Stimmen der Toten – Lesung für Egon Bahr im Lichtraum des Dorotheenstädtischen Friedhofs

Ich erinnere mich gut an die Trauerfeier für Egon Bahr in dieser Kapelle, mit Reden von Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Friedrich Schorlemmer und Axel Schmidt-Gödelitz. Und gerade deshalb freue ich mich über die relativ neue Tradition, auf diesem besonderem Friedhof, die Stimmen der hier Begrabenen Größen aus Kultur und Politik lebendig zu halten. Dadurch ist man hier auf unmittelbare Art mit seinen Lieben und Verehrten im Gespräch.

Für mich war Egon Bahr ein zeitgemäßer Nathan der Weise. Die Verkörperung eines Mannes, der die Vision von Toleranz und Menschlichkeit herbeiverhandelt. Eine Gestalt, wie es sie in jedem Jahrhundert nur wenige gibt. Zu intellektuell, zu lakonisch, zu ironisch, um ein politisches Spitzenamt zu besetzen. Dafür aber in der Rolle des kreativen, auch geheimen Konzepteschmieders, dessen Logik so bestechend ist, dass alle überzeugt sind, es sei das Beste für sie, nach seiner Pfeife zu tanzen. Oder gar nicht merken, dass sie es tun. Damit war er nicht unzufrieden. Im Dialog hatte er die Interessen der anderen Seite immer vor Augen. So näherte er sich an, dabei sich selbst wandelnd. So brachte er neues Denken in die Politik. Perestroika – eigentlich hat Egon Bahr damit begonnen.

Zu den Dingen, die ich mir in der DDR (Ostzeiten) nie hätte träumen lassen gehört, dass ich einmal mit dem bewunderten Politiker Bahr nicht nur bekannt, sondern sogar freundschaftlich verbunden sein würde. Ich habe erleben dürfen, wie nahe unsere kritischen Auffassungen über den Weg der deutschen Vereinigung waren, wie ich in Egon Bahr eine solidarische Stütze hatte, wenn die Angriffe allzu heftig wurden. Doch dazu später.

Aus meiner Sicht war das alles andere als selbstverständlich, zumal auch Egon Bahr eine bemerkenswerte politische Entwicklung hinter sich hatte. Selbst nicht mehr jung, tut es doch gut zu sagen: Ich bin zu jung, um mich daran zu erinnern, dass Egon Bahr, wie er selbst zugab, in den 50er und Anfang der 60er Jahren selbst noch ein kalter Krieger war. Als Chefredakteur des Rias hat er am 16. Und 17. Juni 1953 aktiv in den Verlauf dieser Tage eingegriffen, indem er der Abordnung der Streikenden im Funkhaus nicht nur zusagte, zum Aufstand gegen die Normen aufzurufen, sondern mit ihnen weitere Forderungen formulierte. Er hat bescheiden durchblicken lassen, dass die Arbeiter über die Normen hinaus keine genaue Vorstellungen über weitergehende Forderungen hatten. Da konnte er nachhelfen.

Sie reichten schließlich vom Rücktritt der Regierung bis zur Deutschen Einheit. Der amerikanische Hochkommissar McCloy rief aufgeregt beim Rias an und fragte, ob dieser den 3. Weltkrieg beginnen wolle. Die weitere Verbreitung dieser Forderungen wurde untersagt. Um sie dennoch senden zu können, gehörte Bahr zu den Rias-Mitarbeitern, die in der Nacht des 16. Juni den DGB-Chef Scharnowski aus dem Bett holten und ihn überzeugten die Forderungen der Streikenden zu übernehmen. Das war eine Meldung, die gesendet werden konnte und den Verlauf des 17. Juni wesentlich mitbestimmte. Die in Bahrs Redaktionszimmer formulierten Forderungen wurden nun von den Streikenden übernommen. „Der Rias war, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, zum Katalysator des Aufstandes geworden. Ohne den Rias hätte es den Aufstand so nicht gegeben“, schrieb Bahr in seinen Erinnerungen: Zu meiner Zeit. Dass die Unterstützung wirklich so ohne Wissen und Wollen geschehen ist, kann ich mir bei dem später tricky-Egon Genannten allerdings kaum vorstellen.

