NAHER OSTEN – Auf der Suche nach dem vernünftigen Tier. Lösungen sind ein Wagnis, das im Kopf beginnt
Sie sind alle verrückt geworden – das ist derzeit die häufigste Diagnose jedweder Gesprächspartner, wenn es um den Krieg zwischen Israel und Libanon geht. Und immer die bange Frage: Was soll werden? Wenn schon ein Moderator des ARD-Presseclubs in unerhörter Weise glaubt prophezeien zu müssen, dass Israel nicht zu halten sein wird und Europa die Juden wieder wird aufnehmen müssen. Für welchen Fall, erschrickt man da, hat Israel eigentlich die Atombombe?
Diese neuerliche Eskalation im Nahen Osten wirft uns zurück auf eine uralte Frage: Ist der Mensch ein gemeinschaftsfähiges Wesen? Ein zoon politikon? Die Antike hat es bejaht, besänftigt durch das milde Licht der griechischen Hochkultur. Das vernünftige Tier, nannte Aristoteles den Menschen. Zu den Gemeinschaftsfähigen zählte er Männer seinesgleichen – Minderbemittelte, Frauen und Sklaven standen wie selbstverständlich außer Betracht. Unter Gleichen ist Verträglichkeit allerdings keine übermäßig große Kunst.
Wenig später wussten die Chronisten der biblischen Geschichten von Gott, dem Gleichnislosen, nichts als das Bild einer Sehnsucht, dagegen alles vom Menschen. Aus dem Paradies vertrieben, beschreiben sie ihn als von Ängsten Gehetzten, auf der vergeblichen Suche nach Glück und Anerkennung. Wir, ausgestattet mit den Genen Kains, des Brudermörders, sind offenbar auf einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf programmiert.
Die fortschreitende Zivilisation stärkte nicht unbedingt das Vertrauen in die verträgliche Vernunft. Aufklärung war auch Einsicht in die egoistische Begrenztheit menschlicher Triebe. Ausgleich versprach man sich vom volonté général, dem allgemeinen Willen des dennoch auf Gemeinschaft angewiesenen und deshalb dem Wohl des Ganzen verpflichteten Souveräns. Rousseau, wichtigster geistiger Wegbereiter der amerikanischen und der französischen Revolution, misstraute der vernunftbegabten menschlichen Natur und hielt stattdessen nur ein einziges Motiv für eine zuverlässige Größe: Die Selbstliebe. Nach der Devise: Sorge für dein Wohl mit dem geringst möglichen Schaden für andere.
Doch betrachtet man das universelle Ausmaß des von Menschen einander zugefügten Leidens, so kann man sich der Kritik der Urteilskraft nur anschließen.
Auch Kant ortete in der Natur die Schranken menschlicher Vernunft. Deshalb sollten Menschen ihre wilde Freiheit aufgeben und sich „zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen“, wie auch Staaten den gesetzlosen Zustand, der „lauter Krieg enthält“, zugunsten eines völkerrechtlichen Friedensbundes aufgeben müssten. In einem solchen Völkerstaat sah er den Weg zum ewigen Frieden.
Inzwischen haben wir dieses Völkerrecht. Krieg ist seit 1928 geächtet. Und doch wird die Menschheit diese Geißel nicht los, sie lässt die Mächtigen gewähren, wenn sie die Gesetze brechen oder verbiegen.
Ein Völkerrecht als ein Recht zum Krieg war für Kant undenkbar, „es müsste denn darunter verstanden werden: dass Menschen, die so gesinnet sind, ganz recht geschieht, wenn sie sich untereinander aufreiben“.
Die Mehrheit der Israelis, der Libanesen und Palästinenser ist derzeit offenbar so gesinnet, dass sie sich mit der mörderischen Gewalt ihrer Kombattanten im Recht glauben. Und sich von der Minderheit der Friedensdissidenten auf allen Seiten nicht zur Vernunft bringen lassen, sondern diese als Verräter beschimpfen. Geschieht der Mehrheit also ganz recht?
Auch sehen sich weder die deutsche Regierung, noch die Europäische Union, noch die Vereinten Nationen genötigt, unverzüglich und unmissverständlich den bedingungslosen Stopp dieses beiderseitigen wahnhaften Beschießens und Besetzens zu fordern. Und keine übermächtige Friedensbewegung aufgeschreckter Bürger verlangt es ihnen ab. Wer fragt hierzulande mit Nachdruck, ob denn der besonderen deutschen Verantwortung für Israel dadurch gerecht zu werden ist, dass man entgegen den selbstauferlegten Rüstungskontroll-Kriterien unlängst modernste U-Boote der Delphin-Klasse und vermutlich auch Streubomben in dieses „Spannungsgebiet“ verkauft hat? Geschieht auch uns ganz recht, wenn wir es auf eine Ausweitung dieses Krieges mit unabsehbaren Folgen für uns selbst ankommen lassen?
