ist eine deutsche Schriftstellerin, wohnt im Berliner Osten und hat gerade in einem westdeutschen Verlag (bei Rowohlt/Berlin) ein ganz und gar ostdeutsches Buch vorgelegt; es heißt „westwärts und nicht vergessen”, ein Titel, der — außer mit einem in der DDR häufig gesungenen Brechtschen Lied — mit einer wunderbaren Anekdote spielt, die im Klappentext abgedruckt ist: Der ostdeutsche Dichter Erwin Strittmatter, so steht da, habe 1963 ein Gedicht für die Frauenzeitschrift Für Dich geschrieben, das von einer schwimmenden Ente handelte, deren Augen „nestwärts gewandt” waren. Als der diensthabende Redakteur den Andruck bekommen habe, sei durch einen Setzfehler leider „westwärts” dar-aus geworden: „Das Originalmanuskript war nicht zu finden, der Dichter nicht erreichbar – ein ideologischer Notfall all also.” Als die Illustrierte erschien, waren die Augen der Ente ostwärts gewandt.
Das Buch hält inzwischen, ostwärts gewandt, auf der Bestsellerliste Ost des Neuen Deutschland Platz zwei, gleich hinter Manfred Krug und vor Gysi; in München wiederum braucht man lange, bis man auf eine Buchhändlerin stößt, die von dem Buch je gehört hat: Da drängt sich der Verdacht auf, daß die Himmelsrichtungen in Deutschland nicht nur für Enten noch immer von entscheidender Bedeutung sind. Wer Genaueres wissen will, schwimmt etwa tausend Kilometer nach Osten und trifft an einem sonnigen Nachmittag Frau Dahn vor der Akademie der Schönen Künste.
Das Spannendste an Daniela Dahns Buch ist erst einmal, was sie von seiner Aufnahme in beiden Teilen Deutschlands erzählt; die bestätigt nämlich exakt die Motive, aus denen heraus sie das Buch geschrieben hat: Das Buch ist im Frühjahr erschienen, ein paar Monate später hatte Frau Dahn schon eine Reihe von Anfragen für Lesungen im ganzen Land. Genaugenommen waren es vierzig Anfragen aus dem Osten und keine einzige aus dem Westen (wenn man einen Auftritt bei Literaturtagen in Weiden nicht mitzählt, bei dem sie so heftig angegriffen wurde, daß sie noch heute darüber grübelt, was ihr da passiert ist). Daniela Dahn Ist also eine deutsche Schrifstellerin – aber nur für das halbe Deutschland. Genau für die Hälfte, für die ihr jüngstes Buch nicht` zuerst gedacht ist.
Es hat eine Botschaft an den Westen der Republik, die man, sehr holzschnittartig, so zusammenfassen könnte: Wenn ihr noch lange so auf uns, unserem Selbstwertgefühl, unserem bisherigen Leben herumhackt, dann könnten wir euch einmal erklären, daß und warum ihr so großartig vielleicht gar nicht seid, wie ihr euch und uns dauernd vormacht; in diesem Fall würden wir nicht darum herum-kommen, die zwei Deutschlands miteinander zu vergleichen.
Daniela Dahn hat schon einmal damit angefangen, und zwar in deutlicher Sprache: Soweit ich sehe, hat seit der Wiedervereinigung niemand anderer so scharf und so wenig schüchtern die zwei Staaten verglichen. Daß das gut geht – bei allen Einwänden im Detail —, hat vor allem damit zu tun, daß ihre Streitschrift intelligent gemacht ist. Und daß die Autorin persönlich unangreifbar ist.
Man muß diesen letzten Satz wenigstens kurz belegen — auch das ist anders als bei westdeutschen Autoren, deren Lebenslauf, samt Irrungen und Wirrungen, bei Rezensionen eher selten eine Rolle spielt. Also: Frau Dahn ist in die DDR hineingeboren worden als Tochter aus gutbürgerlichem, auch privilegiertem Hause, der Vater war später ein renommierter Journalist in Ostberlin. Als Daniela klein war, hatte sie die Hauptrolle in einem Kinderfilm der Defa, mit elf Jahren verschlug es sie („Ich heulte drei Tage“) für ein paar Monate nach Bayern, dort-hin, wo es am finstersten war und wo die Mädchen ihrer Klasse sie schon mal gefragt haben, wie oft sie Chruschtschow schon begegnet sei, wo sie doch aus dem Osten komme. Gleich als sie glücklich wieder zurück war in der Großstadt, wurde die Mauer hochgezogen, was bei ihr – neben Schock und Erschrecken — auch ein Gefühl der, Erleichterung auslöste. Gott sei Dank, da kann mich keiner mehr hinschicken.“ So kompliziert kann das Leben sein.
Später ist die Heranwachsende in . der FDJ gewesen, ist dort unangenehm auf-gefallen durch die Verfertigung einer Wandzeitung („… wird deutlich, daß ihre Position negativ im Sinne eines parteilichen Standpunktes ist“), was sie nichtdaran hinderte, in die SED zu gehen, wo sie wieder nicht stillhielt. Sie fand freilich den Ärger, den sie damit bekam, in Ordnung: „Fast alle engagierten, reflektieren-den Leute, die ich bis dahin kannte, waren in der SED. Es schien mir eine Art Intelligenzclub, in dem Streit angesagt war.“ Den Streit konnte die Partei haben; soweit es an Daniela D. lag, zum Beispiel nach der Biermann-Ausbürgerung, als sie — inzwischen war sie Journalistin – ziemlich allein mit zitternder Stimme gegen 120 Kollegen auf ihrem Standpunkt beharrte, Kritik könne man nicht ausbürgern. Anfang der achtziger Jahre war ihr klar, daß sie in der DDR als Journalistin nicht mehr arbeiten ‚ konnte, ohne die Selbstachtung zu verlieren. Sie kündigte beim Fernsehen und wurde freie Schriftstellerin.