Auch 1963 in seiner berühmten Tutzinger Rede, in der erstmalig der Begriff „Wandel durch Annäherung“ geprägt wurde, war die Wortwahl noch eindeutig. Er sprach von dem „verhassten Regime in der Zone“, mit dem Erleichterungen zu erreichen allerdings nicht gegen es und gegen die Sowjetunion möglich wären, sondern nur mit ihnen. Das war der völlig neue Ansatz, „rasend unbequeme“, wie er ihn nannte, aber logisch. In den vielen Jahren der Verhandlungen in Moskau und Ostberlin und den vielen sich daraus ergebenden Verträgen, ist Egon Bahr im Denken und Sprechen sehr viel milder geworden. Er sprach von Kommunisten als von Genossen, die sich im Weg geirrt hätten. Die Annäherung hatte auch ihn gewandelt.

Heute, da es auf beiden Seiten größte Irritationen über die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges gibt, fehlt die Stimme von Egon Bahr besonders. Vielleicht hat es aber auch etwas Tröstliches, dass er den fortschreitenden Niedergang seiner einst stolzen Sozialdemokratie nicht mehr erleben musste. Dennoch wäre man neugierig zu hören, was er wohl sagen würde, zu den ganz neuen Tönen, die längerfristig von einer Fusion der ein Jahrhundert lang zerstrittenen, einstigen Arbeiterparteien ausgehen.

Seine 1996 erschienenen Erinnerungen enden unmittelbar nach der Wende. Mit der Anfrage des damaligen DDR-Verteidigungsministers Rainer Eppelmann, ob Egon Bahr als sein Berater fungieren wolle. Bahr stimmte zu und trat im Sommer 1990 seinen Dienst an. Mit Erstaunen muss er in einem konkreten Bereich zur Kenntnis nehmen, wie die Einheit in allen Bereichen organisiert wurde: demütigend, plattmachend, ohne Kenntnis und Einfühlungsvermögen. „Unwillkürlich fühlte ich mich auf der ostdeutschen Seite gegenüber dem Unverständnis und der Kälte mancher Westdeutscher“, schrieb Bahr. „Fast verfassungswidrig“ sei vom Gesetzgeber entschieden worden, dass DDR-Offizieren das Führen ihrer Rangabzeichen zu versagen, weil sie einem „fremden Heer“ gedient hatten. Er nannte das Erlebte einen „monatelangen Rausch der Exekutive“:

Die Abgeordneten hätten den fast tausendseitigen Einigungsvertrag an einem Donnerstag Abend bekommen, am Freitag früh sollte er verabschiedet werden. „Die meisten hatten das Konvolut über Nacht nicht einmal durchlesen, geschweige denn durchdenken können, von der Möglichkeit ganz abgesehen, für die Wegmarkierung unseres Landes vielleicht Änderungen vorzuschlagen, sie beraten zu wollen. Weniger als ein Notar, der seine Mandanten berät, und alles vorliest, ehe sie unterschreiben, hat der Bundestag nur formal seinen parlamentarischen Stempel gegeben.“

Heute, da mehr denn je darüber geredet wird, weshalb die Demütigung des Ostens in braune Gefilde geführt hat, ist es um so interessanter an die frühen Warnungen von Egon Bahr zu erinnern. Er schreibt, dass allein das „bewegliche Material“, also die Waffen der NVA einen Wert von 80 Milliarden Westmark hatten. Die „waffentechnischen Leckerbissen“ wie die gefürchteten MIC 29 habe man sich gerettet, das Übrige als Abrüstungsmasse, zu der Deutschland im Rahmen der Wiener Verhandlungen verpflichtet wurde, an Verbündete, meist im Nahen Osten, vergeben. „Die alte Bundeswehr schränkte sich um die Auflagen zu erfüllen um 10 % ihrer Berufs- und Zeitsoldaten ein, bei der NVA blieben 10% übrig, darunter nicht ein einziger General oder Admiral… Der Rasierschnitt schloss jeden von der Bundeswehr aus, der bei der NVA mehr als Oberst geworden war… Die Chance, innere Einheit am Modell Bundeswehr zu demonstrieren, war vorbei… Es wurde übernommen, abgewickelt, verschrottet, eingeschmolzen, aufgelöst, übergeben.“ Der NVA sei nichts anderes passiert als dem Land und seinen Menschen insgesamt. (Er erinnerte auch daran, wie Genscher im Außenministerium sämtliche Angehörige des Höheren Dienstes aus schloss und damit auf wertvolle Erfahrungen verzichtete.)