Kriege werden nicht von Völkern gewonnen. Nur von Regierungen. Eine Minderheit verdient dabei so viel, wie die Menge draufzahlt. Das war schon immer so. Warum lassen sich das die Menschen seit mehr als zwei Jahrtausenden gefallen? Ohne die Mobilisierung von Hass und Rache, ohne die Lust auf Aggression und Tod, ohne den Missbrauch religiöser Gefühle und patriotischer Ideen, ohne Unwissen und Desinformation – kurzum ohne die herrschende Paranoia, wäre so viel Vernichtungswille nicht nachvollziehbar. Völker sind nur kriegslüstern, wenn sie durch Propaganda vergiftet sind. Indoktriniert von Schule, Medien, Religion.
Gegen diese Massenpsychose haben Einzelne und oppositionelle Minderheiten immer wieder alles gesagt, was zu sagen ist – vergeblich. Es bleibt nichts, als einen Sommertag zu opfern und zu wiederholen, was nach der abertausendsten Wiederholung vielleicht doch die Idee zur die Massen ergreifenden, praktischen Vernunft werden lassen könnte:
Krieg, diese Orgie von Töten und Zerstören, ist das absolute Grauen an sich. Er macht mehr böses Blut, als er wegnimmt. Und zeugt so den nächsten Krieg. Die Zivilisation muss von Zivilisten verteidigt werden. Der Frieden verlangt die gleichen Anstrengungen, die wir widerstandslos für den Krieg aufgebracht haben. Jeder könnte genug zu essen haben, genug Arbeit und Geld, wenn die Reichtümer der Welt gerecht verteilt würden. Sich für den Frieden rüsten bedeutet, Bildung, Kunst und Kultur zu finanzieren. Menschen, denen die Erfahrung eines sich bessernden Lebens vergönnt ist, werden dieses Gut verteidigen wollen. Die Bürger müssen sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien und garantieren, dass ihr Staat auf dem Weg zur internationalen Sicherheit das Völkerrecht einhält und bereit ist, dafür bedingungslos auf einen Teil seiner Handlungsfreiheit zu verzichten.
Was würde das für den Nahen Osten bedeuten? Kurzfristig sind nur erzwungene Kompromisse denkbar, Lösungen brauchen Zeit. Denn sie sind ein Wagnis, das im Kopf beginnt. Zunächst mit der Einsicht, dass moderner Terrorismus mit Krieg nicht zu bekämpfen ist. Die Verzweiflung einer lebenden Bombe besiegt jede High-Tech-Waffe. Sie führt den Krieg letztlich ad absurdum. Sie stellt ihn bloß in seiner Maßlosigkeit und zeigt, wie der Krieg selbst zur schlimmsten Form von Terrorismus wird. Militante Regierungen müssen mit terroristischen Organisationen verhandeln. Man kann nur mit Feinden Frieden schließen. Wir sind auf dieser Erde trotz allem verdammt, uns zu vertragen.
Auch eine weitere erzwungene Waffenruhe wird deshalb allein nicht genügen. Alle Staaten, die helfen wollen, zumindest jene, die in der Region Schuld auf sich geladen haben, müssten mit den Mitteln, die einst für Rüstung ausgegeben wurden, eine besänftigte Nachbarschaft organisieren. Mit akzeptierten Grenzen, innerhalb derer alle von wirtschaftlichen Anreizen profitieren. Gefangene wären freizulassen und am Wiederaufbau zu beteiligen.
Auf Dauer hilft kein robustes Mandat, sondern ein sensibles. Mit der Aufgabe, Hass, Missverständnisse und soziale Missstände abzubauen. Ein Heer von Entwicklungshelfern, Friedensforschern, Psychologen, Lehrern, Filmemachern und Autoren auf der Suche nach dem vernünftigen Tier. Mit all seinen Hoffnungen und Gefühlen, die – welch Überraschung – auf beiden Seiten ähnlicher sind, als man dachte.
Die Helfer müssten nicht nach spaltbarem Uran, sondern nach spaltenden Schulbüchern suchen. Sie würden Sprachen lehren, Kongresse, Ausstellungen, Sportwettkämpfe, Städtepartnerschaften und Patenklassen organisieren. Auf den Theaterbühnen verkündete Nathan der Weise seine Ringparabel auf Arabisch und Hebräisch. Die Selbstliebe des anderen dürfte nicht durch Arroganz und Verachtung verletzt, sondern müsste durch gutnachbarschaftliche Gesten wie Gastgeschenke und Einladungen gestärkt werden. Wenn mit diesem eigennützigen Programm unverzüglich begonnen würde, könnte es, nach unvermeidlichen kleineren Rückschlägen, in zwei Generationen Erfolg haben. Es würde gehen.
Aber es wird nicht gehen. Eine solche Lösung ist ungeeignet für eitle Politiker, die schnell als Heroen in die Geschichte eingehen wollen. Und für selbstsüchtige Geschäftemacher, die, ungestört von sozialen Bewegungen, ihren Gewinn maximieren.
Es würde – aber es wird nicht. Ins Vakuum der Differenz strömt resignativer Wahn oder revoltierende Vernunft.