Das liest sich jetzt vielleicht so, als stilisiere sich Frau Dahn in ihrem Buch als ständige Widerstandskämpferin und Dauerverfolgte des Systems. Das tut sie nicht, so ist sie nicht gestrickt — nun so war es eben auch nicht. Sie ist nur offen-bar eine von jenen Frauen, die sich nicht so richtig fürchten können, vor nichts und niemandem — und jetzt eben auch nicht vor den Westmenschen, die ihr dauernd erklären wollen, wie finster das Leben war, das sie vor dem 9. November des Jahres 1989 gelebt hat, und wie froh sie sein muß, daß sie nun im Paradies angekommen ist: Sie besteht darauf, daß sie nicht froh sein muß und daß sie nun auch
nicht im Paradies lebt, sondern nur in einem Staatswesen, in dem ihr manches Freude macht (was sie vermutlich noch lieber und lauter zugäbe, wenn man es ihr und ihresgleichen nicht dauernd abverlangte) — und manches auch gar nicht. Daß sie. sich das zu schreiben traut, er-klärt ihren Erfolg im Osten.
Zu den spannendsten und den Westen am meisten provozierenden Kapiteln ih-res Buches gehören freilich die, in denen sie ein paar Entwicklungen nebeneinander hält, ohne sie deshalb gleichzusetzen: Zum Beispiel vergleicht sie das Unrecht der politischen Justiz in der DDR mit jenem der Bundesrepublik. Was die DDR angeht, so sei die politische Justiz „für mich das düsterste Kapitel” — das belegt sie mit Zahlen und Beispielen und beschönigt nichts. Aber dann nimmt sie sich eben auch das Recht, von der politischen Justiz des Rechtsstaats Bundesrepublik zu sprechen, von den 125000 bis 200 000 Ermittlungsverfahren gegen Kommunisten in den Jahren 1951 bis 1968 oder vom Gewerkschafter Gerd Pannach, den man 1961 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hat, weil er auf dem Bahnhofvorplatz in Meiderich rote Nelken verkauft und da-mit »in demonstrativer Form den organisatorischen Zusammenhalt unter Anhängern der illegalen KPD gefördert hat“.
Das Buch wäre nicht so provokant, wenn sich die Autorin nicht ein paar Zuspitzungen erlauben würde, die nicht gerecht und nicht angemessen sind. Wenn es um die 248 Toten an der Mauer geht, ist es geschmacklos, mit Zahlen zu operieren, nämlich mit der Tatsache, „daß von 100 Prozent, die, aktiv geworden sind, um das Land zu verlassen, 0,06. diesen Versuch mit dem Leben bezahlt haben”. (Frau Dahn weiß, daß das für die Hinterbliebenen zynisch klingt, sie schreibt das ausdrücklich – und mag es sich trotzdem nicht verkneifen, auch diese Rechnung aufzumachen, aus Trotz, wie man vermuten darf.) Überhaupt ist einiges höchst angreifbar zum Beispiel die Passage, in der. sie dem historischen Stalinismus den „Finanzstalinismus” der BRD gegenüber-stellt, was man wohl nicht unbedingt für eine nützliche Anmerkung halten muß.
Nicht vorwerfen` kann man ihr, daß sie nicht gründlich recherchiert hätte. Wenn sie die Ungleichbehandlung von Alt-Nazis und Alt-Kommunisten in Deutschland behauptet, dann geht sie tief ins juristische Detail; und wenn sie sich über ein angebliches Lenin-Zitat ärgert, das der Außenminister Kinkel als Argument gegen die Kommunisten benutzt, recherchiert sie so lange, bis sie herausfindet, daß der Satz („Uns ist alles erlaubt«) nicht von Lenin stammt, sondern von einem ukrainischen Provinzredakteur inmitten des Bürgerkriegs geschrieben wurde. Da-nach atmet sie auf und formuliert: „Unterstellungen delegitimieren nur denjenigen, der meint, ihm sei alles erlaubt.”
Petitessen, klar, wer macht schon soviel Aufhebens wegen eines Fehlers im Zettelkasten? Manchmal muß man das aber; und noch wichtiger ist das zur Kenntnis nehmen im Westen des Landes, der nicht aufhören kann, sich zu wundern über die sich ständig‘ verbreiternde Kluft zwischen Ost und West, zwischen der DDR-Oberliga und den reichen Clubs im Westen.
Übrigens scheint es inzwischen doch so, als bliebe Frau Dahns Buch nicht ohne Wirkung im Westen, auch wenn es dort kaum gelesen wird. Die erstaunlichste Kritik bisher hat im Handelsblatt gestanden, und sie stammt vom CDU-Staatssekretär Lammert im Bonner Wirtschaftsministerium: „Es gibt gewiß pflegeleichtere Beiträge zur inneren Lage der vereinten Nation” hat er geschrieben, „aber kaum bessere oder wichtigere”.
Manchmal ist das Land dann doch für Überraschungen gut. Und Chemnitz steigt bestimmt auch wieder auf.