Diese Nachwende-Erfahrungen haben Egon Bahr stark geprägt und ihn veranlasst, sich künftig für materielle und ideelle Gerechtigkeit gegenüber den Ostdeutschen und Osteuropäern, besonders den ihm in den Verhandlungsjahren nahe gekommenen Russen einzusetzen. Dafür war er gelegentlich auch heftigen Angriffen ausgesetzt. Diese Grundhaltung war die Voraussetzung für unser Kennenlernen. Bahr war durch und durch Politiker, weshalb es hier natürlich um Politik gehen muss. Aber er war auch ein außergewöhnlicher Mensch – woran zu erinnern mir nach meinen Möglichkeiten wichtig ist.

Zuerst begegneten wir uns im Herbst 1996 auf einem Podium der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ich lernte ihn über sein verschmitztes Lächeln kennen, als er sagte, mein Buch „Westwärts und nicht vergessen“ sei die erste Schrift, mit einer offensiv östlichen Sicht. Ich hatte darin mein Unbehagen in Einheit beschrieben, als Autorin, Antifaschistin, Linke, Frau. Und meinen respektlosen Umgang mit dem pithekoiden Charakter der Männer.

Ein Jahr später stellten wir auf einer Pressekonferenz gemeinsam mit Günter Grass und Peter Brandt den Gründungsaufruf des „Willy-Brandt-Kreises“ vor: Ein überparteiliches Forum zu Alternativen gegen die herrschende Konzeptionslosigkeit. Unsere Thesen:
° Der ungebändigte Kapitalismus untergräbt die natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens und die Grundlagen der Demokratie.
° Die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft hat sich als gigantische Umverteilungsaktion zugunsten westdeutscher Kapitalinhaber herausgestellt.
° Eine Erweiterung der Nato gefährdet die gemeinsame Sicherheit mit Russland.

Auf dieser Grundlage haben wir 18 Jahre lang, bis zu seinem Tod 2015, zwei, dreimal im Jahr intensiv diskutiert. Egon Bahr hat dafür gesorgt, dass das diskrete Gespräch zwischen PDS, später Linken, parteilosen Sympathisanten und Sozialdemokraten auch in nach außen angespannten Jahren nie verloschen ist.

Aus so viel politischem Miteinander erwuchs mit der Zeit auch persönliche Nähe. Wir haben manches Fest miteinander gefeiert und uns gegenseitig besucht. Man sollte sich Egon Bahr daher keineswegs nur in Spitzenhotels unter Spitzenpolitikern vorstellen. Sondern durchaus auch auf harten Küchenbänken, in einfachen Büdnereien. Natürlich wollte man da als Gastgeber das Beste herausholen. Wir hatten den Gartentisch in die milde Sonne gestellt, direkt an den Feldrand, wo die leichte Brise den süßen Duft von Phlox vorbei schickt und der Blick übers gewellte Land am schönsten ist. Doch eine halbe Stunde bevor er kommen sollte, knatterte ein Güllewagen heran und begann, direkt neben unserem Tisch, Spur um Spur, seine bestialisch stinkende Fracht zu versprühen. Wir konnten das fürs Wochenende angereiste Paar nur so schnell wie möglich ins Haus locken, um danach bloß keine Tür und kein Fenster mehr zu öffnen. Tag und Nacht nicht. Am nächsten Morgen regnete es in Strömen, was den Gestank etwas milderte, aber ansonsten auch nicht vorgesehen war. Und dann gelang selbst der Rollbraten nicht so, wie beim letzten Mal. Es war ein Desaster. Doch unsere beiden Gäste saßen die ganze Zeit wohlgelaunt auf besagter Bank und redeten über Spott und die Welt, an vorzeitige Abreise nicht denkend.

Egon Bahr analysierte wie immer glasklar die aktuelle Weltlage. So wie früher die Entspannung zwischen Ost- und Westdeutschland für ihn im Mittelpunkt stand, war es jetzt die Entspannung mit Russland. Er verurteile die Nato-Osterweiterung.
Aber es war auch Gelegenheit, Persönliches zu erzählen. Wie er als junger Mann gern Musik studiert hätte, aber wegen seiner jüdischen Großmutter nicht an die Universität zugelassen wurde. (Was seine Kollegen von der CDU gelegentlich bedauert hätten.) Er sprach über seine Vorliebe für russische Musik, besonders Schostakowitsch und Tschaikowsky.

Zum Glück hatten wir eine CD mit Lieblingsmusik von Marc Chagall da, auf der der berühmte Jazz-Walzer von Schostakowitsch war, was die Stimmung in der Küche weiter belebte.

Ein wichtiges Thema war ihm immer auch die Annäherung der beiden aus der Arbeiterbewegung stammenden deutschen Parteien. Mit Rot-Rot-Grün verband sich für den leidenschaftlichen Sozialdemokraten die Hoffnung auf einen wirklichen Politikwechsel. Schon als er Anfang 1997 unsere dies fordernde Erfurter Erklärung mitunterzeichnete, die Künstler, Theologen und Gewerkschafter formuliert hatten. Also „intellektuelle Anstifter auf der Straße des Verrats“, wie Kanzler Kohl sie nannte.

Verrat, gar Landesverrat, dieser Vorwurf war dem Unterhändler der Moskauer Verträge nicht neu. Sein Fell war nicht so dick, wie viele annahmen. Das schmerzte den immer auch auf das Wohl der Nation bedachten. Und es machte sensibel für die Situation anderweitig Bescholtener. Wer in seiner Nähe in Bedrängnis geriet, erlebte Egon Bahr als einfühlsamen, solidarischen, verlässlichen Freund.

Selbst solcher Randständigen wie mir hat er einst aus großer Verlegenheit geholfen, als Rita Süssmuth am Vorabend der Verleihung der Luise-Schröder-Medaille ihre lange zugesagte Laudatio absagte, weil ihre Parteizentrale Anstoß an einzelnen Thesen meiner Bücher genommen hatte und entsprechende Medien bezweifelten, ob ich wohl noch auf dem Boden der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung stünde. Egon Bahr sprang auf Wunsch des Kultursenators ein, schrieb über Nacht eine Rede und hielt sie im Berliner Roten Rathaus, wie ich es mir besser nicht hätte wünschen können.

Vier Mal hat sich Egon Bahr nach Angriffen derart solidarisch für mich eingesetzt. Die Dankbarkeit dafür ist anhaltend und es ist mir eine Genugtuung, an diesem geheiligten Ort an seine Art, sich für andere einzusetzen, erinnern zu dürfen. 2009, bei der Premiere meines Buches „Wehe dem Sieger“ verwahrte er sich in seiner  Einführung gegen „widerwärtige Heckenschützen“, die nach der Methode vorgingen, von der Beschäftigung mit dem Inhalt abzulenken, indem sie mit unlauteren Mitteln die Glaubwürdigkeit der Person diffamieren. All das kannte er selbst gut. Dennoch kam er mir in dieser kleinen Rede auch inhaltlich sehr weit entgegen. Im Zusammenhang mit den Auswüchsen des Kapitalismus stimmte er mir zu, dass es um einen „verfassungsgerechten Systemwechsel“ gehen könne. Willy Brandt habe ihm einmal gesagt, so Bahr, je älter er werde, so linker fühle er sich. Und auch in diesem Punkt hat er es seinem Freund gleichgetan.

Er wiederum war dankbar und neugierig, wenn man ihm neue Bekannte, einen besonderen Kultur-Tipp, eine anregende Idee, einen eigenwilligen Text zu bieten hatte. Er war ein passionierter Leser, sogar dicker Bücher. Nur langweilen durfte man ihn nicht. Wer als Urteil ein „Donnerwetter“ zu hören bekam, konnte beruhigt sein. Denn die Steigerung seiner Gunst war: Doll. Fabelhaft. Donnerwetter.

Ein einziges Mal habe ich einen gehörigen Wutausbruch bei ihm erlebt. Eines seiner Reizthemen war, wie nach 1990 von der Stasi-Unterlagen-Behörde mit Hilfe vieler Medien die Kultur der Denunziation weitergepflegt wurde. In seinem Buch „Ostwärts und nichts vergessen!“ beklagte er mit Blick auf die Praktiken der Vereinigung einmal mehr: „Der wirklich große Fehler war, dass man den Eindruck erweckt hat, als ob die Stasi wichtiger gewesen wäre als der ganze Staat, die Partei und alles, was dazu gehörte, als ob es ein Stasi-Staat gewesen wäre. Und dass die Stasi-Akten benutzt worden sind, als ob es sich um Bibeltexte handelte.“ Der als Gast in den Brandt-Kreis geladene Roland Jahn, der das Erbe von Gauck angetreten hatte, wusste gar nicht, wie ihm geschah, als Bahr losbrüllte. Eine auf Geheimdienstakten verengte Geschichtsschreibung sei unmöglich, besonders wenn die den Westen betreffenden Akten Tabu sind und das aufschlussreichste Drittel der Ostakten vernichtet sind. Damit sei die Objektivität auf Zufälligkeit reduziert und dem Auffüllen der Leerstellen durch politische Spekulation Tür und Tor geöffnet.

Egon Bahr, der lange das Friedensforschungsinstitut in Hamburg geleitet hat, ist diesem Anliegen auch in seinen letzten Jahren eng verbunden geblieben. „Alle erkennbaren Probleme, denen sich die Welt gegenübersieht, sind nicht militärisch lösbar“, hat er in seinem Buch „Ostwärts und nichts vergessen“ gesagt. Besonders beunruhigt haben ihn die zunehmenden Spannungen gegenüber Russland. Diese abzubauen, hat er zuletzt seine ganze Kraft gewidmet. So war es alles andere als ein Zufall, dass er seine letzte Rede am 21.7.2015 in Moskau hielt. Im Vollbesitz seiner Kräfte, knapp 4 Wochen vor seinem Tod. Es hatte den Anschein, als habe der 93-jährige das Alter gar nicht kennen gelernt.

So plötzlich für alle der Schock war, insbesondere für seine geliebte Adelheid, so entsprach es ihm, bis zum Ende intensiv gewesen zu sein. Einen längeren Leidensweg hat er gefürchtet. Und so ist diese Moskauer Rede, zusätzlich zu all den Büchern die er uns zum Glück hinterlassen hat und zu denen demnächst bei Suhrkamp ein weiteres erscheinen wird, zum Vermächtnis geworden.

In seiner gewohnt glasklaren Logik fragte er darin, ob die Entspannungspolitik der 60er Jahre angesichts der schwersten Krise Europas seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, wiederholbar ist. Er sieht Unterschiede und Vergleichbares. Und kommt doch zu dem Schluss: Wir brauchen, sowohl wegen unserer schmerzhaften Geschichte, wie auch im wohlverstandenen, gegenwärtigen Eigeninteresse Frieden und Freundschaft mit Russland. Eine neue Entspannungspolitik ist das Gebot der Stunde.

Die letzten Worte seiner letzten Rede sollen bei dieser Erinnerung an die Stimme Egon Bahrs auch an letzter Stelle stehen: „Damals wie jetzt liegt die Hauptverantwortung in Washington und Moskau. Ohne und gegen ihre Macht ist keine Regelung denkbar, die dem Anspruch auf friedliche, nachhaltige Stabilität gerecht werden kann… Russland wird allein bestimmen, welche Schritte es zur Demokratie geht. Es wird eine Demokratie à la Russe sein… Wir können wie zu Beginn der Entspannungspolitik sondieren und beginnen, einseitige Sanktionen gegen Russland abzubauen. Wir wollen wie damals eine festgefahrene Situation ändern und könnten bei einer positiven Resonanz auch alle Sanktionen beenden. Das liegt in unserer Kompetenz und entspricht unserem Interesse, auch dem unserer Wirtschaft. Ja, das sind Vorleistungen … Die beschriebene Aktion würde die Kräfteverhältnisse zwischen Ost und West nicht ändern. … Was auch immer dabei herauskommen wird: Es kann nichts am Kurs der Bundesregierung verändern, die Beziehungen zu dem unentbehrlichen Amerika wie zu dem unverrückbaren Russland zu pflegen. Weil wir kein Protektorat mehr sind, kann dieses Stück Selbstbestimmung Europas mit der Emanzipation von Amerika beginnen.“

7.9.2019